Nathalie Schmid - Atlantis lokalisieren - Wer kommt mit

Atlantis lokalisieren – Nathalie Schmid

Annähernd gelesen | Der Titel Atlantis lokalisieren weckt eine doppelte Lesart: Er klingt nach einem poetischen Forschungsauftrag – und zugleich nach einer Unmöglichkeit. Atlantis: ein Ort, der in Legenden existiert, in Spekulationen, in Wunschbildern. Ein Ort, der verschollen ist, weil er vielleicht nie da war. Und doch bleibt er verlockend konkret: eine Stadt, eine Insel, eine Zivilisation – untergegangen, vergessen, verdichtet im Bild einer Utopie. Ihn zu „lokalisieren“ heißt also mehr, als ihn auf einer Karte zu finden. Es heißt, ihn zu deuten, zu befragen, vielleicht sogar herzustellen.

Diese Spannung – zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Ort und Idee – eröffnet einen vielschichtigen Zugang zum Gedichtband. Der Titel lädt dazu ein, sich Atlantis nicht geographisch, sondern metaphorisch, künstlerisch, emotional oder sprachlich zu nähern. Wer Atlantis lokalisiert, sucht nicht nur ein Versunkenes – er schreibt auch seine eigene Karte. Und: sich der literarischen Herangehensweise Nathalie Schmids zu bedienen.

Zunächst ließe sich Atlantis als Bild für das Verlorene begreifen: für Erinnerung, für Identität, für Kindheit, für eine Welt, die nicht mehr da ist oder nie da war. Es steht dann für jene inneren Landschaften, die wir bewohnen, aber nicht genau benennen können. Wer diesen Ort sucht, begibt sich auf eine Reise ins Unbestimmbare. Man könnte sagen: Das Lokalisieren selbst wird zum poetischen Akt – zur Vermessung eines Vagen, zum Versuch, dem Flüchtigen Gestalt zu geben.

Künstlerisch ließe sich dieser Impuls in unterschiedlichste Formen übersetzen. Man könnte sich eine „Karte des Verlorenen“ vorstellen – ein topographisches Werk, das keine festen Orte kennt, sondern nur Andeutungen: „Zweifelshügel“, „Meer der Erinnerung“, „Schattenwald“, „Verlassene Promenade“. Atlantis wäre nicht als Punkt verzeichnet – sondern als Ahnung, als Stille zwischen Koordinaten. Es würde durch Abwesenheit sprechen, durch Leerstellen.

Auch literarisch bietet sich ein Spiel mit dieser Leerstelle an. Vielleicht in Form eines Expeditionstagebuchs: Eine Stimme berichtet von der Suche nach Atlantis, doch je näher sie dem Ziel kommt, desto mehr verwischen sich die Grenzen zwischen außen und innen, zwischen Welt und Ich. Die Berichte werden bruchstückhafter, poetischer – schließlich ist unklar, ob überhaupt ein Ort gesucht wird oder vielmehr ein Zustand, ein verlorenes Gefühl, ein versunkenes Selbst.

Eine weitere Möglichkeit wäre, Atlantis als Zustand zu denken: als Schwebezustand zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Wunsch und Verlust. In diesem Sinne wäre „Lokalisieren“ nicht das Finden, sondern das fortwährende Suchen. Eine poetische Praxis, die sich dem Eindeutigen verweigert. Jedes Gedicht würde zu einer Koordinate – nicht einer Lösung, sondern einer neuen Frage.

Auch performativ oder installativ ließe sich dieser Prozess begreifen: etwa durch eine Klanginstallation, in der Funksignale, Meeresrauschen, Stimmenfragmente durch einen Raum treiben – nie greifbar, aber gegenwärtig. Oder durch eine begehbare „Ruine“, in der Besucher*innen selbst zu Suchenden werden. Atlantis läge dann im Nebel, in den Zwischenräumen, im Klang des Unausgesprochenen.

Selbst digital wäre eine Annäherung denkbar: etwa in Form einer interaktiven Karte, die sich je nach Eingabe verändert – Atlantis erscheint, verschwindet, verwandelt sich. Eine Art poetisches Interface, das nicht auf ein Ziel hinausläuft, sondern auf ein fortwährendes Anderswerden.

Nach Süden ausgelegte Kartendarstellung von Atlantis aus Athanasius Kirchers Mundus Subterraneus von 1665 (Lage der Insel Atlantis, die einst vom Meer verschlungen wurde, nach der Vorstellung der Ägypter und der Beschreibung Platons – freie Übersetzung der lat. Tafelbeschriftung oben links) – Quelle wikipedia.

Beginn der Lektüre: 04.08.2025

Titelfoto: Jonathan Ocampo


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