Er im Dialog mit Sandrines fragmentarischen Erinnerungen

Sandrine, dein Atem ist Gänsedaunen. Meiner stockt beim Lesen, wird zu Stein in der Brust. Während du die kommenden Verheerungen spürst, taste ich mich an bereits vergangene heran. Deine Zeit friert in stehenden Gewässern – meine fließt linear fort, Datum für Datum, wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht. Vielleicht ist das der Unterschied.

Du schreibst von Schichten, die sich auf deine Haut legen, feucht vermalte Erstarrung. Ich kenne andere Schichten: die sich täglich neu bilden, unsichtbar, aus Schweigen und Nicht-Berühren. Deine Mitte wölbt sich ins Freie, führt ein Eigenleben. Meine Mitte ist ein Knoten, fest verschnürt, der sich selten löst.

Paris. London. Germersheim. Deine Orte schweben, verflüssigen sich in der Erinnerung. Meine bleiben stehen wie Wegweiser: hier war ich, dort nicht, dazwischen Strecken, die sich messen lassen. Du spulst vor und zurück, spielst Himmel und Erde. Ich gehe meist geradeaus, auch wenn der Weg krumm ist.

„You are so funny! Stay like this.“ Jemand hat das zu dir gesagt. Wie oft habe ich ähnliche Worte gehört und nicht gewusst, ob sie Gefängnis oder Geschenk waren. Du weidest Schafe, mischst dich offenporig in den Raum. Ich baue Zäune, auch wenn ich sie selbst nicht sehe.

Körperlos schreibst du. Ich lese das mit einem Körper, der sich schwer anfühlt, der Raum einnimmt, der nicht verschwindet. Vielleicht ist Körperlosigkeit eine andere Form der Schwere. Vielleicht ist sie Befreiung.

Sandrine könnte eine jede sein, schreibst du. Ich könnte ein jeder sein – aber bin es nicht. Deine Wochentage verschleifen. Meine haben Namen, die ich abhake. Dein Tagwerk rutscht ins Monochrome. Meines hat Kanten, Ecken, Termine.

Zeit ist ein Hüpfspiel für dich. Für mich eher ein langer Gang mit vielen Türen, die meisten verschlossen. Aber manchmal, beim Lesen deiner Worte, öffnet sich eine. Dahinter liegt etwas, das ich nicht benennen kann, das aber vertraut riecht nach Gänsedaunen und stehenden Gewässern.

Dazwischen Störstellen, schreibst du zum Schluss.

Ja. Dazwischen immer diese Störstellen.

Dies ist eine Fortführung der Kurzprosa Sandrine von Jane Wels.

  • Über die Kunst des dialogischen Lesens mit Jane Wels‘ „Sandrine“

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    3 Minuten

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    Eine Ergänzung zur literarischen Analyse – von der Theorie zur Praxis des aktiven Lesens Was geschieht, wenn wir einen Text wie „Sandrine“ nicht nur lesen, sondern ihm antworten? Wenn wir die fragmentarischen Erinnerungen nicht als abgeschlossenes Kunstwerk betrachten, sondern als Einladung zu einem Dialog verstehen? Diese Frage entstand aus einem intensiven Gespräch über Jane Wels‘…

  • Jane Wels‘ Sandrine

    Jane Wels‘ Sandrine

    Erinnerungen sind selten linear. Sie flackern, tauchen auf, verschwimmen, brechen ab – und genau dieses Flirren liegt im Text über Sandrine. Ein weibliches Ich spricht, nicht in klaren Linien, sondern in Schichten und Sprüngen. „Ihr Atem ist so leise wie ein Hauch Gänsedaunen.“ Zeit scheint stillzustehen, nur um im nächsten Moment „ein Hüpfspiel“ zu werden.…

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    Sandrine, dein Atem ist Gänsedaunen. Meiner stockt beim Lesen, wird zu Stein in der Brust. Während du die kommenden Verheerungen spürst, taste ich mich an bereits vergangene heran. Deine Zeit friert in stehenden Gewässern – meine fließt linear fort, Datum für Datum, wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht. Vielleicht ist das der Unterschied. Du schreibst…

  • Jane Wels

    Jane Wels

    Jane Wels, 1955 in Mannheim geboren, lebt im Nordschwarzwald. Sie studierte Entwicklungspsychologie, Pädagogik und Medienwissenschaften – ein interdisziplinärer Hintergrund, der ihr Gespür für innere Prozesse, Sprache und Wahrnehmung schärfte. Wels veröffentlicht regelmäßig in Literaturzeitschriften und Online-Magazinen, darunter Signaturen, WORTSCHAU, Planet Lyrik und andere. Ihr Debüt Schwankende Lupinen erschien 2024 in der edition offenes feld (Hrsg.…


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