Ein rotes Kreuz, das sein Schicksal besiegelt.

Sasha Filipenko | Rote Kreuze. Ein Roman

Ich mag selten Sachbücher. Lieber ist es mir, Wissen aus Romanen zu sammeln. Da geschieht meist eher unbewusst, leicht und nachhaltiger, weil ich für dieses dann eine Verknüpfung habe.

Wie viel man für sich mitnehmen kann, hängt vom Lesestoff ab. Das Buch, welches ich hier vorstelle, ist ein da ein wahres Füllhorn. Auch wenn man bei diversen Begebenheiten lieber weggeschaut hätte. (Im Fall des Sachbuchs hätte dies bedeutet, es vermutlich gar nicht gelesen zu haben.)

Die Handlung ist, oberflächlich betrachtet, recht einfach; inhaltlich tun sich Abgründe auf. Einer nach dem anderen.

Sascha, alleinerziehender Vater, zieht mit seiner drei Monate alten Tochter in eine Wohnung. In Minsk. Er hat einen schweren Verlust erlitten, musste schwere Entscheidungen treffen und hofft auf bessere Zeiten. Seine einzige Nachbarin ist die 91-jährige Tatjana Alexejewna. Sie hat Alzheimer und Saschas Tür mit einem roten Kreuz bemalt. Darüber verärgert, kommen Sascha und Tatjana ins Gespräch und lernen sich Seite um Seite kennen.

„Ich glaube, Pascha hat seine Festnahme vorausgeahnt. Geburtsort? Genua. Alles klar. Ein rotes Kreuz, das sein Schicksal besiegelt.

Buchzitat

Die alte Dame ist überzeugt davon, dass Gott ihr Alzheimer geschickt hat, weil er Angst vor ihr habe und davor, dass sie mit intakter Erinnerung vor ihn tritt und Rechenschaft verlange. – Ganz nebenbei: das ist ein interessanter Gedanke, von Gott Erklärungen zu verlangen. Auch zwischendurch im Leben; dafür sollte man nicht tot sein müssen.

„Wir sehen uns jeden Tag, und jedes unserer Gespräche fördert neue Leerstellen zutage. Wegradierte Erinnerung, zerschnittenes Schicksal.“

Buchzitat

Nun möchte Tatjana ihrem neuen Nachbarn ihre Lebensgeschichte erzählen, bevor alles verschwindet. Sascha findet dies zuerst lästig, er hat genug mit sich selbst zu tun, und möchte im Gegensatz zu ihr vergessen. Wort für Wort wird er dann aber in in den Bann ihrer Erzählungen gezogen, denn der zeitgeschichtliche Bogen spannt sich über das 20. Jahrhundert der Sowjetunion bis ins heutige Russland, inklusive aller Schrecken.

Ein Kernthema dieses Romans ist die Rote Armee, die auf Stalins Befehl hin, jeden Soldaten der in Gefangenschaft geriet, zum Volksfeind erklärte und dementsprechend abstrafte. Und um den Druck auf die Soldaten zu erhöhen, wurde die Sippenhaft eingeführt.

Tatjana Alexejewna ist die Frau eines solchen Feindes. Man trennt sie von ihrer Tochter und kommt selbst für Jahrzehnte ins Arbeitslager.

„Außerdem, hat man uns erklärt, kann ein tapferer Soldat gar nicht in Kriegsgefangenheit geraten. Wenn sich ein Krieger ergibt, dann ist er ein Feigling. Ironischerweise habe ich das am häufigsten aus dem Mund von Männern gehört, die zu Hause in Moskau geblieben waren. Der sowjetische Soldat muss kämpfen bis zum letzten Tropfen Blut. Punkt. Und Absatz.“

Buchzitat

Rote Kreuze basiert auf detaillierten Recherchen von Dokumenten, Zeitzeugen und Reden. Sasha Filipenko gelingt es, mich in die Geschichte zu ziehen. Auf nicht einmal 300 Seiten skizziert er die Geschichte dieses Riesenreiches und lässt das Schicksal Tatjanas und ihrer Familie so real erscheinen, das es mich immer wieder schaudert. Ein aufrüttelndes Buch; für mich insbesondere deshalb, weil ich mich derzeit intensiv mit der Erinnerungskultur des Holocausts anhand konkreter Familienschicksale beschäftige. Es zeigt mir wieder, wie wichtig es ist, den verbliebenen Zeitzeugen zuzuhören, ihre Erfahrungen festzuhalten und weiterzugeben.

Was ich noch anmerken möchte: Sasha Filipenko schildert sehr feinfühlig und in der Tradition russischer Geschichtenerzähler Tatjanas bewegtes Leben. Er zeigt uns, was am Ende wichtig ist: Zuneigung, Mitgefühl, Dankbarkeit. Diese Art der Ansprache und die farbigen Zwischentöne fand ich beim Lesen immer wieder tröstlich.

Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist ein weißrussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satire-Show und Fernsehmoderator. ›Rote Kreuze‹ ist der erste seiner fünf Romane, der auf Deutsch erscheint. Sasha Filipenko ist leidenschaftlicher Fußballfan und lebt in St. Petersburg.

Rote Kreuze | Sasha Filipenko
Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
Verlag: Diogenes (26. Februar 2020)
ISBN-13: 978-3257071245
Originaltitel: Krasny Krest
Übersetzung: Ruth Altenhofer
Preis: 22,00 €

Auf meiner persönlichen Website habe ich erste Gedanken zur Erinnerungskultur im Web anhand eines konkreten Projektes aufgeschrieben. webkulturen


Kommentare

Eine Antwort zu „Ein rotes Kreuz, das sein Schicksal besiegelt.“

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