Sarah Kirsch (1935–2013), eine der prägenden Stimmen der deutschsprachigen Lyrik, veröffentlichte 1996 den Gedichtband Bodenlos. Der Band umfasst 54 Gedichte, die sich durch ihre lakonische Sprache, Naturbilder und die Auseinandersetzung mit Themen wie Verlust, Sehnsucht und Vergänglichkeit auszeichnen. Als studierte Biologin und ehemalige DDR-Bürgerin, die 1977 in den Westen übersiedelte, verbindet Kirsch in Bodenlos persönliche Erfahrungen mit universellen Motiven 911.
Struktur und zentrale Motive
Der Band folgt einer choreografierten Abfolge, die als „großer Hymnus“ gelesen werden kann 1. Die Gedichte oszillieren zwischen Erinnerung und Gegenwart, Nähe und Distanz. Naturbilder – wie Schwäne, Gräben oder winterliche Landschaften – dienen als Metaphern für emotionale Zustände. Ein Leitmotiv ist die „Bodenlosigkeit“, die sowohl physische Entwurzelung als auch existenzielle Unsicherheit symbolisiert.

Ausgewählte Gedichte im Überblick
- „Barfuß“
Ein Dreizeiler, der die Sehnsucht nach Überwindung von Einsamkeit thematisiert:
„Springst du mit mir / über die eiskantigen Gräben“.
Das lyrische Ich sucht Verbindung, bleibt aber in der Schwebe zwischen Hoffnung und Unerfülltheit. - „Caswell Bay“
Benannt nach einer walisischen Bucht, beschreibt das Gedicht die Natur als Ort der Rettung und des Wartens:
„Der Sternfisch der Limpet erwarten / In dunklen Höhlen rettende Flut“.
Die Flut wird zur Metapher für Zyklizität und die Hoffnung auf Erlösung. - Titelgedicht „Bodenlos“
Hier reflektiert Kirsch das Leben „am Boden der Flüsse“ – ein Bild für Isolation und gleichzeitige Verbundenheit mit dem Vergangenen:
„Wohne seit langem am Boden / Der Flüsse. Die Schwäne / Rudern über das Blau“. - „Mozartsteg“
Ein längeres Gedicht, das die Salzach als Symbol für den Fluss Lethe (Vergessen) nutzt und mit dem Vers endet:
„So viel Sehnsucht / Tag und Nacht. Hab gerade / Die Pflanze Herzgespann / Uns erfunden“.
Zitate zum Nachklingen
Einige Zeilen laden aufgrund ihrer Prägnanz und Bildkraft zum Zitieren ein:
- „Man bemerkt spät daß der / Winter hereinbrach“ – eine Reflexion über das unaufhaltsame Voranschreiten der Zeit.
- „Ich sehe Wolken nach die sich / Langsam nach Süden entfernen. / Wenn ich auch dorthin könnte“ – die Sehnsucht nach Entgrenzung.
- „Nichts Schönres wahrhaftig auf der Welt / Als ihm folgen“ – eine Hommage an die Hingabe.
Aktiv gelesen:
Während Bodenlos primär innere Zustände erkundet, lassen sich indirekte Aufforderungen ableiten:
- Naturbeobachtung: Kirschs präzise Schilderungen von Pflanzen und Landschaften (z. B. „Herzgespann“) regen dazu an, die Umwelt bewusster wahrzunehmen – ein Aufruf zur Sensibilisierung für ökologische Zusammenhänge.
- Erinnerungskultur: Die Gedichte reflektieren Vergänglichkeit und Verlust, was zur aktiven Auseinandersetzung mit persönlicher und kollektiver Geschichte anregt.
- Sprachliche Präzision: Kirschs minimalistischer Stil fordert dazu auf, Sprache als Werkzeug der Selbstreflexion zu nutzen – etwa in Schreibworkshops oder Tagebüchern.
Bodenlos ist ein Band, der durch seine verdichtete Sprache und emotionale Tiefe besticht. Sarah Kirsch gelingt es, existenzielle Themen in Naturbilder zu kleiden, ohne plakative Lösungen anzubieten. Für Leser:innen, die Lyrik als Medium der Selbst- und Welterkundung schätzen, bietet der Band reichlich Stoff zur Kontemplation – und vielleicht sogar Inspiration zum Handeln.
Angeregte Dialoge
Zur Autorin:
Sarah Kirsch, geboren am 16. April 1935 in Halberstadt (eigentlich Ingrid Hella Irmelinde Kirsch, geborene Bernstein), war eine deutsche Schriftstellerin. Sie wuchs in der DDR auf und studierte Literatur in Halle und Leipzig. In den 1960er Jahren begann sie, sich kritisch mit den politischen Verhältnissen in der DDR auseinanderzusetzen.
1977 siedelte Sarah Kirsch nach West-Berlin über, nachdem sie zuvor aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen worden war. Ihr Werk umfasst zahlreiche Gedichtbände, Prosatexte und Übersetzungen. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der deutschen Nachkriegsliteratur und wurde für ihr Werk mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Georg-Büchner-Preis.
Ihr lyrisches Werk zeichnet sich durch eine intensive Naturwahrnehmung, eine kraftvolle und eigenwillige Sprache sowie eine Sensibilität für gesellschaftliche und politische Themen aus. Sarah Kirsch starb am 5. Mai 2013 in Hohenfichte.
Imformationen zum Buch – Meine Ausgabe
Sarah Kirsch
Bodenlos – Gedichte
DVA – Deutsche Verlagsanstalt
Mit Vignetten von Christoph W. Aigner
ISBN 3-421-05022-8
Schreibe einen Kommentar