Annähernd gelesen | Das Gedicht „DIE ALTE FRAU“ ist schlicht gebaut: kurze, prosanahe Zeilen ohne Reim, ohne übermäßige Interpunktion. Es öffnet mit einer Feststellung: „Schnee ist gefallen“. Kälte, Jahreszeit, eine weiße Welt. Gleich darauf die Zeitbewegung: „Schon wird es Nacht“. Eine weiße Decke liegt unberührt da, ohne jede Spur, „nicht Vogel nicht Katze“. Die doppelte Verneinung verstärkt die Abwesenheit von Lebendigem.
Die Wiederholung folgt als Herzstück: „Es kommt kein Besuch / Es kommt keiner heute / es kommt keiner morgen“. Die dreifache Variation des Nicht-Kommens baut eine Steigerung auf – von der allgemeinen Feststellung über das konkrete Heute bis zur resignierenden Gewissheit des Morgen. Diese Kargheit der Sprache legt das Gewicht ganz auf das Ausbleiben.
Dann die Wendung zur Gestalt selbst: „Sie kehrt und kehrt / immer gründlicher kehrt sie den / Straßenzugang zu ihrem Haus“. Die Wiederholung des Kehrens wird zur obsessiven Bewegung, die sich steigert. Der Straßenzugang – dieser schmale Übergang zwischen privatem und öffentlichem Raum – wird zum Fokus ihrer Aufmerksamkeit, obwohl oder gerade weil niemand mehr kommt.
Das Bild des Alterns
Die Situation der alten Frau verdichtet eine weitverbreitete Erfahrung des Alterns: Das soziale Netz dünnt sich aus. Kinder führen ihr eigenes Leben in anderen Städten, Freunde werden krank oder sterben, Bekannte verschwinden nach und nach. Was bleibt, sind die kleinen Routinen, die den Tag strukturieren und das Verstreichen der Zeit auffangen.
Das Kehren wird zur Metapher für diese Versuche, Ordnung und Verbindung aufrechtzuerhalten. Es ist mehr als nur Reinigung – es ist ein Ritual der Bereitschaft, des Offenhaltens einer Möglichkeit, die sich nicht mehr erfüllen wird. Der gekehrte Weg bleibt Zeichen einer Hoffnung, die sich selbst überlebt hat.
Literarisches Altern
In der Literatur kehrt diese Konstellation häufig wieder. Bei Thomas Bernhard finden sich ältere Figuren, abgeschieden in ihren Häusern, kreisend in endlosen Monologen über Verlust und Vergänglichkeit. Samuel Becketts „Warten auf Godot“ wird zum archetypischen Bild des Erwartens, das sich nicht erfüllt – das Warten als Grundzustand menschlicher Existenz.
Marlen Haushofers „Die Wand“ zeigt eine Frau, die durch eine unsichtbare Wand von der Welt getrennt ist und sich durch alltägliche Verrichtungen am Leben hält – ähnlich der alten Frau mit ihrem beharrlichen Kehren. Mascha Kaléko schrieb in ihren späten Gedichten über das Verstummen vertrauter Stimmen, über Freunde, die nicht mehr da sind, in einer Sprache von ähnlicher Knappheit und Unsentimentalität.
Auch in autobiografischen Texten wird diese Erfahrung reflektiert. Elias Canetti notierte, wie im Alter das Zählen der Verluste beginnt – jeden Tag wird die Liste der Lebenden kürzer. Simone de Beauvoir beschrieb in „Das Alter“ nüchtern die gesellschaftlichen Mechanismen, die zur Vereinsamung beitragen. Jean Améry sprach in „Über das Altern“ von der Entfremdung, die entsteht, wenn man sich plötzlich in einer Welt wiederfindet, die ohne einen weiterläuft.
Die Poetik der kleinen Gesten
Das Gedicht wählt bewusst nicht das große Drama, sondern die kleine, wiederholte Handlung. Darin liegt seine Stärke: Es zeigt, wie sich Einsamkeit nicht in spektakulären Momenten offenbart, sondern in der Intensivierung alltäglicher Verrichtungen. Das „immer gründlicher“ verrät die Steigerung, die ins Zwanghafte kippen kann – wenn die Tätigkeit nicht mehr Mittel zum Zweck ist, sondern sich selbst genügt.
Die weiße Decke des Schnees wird zur Projektionsfläche für Abwesenheit. Auf ihr hätten sich Spuren zeigen können – Pfotenabdrücke, Fußstapfen von Besuchern. Stattdessen bleibt sie unberührt, ein Spiegel der Isolation. Das Gedicht endet mit der wiederholten Bewegung des Kehrens, die sich endlos fortsetzt, während draußen der Schnee liegt und niemand kommt.
Dieses Gedicht hat mich berührt und wollte es – für mich – nicht so stehen lassen, daher habe ich so etwas wie eine Antwort darauf verfasst: Der Besucher
DIE ALTE FRAU (Erschienen in: WORTSCHAU 31 Menschen:Bilder)
Titelfoto: Jill Wellington
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Der Besucher
Schnee knirscht unter Stiefeln Spuren ziehen sich heran Über die weiße Decke eine Linie, geradewegs zum Haus Es kommt jemand Es kommt einer heute unerwartet Er öffnet den Rucksack teilt den heißen Tee aus der Thermosflasche, das Gebäck vom Morgen Sie sitzen auf der eilends gefegten Bank vor ihrer Tür schweigen und lauschen dem fernen…
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Angelica Seithe – DIE ALTE FRAU
Annähernd gelesen | Das Gedicht „DIE ALTE FRAU“ ist schlicht gebaut: kurze, prosanahe Zeilen ohne Reim, ohne übermäßige Interpunktion. Es öffnet mit einer Feststellung: „Schnee ist gefallen“. Kälte, Jahreszeit, eine weiße Welt. Gleich darauf die Zeitbewegung: „Schon wird es Nacht“. Eine weiße Decke liegt unberührt da, ohne jede Spur, „nicht Vogel nicht Katze“. Die doppelte…
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Angelica Seithe
Die Lyrikerin, Psychotherapeutin und Dozentin Angelica Seithe (geb. 1945 in Bad Lauterberg im Harz) verbindet in ihrem Lebenswerk zwei Welten, die auf den ersten Blick weit auseinanderliegen: die Sprache der Poesie und die Sprache der Psychotherapie. In beiden Feldern ist sie seit Jahrzehnten gleichermaßen schöpferisch tätig und schöpft aus ihrer reichen Erfahrung ein Werk, das…
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