Espresso – Sarah Kirsch

Sarah Kirschs Gedicht Espresso entfaltet in knapper, verdichteter Sprache ein Szenario der Rückkehr und des Erstaunens: Das lyrische Ich kommt nach längerer Abwesenheit an einen vertrauten Ort zurück – möglicherweise ein Zuhause – und stellt mit wachsender Irritation fest, dass scheinbar nichts vorbereitet ist. Alltägliche Dinge wie Zucker und Milch fehlen, was zunächst wie eine banale Klage klingen mag, doch rasch in eine tiefere Verunsicherung übergeht. Die anfängliche Unordnung im Kleinen wird zur Metapher für einen umfassenderen Verlust von Orientierung. Symbolträchtige Bezeichnungen wie Orion, der Halbmond oder die Eule – Bilder für Richtung, Zyklus, Weisheit – sind ebenso abwesend. Diese Leerstelle lässt sich als Ausdruck einer Welt lesen, in der vertraute Koordinaten nicht mehr greifen.

Zugleich bietet das Gedicht Raum für eine metaphorisch-beziehungsbezogene Lesart:

Der „alte Kater“, der sich eine Pfote gebrochen hat, lässt sich nicht nur als Tier verstehen, sondern auch als eine männliche Figur, die während der Abwesenheit des lyrischen Ichs zurückgeblieben ist – träge, vielleicht selbstgefällig, nun aber in seiner Lässigkeit verletzt. In dieser Deutung steht der Kater stellvertretend für ein männlich konnotiertes Rollenbild, das ins Wanken geraten ist. Auch Orion – in der Mythologie ein Jäger, ein Symbol von Stärke und Richtung – ist verschwunden. Die Ordnung, die er verkörperte, scheint ebenso abhandengekommen wie die kleinen Alltagsrituale.

So verknüpft das Gedicht das Persönliche mit dem Kosmischen, den Alltag mit symbolischer Tiefe: Es beschreibt eine Welt im Umbruch, in der Vertrautes – ob als Beziehung, Raum oder inneres System – nicht mehr zuverlässig funktioniert. Die knappe Form des Gedichts trägt zur Verdichtung dieser offenen, vielfach lesbaren Situation bei, in der das lyrische Ich zugleich Beobachterin, Rückkehrende und Fragende ist.

Hierzu sind mir zwei Antworten eingefallen:

„Espresso, doppio“

Sie setzte sich an ihren alten Platz, am Fenster, wie früher. Der Kellner nickte kaum merklich, als hätte er sie gestern erst gesehen. „Ein Espresso?“ – „Ja, danke.“ Die Tasse kam schnell, samt Löffel, Zucker, einem Tropfen auf der Untertasse. Alles war da. Und doch: irgendetwas schien ihr ver-rückt.
„Zwei Monate war ich weg“, sagte sie beiläufig.
„Die Stadt nicht“, erwiderte er.
Sie lachte leise, als wäre das eine Beruhigung. Vielleicht war es das. Vielleicht hatte sich nur etwas in ihr verschoben – nicht die Milch, nicht der Mond.
Und der alte Kater? Der konnte ihr gestohlen bleiben.


„Bar Centrale“

Der Tisch war derselbe.
Du kamst herein, als wärst du
irgendwo falsch abgebogen.

Der Kellner sah dich an
und brummte unbestimmt,
alles wie immer.?

Zucker rechts,
Milch dort, der Espresso –
Orion hängt noch über dem Platz.

Nur dein Blick
irrlichtert
zwischen den Dingen.

Ein alter Kater
liegt zusammengerollt auf dem Stuhl
hinter deinem Rücken.
Unbemerkt.


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