Annette Hagemanns Gedicht „MEINE ERBSCHAFT IST DIESE“ setzt sich behutsam mit dem ambivalenten Erbe familialer Prägung auseinander. Die scheinbar willkürlichen Relikte, die das lyrische Ich von den Eltern übernimmt – die spezifische Röte der Wangen der Mutter, eine deformierte Jazzplatte aus New York, ein unscheinbarer Koi des Vaters –, erscheinen zunächst als marginale Alltagsfragmente. Doch gerade in ihrer Banalität verdichten sie sich zu Metaphern für die unsichtbaren Übertragungen von Identität: die mütterliche Gabe, selbst in komplexen Beziehungen („wie meinem Vater“) das Verbindende zu bewahren, oder das väterliche Interesse an Zoologie als Brücke zur Welt des Lebendigen.
Dem gegenüber steht ein drängendes Bedürfnis nach Abgrenzung. Das nächtliche Verschließen der Ohren, um nur den eigenen Körper zu hören, und der spätere Auszug ins Selbstbestimmte werden nicht als Bruch, sondern als notwendige Prozedur des Werdens inszeniert. Selbst die Mutter reduziert sich in der Rückschau auf Fragmente – Beine unter der Wäscheleine –, als ob die Distanzierung auch ein Verlust der Ganzheitlichkeit bedeute.
Die Schlusszeile „und so bleibe am Ende / als Erbschaft nur ich“ fasst diesen Zwiespalt prägnant: Das Ich konstituiert sich zwar aus dem Erbe, doch im Akt der Selbstschöpfung wird dieses zugleich überschrieben. Die Melancholie liegt nicht im Fehlen der Elternspuren, sondern darin, dass ihre greifbaren Zeichen verblassen, sobald das Subjekt sich als eigenständige Summe begreift. Hagemann gelingt damit ein stilles Porträt der Reifung – als Balanceakt zwischen Annahme und Abschütteln, Erinnern und Entwachsen.
Gefunden habe ich das Gedicht im LiteraturMagazin WORTSCHAU. Ausgabe 31 – Menschen: Bilder – wortschau.com
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