Eine andere Art zu erzählen – John Berger und Jean Mohr

Es gibt Bücher, die man liest, und es gibt Bücher, mit denen man arbeitet. „Eine andere Art zu erzählen“ gehört zur zweiten Kategorie. John Berger, der britische Schriftsteller und Kunstkritiker, und Jean Mohr, der Schweizer Fotograf, haben 1982 etwas geschaffen, das sich zwischen Essay, Bildband und Experiment bewegt – ein Buch, das die Frage stellt: Wie erzählen Bilder Geschichten?

Die beiden kannten sich bereits aus früheren Projekten. 1975 hatten sie gemeinsam „A Seventh Man“ veröffentlicht, ein Buch über Gastarbeiter in Europa. Berger war zu diesem Zeitpunkt schon durch „Ways of Seeing“ (1972) bekannt geworden, seine kritische Auseinandersetzung mit der visuellen Kultur. Mit Mohr fand er einen Partner, der nicht nur fotografierte, sondern mitdachte.

Drei Teile, drei Zugänge

Das Buch gliedert sich in drei deutlich unterschiedliche Abschnitte, die jeweils einen eigenen Zugang zum Thema suchen.

Teil 1: Äußerungen

Berger beginnt mit theoretischen Überlegungen zur Fotografie. Er beschreibt das Foto als „Zitat aus der Erscheinung“ – einen herausgerissenen Moment, der den Fluss der Zeit unterbricht. Ein Foto zeigt, dass etwas existiert hat, aber es bleibt unklar, was genau es bedeutet. Diese Doppeldeutigkeit zieht sich durch alle seine Gedanken: Private Fotos funktionieren als Erinnerungsstützen, sie brauchen die persönliche Geschichte dahinter. Öffentliche Fotos versuchen ohne dieses Vorwissen auszukommen, schaffen es aber nie ganz. Berger vergleicht die Fotografie eher mit Poesie als mit Prosa – sie deutet an, statt zu erklären.

Teil 2: Wenn jedes Mal…

Der mittlere Teil verzichtet fast vollständig auf Worte. Etwa 150 Schwarzweißfotografien von Jean Mohr zeigen das Leben einer Frau, vermutlich einer Bäuerin in den Alpen. Keine Bildunterschriften, keine Erklärungen. Die Bilder sind nicht chronologisch geordnet, sondern assoziativ montiert: Porträts wechseln sich ab mit Landschaften, Großaufnahmen von Händen bei der Arbeit, Innenräumen, Gesichtern. Es geht um Arbeit, ums Altern, um Einsamkeit und die Verbundenheit mit dem Land.

Verschiedene Betrachter werden hier unterschiedliche Geschichten sehen. Das ist Absicht. Berger und Mohr legen Spuren aus, aber sie schreiben nicht vor, wohin sie führen. Man blättert vor und zurück, verweilt bei einzelnen Bildern, sucht nach Verbindungen. Manche Momente sind klar lesbar, andere bleiben rätselhaft: Ist die Frau traurig oder einfach nachdenklich?

Teil 3: Geschichten

Im letzten Teil kommen Berger und Mohr ins Gespräch. Sie diskutieren konkrete Fotos aus Mohrs Archiv. Berger erzählt, welche Geschichten er in bestimmten Bildern sieht. Mohr erklärt die tatsächlichen Umstände ihrer Entstehung. Die Kluft zwischen dem Moment der Aufnahme und dem Moment der Betrachtung wird sichtbar. Sie sprechen über praktische Fragen: Wie wählt man aus Hunderten von Fotos die richtigen aus? Wie ordnet man sie an, ohne ihre Offenheit zu zerstören?

Wie das Buch funktioniert

„Eine andere Art zu erzählen“ arbeitet bewusst gegen das klassische Fotobuch-Format. Text und Bild stehen gleichberechtigt nebeneinander, keines illustriert das andere. Die Fotografien zeigen Bauern, Landarbeiter, Details von Händen und Werkzeugen, Gesichter in Nahaufnahme. Die Sequenzen sind mehrdeutig gehalten – man soll selbst interpretieren, verbinden, eine eigene Geschichte konstruieren.

Berger und Mohr sehen in der Fotografie die Möglichkeit, die Geschichten gewöhnlicher Menschen zu erzählen. Nicht die der Mächtigen oder Berühmten, sondern die der Menschen, die sonst kaum sichtbar werden. Das Foto reißt einen Moment aus dem Zeitfluss, schafft eine radikale Diskontinuität. Anders als beim Film gibt es kein Vorher und Nachher. Diese Lücken muss der Betrachter füllen.

Ein Buch zum Erfahren

Man liest dieses Buch nicht linear von vorne nach hinten. Man erlebt es eher. Man blättert, kehrt zurück, entdeckt neue Zusammenhänge. Berger schreibt irgendwo, dass Fotografie näher an der Poesie liegt als an der Prosa. Das gilt auch für dieses Buch selbst – es fordert Zeit, Aufmerksamkeit, die Bereitschaft, sich auf etwas einzulassen, das sich nicht sofort erschließt.

Die Wirkung des Buches reichte über die dokumentarische Fotografie hinaus. Es beeinflusste die visuelle Anthropologie, die Kunsttheorie, die Medienwissenschaften. Es zeigte, dass die Grenzen zwischen Bildkunst und Literatur fließend sind, dass beide Medien miteinander in Dialog treten können.

Bibliographische Angaben:
John Berger & Jean Mohr: Eine andere Art zu erzählen
Originaltitel: Another Way of Telling
Erstveröffentlichung: 1982 (englisch)
Deutsche Ausgabe: 1984
Verlag: Luchterhand Literaturverlag

Weitere Werke der Autoren:
John Berger: Ways of Seeing (1972)
John Berger & Jean Mohr: A Seventh Man (1975)

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