„Versuche, dich an alle namen zu erinnern, die je für dich verwendet wurden, denen du irgendwann / einmal ausgesetzt warst, die du dir selbst einmal ausgedacht hast, die du den tatsächlich benutzten / namen vorgezogen hättest; die sich als täuschungen erwiesen haben.“
Mit diesen Zeilen aus seinen „worttaktik[en]“ stellt Franz Mon eine grundlegende Frage: Wer sind wir, wenn selbst unsere Namen – diese scheinbar festesten Marker unserer Identität – sich als Täuschungen erweisen können? Namen, die uns gegeben wurden, denen wir „ausgesetzt“ waren wie einer fremden Macht. Namen, die wir uns vielleicht heimlich anders gewünscht hätten. Namen als Projektionsflächen, als Fallen, als Versprechen, die nicht eingelöst wurden.
Diese Infragestellung von Sprache, Identität und Wahrheit durchzieht das gesamte Werk von Franz Mon (1926-2022), einem Vertreter der experimentellen und konkreten Poesie im deutschsprachigen Raum. Der Mann, der selbst seinen bürgerlichen Namen Helmut Franz Löffelholz ablegte und sich neu erfand als „Franz Mon“, verbrachte sieben Jahrzehnte damit, Sprache zu zerlegen und neu zusammenzusetzen – aus tiefer Skepsis gegenüber allem, was Worte vorgeben zu sein.
Was treibt einen Autor dazu, Sprache nicht mehr als Mittel der Verständigung zu betrachten, sondern als Material, das man wie Ton kneten kann? Was bedeutet es, Gedichte zu schreiben, die man nicht linear lesen kann, die eher Klang-Skulpturen oder typographische Landschaften sind? Und welche Rolle spielte die Erfahrung des Nationalsozialismus, der systematischen Pervertierung von Sprache durch Propaganda, für Mons lebenslange Sprachskepsis?
Biographischer Überblick
Franz Mon, geboren am 6. Mai 1926 in Frankfurt am Main als Helmut Franz Löffelholz, gestorben am 27. Mai 2022 in Frankfurt, war eine prägende Figur der experimentellen und konkreten Poesie im deutschsprachigen Raum. Über sieben Jahrzehnte hinweg entwickelte er ein literarisches Werk, das die Grenzen der Sprache selbst zum Gegenstand seiner künstlerischen Arbeit machte.
Mon wuchs in bürgerlichen Verhältnissen auf und studierte nach dem Zweiten Weltkrieg Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie. Zunächst arbeitete er im Verlagswesen, bevor er sich ganz der Literatur widmete. Das Pseudonym „Mon“ wählte er bewusst als Abkürzung seines Vornamens, aber auch als Anspielung auf das französische Possessivpronomen „mon“ (mein) – ein Hinweis auf die zutiefst persönliche Beziehung zu seiner sprachlichen Arbeit.
In den 1950er Jahren begann Mon seine literarischen Experimente und wurde rasch zu einer zentralen Figur der konkreten Poesie. Er korrespondierte mit internationalen Avantgarde-Künstlern und pflegte intensive Austausche mit Autoren wie Ernst Jandl, Helmut Heißenbüttel und Eugen Gomringer. Mon war nicht nur Dichter, sondern auch Essayist, Übersetzer und theoretischer Kopf der experimentellen Literatur.
Die Prägung durch die NS-Sprachmaschinerie
Mon, Jahrgang 1926, erlebte seine prägende Jugend unter dem Nationalsozialismus. Er war etwa 13 Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann, und 19 bei Kriegsende. Diese Erfahrung hinterließ tiefe Spuren in seinem Verhältnis zur Sprache.
Die NS-Propaganda hatte systematisch die deutsche Sprache korrumpiert: Euphemismen verschleierten Massenmord („Sonderbehandlung“, „Endlösung“), positive Begriffe wurden mit völkischer Ideologie aufgeladen („Volk“, „Gemeinschaft“, „Treue“), die Rhetorik appellierte an Emotionen statt an Vernunft. Victor Klemperer hat dies in „LTI – Lingua Tertii Imperii“ dokumentiert – die Sprache des Dritten Reiches als Instrument der Unterwerfung.
Für jemanden wie Mon, der diese Erfahrung durchlebte, konnte Sprache nie wieder selbstverständlich sein. Jedes Wort trug potentiell die Last der Manipulation in sich. Nachdem die Nazipropaganda Wörter ideologisch umzudeuten wusste, stellte sich bei Mon eine tiefe Skepsis gegenüber dem Wahrheitsanspruch allem Gesagten und Geschriebenen ein.
Die Frage nach den Namen – Identität und Täuschung
In einer seiner „worttaktik[en]“ hält Mon fest: „Versuche, dich an alle namen zu erinnern, die je für dich verwendet wurden, denen du irgendwann / einmal ausgesetzt warst, die du dir selbst einmal ausgedacht hast, die du den tatsächlich benutzten / namen vorgezogen hättest; die sich als täuschungen erwiesen haben.“
Hier wird die Frage nach den Namen zur Frage nach Identität und Fremdbestimmung. Namen werden einem gegeben, auferlegt („denen du ausgesetzt warst“) – sie sind nicht frei gewählt. Zugleich können sie „Täuschungen“ sein: Sie suggerieren Eindeutigkeit, Stabilität, Wahrheit über eine Person, wo doch Identität fluid, vielschichtig, widersprüchlich ist.
Mon selbst legte seinen bürgerlichen Namen Helmut Franz Löffelholz ab und nannte sich „Franz Mon“ – ein Akt der Selbstbenennung, der Distanzierung vom Gegebenen. Auch dies lässt sich als Versuch lesen, dem „Trug der Buchstaben“ durch bewusste Neuerfindung zu begegnen.
Dieses Gedicht über die Namen eröffnet ein Feld an Fragen: Wie konstruieren wir Identität durch Sprache? Welche Macht haben Bezeichnungen über uns? Was geschieht, wenn wir beginnen, an der Stabilität von Bedeutungen zu zweifeln? In weiteren Beiträgen werden wir diesen Fragen nachgehen und uns einzelnen Aspekten von Mons Werk widmen – von seiner visuellen Poesie über seine Klangexperimente bis hin zu seiner theoretischen Auseinandersetzung mit Sprache als Material.
Das Verhältnis zur Sprache
Sprache als Material
Für Franz Mon war Sprache keine transparente Mittlerin von Bedeutungen, sondern ein eigenwertiges Material, ähnlich wie Farbe für einen Maler oder Ton für einen Bildhauer. Er betrachtete Wörter, Silben, einzelne Buchstaben als formbare Substanz, die ihre eigenen Gesetze besitzt. In seinen Texten löste er die konventionelle Funktion der Sprache auf: Sie sollte nicht mehr primär etwas bedeuten, sondern etwas sein.
Diese Auffassung führte dazu, dass Mon Sprache dekonstruierte. Er zerlegte Wörter in ihre kleinsten Bestandteile, arrangierte Buchstaben neu, wiederholte Silben rhythmisch, schuf Lautmuster. Syntax und Grammatik verloren ihre ordnende Kraft – stattdessen entstanden Textlandschaften, in denen das visuelle Arrangement auf der Seite ebenso wichtig war wie der Klang beim Sprechen.
Wie lässt sich mit dem Trug der Buchstaben umgehen?
Diese Frage steht im Zentrum von Mons gesamtem Werk. Seine Antwort: Wenn Sprache immer schon kontaminiert, ideologisch aufgeladen, täuschend ist, dann muss man sie dekonstruieren, atomisieren, gegen den Strich bürsten. Man muss die automatisierten Bedeutungszuschreibungen unterbrechen.
Mons Strategie war nicht, eine „reine“ oder „wahre“ Sprache zu finden. Stattdessen machte er die Konstruiertheit, die Willkürlichkeit, die Brüchigkeit von Sprache sichtbar. Indem er Wörter zerlegte, neu kombinierte, verfremdet, schuf er einen Raum, in dem Sprache nicht mehr behaupten konnte, transparent Wahrheit zu transportieren.
Seine Texte zeigen den Trug, anstatt ihm zu erliegen. Sie führen vor, wie fragil die Bedeutungsproduktion ist, wie leicht Sinn kippen kann, wie sehr wir Konventionen ausgeliefert sind. Diese Arbeit immunisiert gegen ideologische Vereinnahmung, indem sie die Werkzeuge der Vereinnahmung selbst zum Thema macht.
Kritik der Sprachnormierung
Mons Spracharbeit war politisch motiviert, ohne explizit politische Inhalte zu formulieren. Er misstraute der normierten, instrumentalisierten Sprache, wie sie in Massenmedien, Werbung und politischer Rhetorik verwendet wird. Nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus, in dem Sprache zur Manipulation und Herrschaft missbraucht wurde, sah Mon in der Zerstörung etablierter Sprachmuster einen Akt der Befreiung.
Seine Texte widersetzten sich dem schnellen Verstehen und der unmittelbaren Konsumierbarkeit. Sie forderten vom Leser eine aktive, oft mühsame Auseinandersetzung. Mon wollte die automatisierten Wahrnehmungsmuster durchbrechen und den Rezipienten zwingen, neu hinzuschauen, neu hinzuhören – Sprache nicht als selbstverständliches Kommunikationsmittel hinzunehmen, sondern ihre Konstruiertheit bewusst zu erleben.
Die visuelle Dimension
Mon entwickelte eine ausgeprägt visuelle Poesie. Seine Texte waren oft typographische Arrangements, bei denen die Anordnung der Buchstaben auf der Seite, die Größe der Schrift, Abstände und Leerräume für das Werk konstitutiv waren. In Arbeiten wie „lesebuch“ (1967) oder „herzzero“ (1968) verschmelzen Text und Bild zu einer Einheit.
Diese visuellen Gedichte kann man nicht einfach linear lesen – sie erfordern einen abtastenden Blick, ein Erfassen von Mustern, Wiederholungen, Brüchen. Die Seite wird zum Bildraum, in dem Sprache ihre zeitliche Dimension (das nacheinander Gesprochene) teilweise aufgibt zugunsten einer räumlichen Gleichzeitigkeit.
„lesebuch“ (1967) – Ein Schlüsselwerk
Das „lesebuch“, 1967 erschienen, gehört zu Mons zentralen Arbeiten und zeigt beispielhaft seine Methode der visuellen Sprachbearbeitung. Der Titel ist programmatisch: Ein „Lesebuch“ assoziiert man mit Schulbüchern, mit dem Erlernen von Sprache, mit konventionellen Texten zum Üben. Mons „lesebuch“ ist jedoch das Gegenteil – es verweigert sich dem linearen Lesen und den gewohnten Leseerwartungen.
Das Werk besteht aus einer Serie von Texten, die Sprache typographisch arrangieren. Buchstaben werden isoliert, vergrößert, verkleinert, gedreht. Wörter werden fragmentiert, einzelne Silben oder Phoneme über die Seite verteilt. Manche Seiten wirken wie grafische Partituren, andere wie Wortcollagen. Die Anordnung folgt nicht der Linearität des Satzes, sondern schafft räumliche Beziehungen zwischen Sprachmaterialien.
Ein Beispiel aus dem „lesebuch“ zeigt, wie Mon mit Wiederholung arbeitet: Ein einzelnes Wort oder eine Silbe wird dutzende Male auf einer Seite wiederholt, dabei minimal variiert – mal größer, mal kleiner, mal in anderer Position. Durch diese Wiederholung verliert das Wort seinen ursprünglichen Sinn. Es wird zum reinen Zeichen, zum graphischen Element, zum Klangmuster. Der Leser kann nicht mehr automatisch „durchlesen“, sondern muss sich auf die Materialität der Sprache einlassen.
Andere Texte im „lesebuch“ arbeiten mit Überlagerungen: Buchstaben werden übereinander gedruckt, sodass sie kaum noch lesbar sind. Die Transparenz der Schrift – ihre Funktion, auf einen Inhalt zu verweisen – wird buchstäblich getrübt. Was bleibt, sind schwarze Flecken, Muster, rhythmische Verteilungen von Dunkel und Hell auf der Seite.
Das „lesebuch“ fordert vom Leser eine andere Art der Wahrnehmung. Man kann es nicht konsumieren wie einen Roman. Stattdessen muss man verweilen, die Augen über die Seite wandern lassen, Muster entdecken, vielleicht einzelne Wörter oder Silben laut aussprechen, um ihren Klang zu hören. Es ist ein Buch, das zum aktiven Umgang mit Sprache auffordert – nicht zum passiven Empfang von Botschaften.
In diesem Werk zeigt sich auch Mons Verwandtschaft zur bildenden Kunst. Die Seiten des „lesebuchs“ ähneln konkreter Kunst oder typographischen Experimenten des Bauhaus. Mon bewegte sich in einem Grenzbereich zwischen Literatur und bildender Kunst, zwischen Lesen und Sehen. Das „lesebuch“ ist gleichzeitig Text und Bild, Sprachkunstwerk und visuelles Objekt.
Die phonetische Ebene
Ebenso wichtig war Mon die klangliche Dimension von Sprache. Er schrieb Texte, die für den Vortrag konzipiert waren, Lautgedichte, die mit Phonemen, Geräuschen, Stimmmodulationen arbeiteten. Seine Lesungen waren performative Ereignisse, bei denen die körperliche Produktion von Lauten im Vordergrund stand.
In diesen phonetischen Experimenten näherte sich Sprache der Musik an – oder auch dem Tier-Laut, dem Vor-Sprachlichen. Mon interessierte sich für den Moment, in dem Sprache noch nicht vollständig zur kulturellen Konvention geworden ist, sondern in ihrer physischen Rohheit erfahrbar bleibt.
Semantische Verschiebungen
Trotz aller Abstraktion waren Mons Texte nie völlig bedeutungsleer. Vielmehr schuf er durch Wiederholung, Variation und Kontextverschiebung neue Bedeutungsfelder. Ein Wort, hundertfach wiederholt, verliert seine ursprüngliche Bedeutung und gewinnt andere, unerwartete Assoziationen. Durch minimale Eingriffe – ein vertauschter Buchstabe, eine verschobene Silbe – entstanden Bedeutungsverschiebungen, die das vermeintlich Bekannte fremd werden ließen.
Diese Technik wird „Verfremdung“ genannt – ein Begriff aus dem russischen Formalismus und Brechts Theater. Die automatisierte Wahrnehmung sollte gestört, die Dinge sollten in ihrer Artifizialität erkennbar werden.
Ethik der Spracharbeit
Mons Werk lässt sich auch als ethisches Projekt verstehen: eine Ethik der Wachsamkeit gegenüber der Sprache. Nach Auschwitz, nach der totalen Mobilmachung der Sprache für Herrschaft und Vernichtung, konnte es keine unschuldige Rückkehr zur literarischen Tradition geben.
Mons Sprachexperimente waren seine Antwort auf diese historische Zäsur – eine Auseinandersetzung mit der Verantwortung dafür, dass sich die sprachliche Verführbarkeit nicht wiederholt.
Hauptwerke und Schaffensphasen
Zu Mons Publikationen gehören „artikulationen“ (1959), „lesebuch“ (1967), „herzzero“ (1968) sowie zahlreiche Essays zur Sprachtheorie, gesammelt in Bänden wie „texte über texte“ (1970). Sein Werk umfasst experimentelle Prosa, visuelle Poesie, Hörspiele, Collagen und theoretische Schriften.
Im Laufe der Jahrzehnte variierte Mon seine Techniken, blieb aber seiner grundsätzlichen Haltung treu: der Skepsis gegenüber der instrumentellen Vernunft und der Überzeugung, dass Kunst die Möglichkeit bietet, etablierte Wahrnehmungs- und Denkformen zu hinterfragen.
Rezeption und Vermächtnis
Franz Mon blieb zeitlebens ein Außenseiter im Literaturbetrieb. Seine Experimente fanden bei der breiten Öffentlichkeit wenig Resonanz, wurden aber von Kennern der Avantgarde geschätzt. Er erhielt Auszeichnungen, darunter den Hörspielpreis der Kriegsblinden und den Kunstpreis der Stadt Frankfurt.
Sein Einfluss auf nachfolgende Generationen experimenteller Autoren zeigt sich bis heute. Künstler, die mit digitalen Medien, Klangpoesie oder konkreter Poesie arbeiten, beziehen sich auf Mons Arbeit. Er hat gezeigt, dass Literatur mehr sein kann als Erzählung und Sinnstiftung – dass sie ein Raum des Experiments ist, in dem die Grundlagen unserer sprachlichen Welterschließung selbst zur Verhandlung stehen.
Franz Mon betrachtete Sprache nicht als gegebenes Werkzeug, sondern als historisch gewachsenes, veränderbares und zu hinterfragendes System. Seine Arbeit war getragen von der Überzeugung, dass die Freiheit des Denkens mit der Freiheit im Umgang mit Sprache zusammenhängt. Indem er Wörter zerlegte, neu zusammensetzte, verfremdet und aus ihren gewohnten Kontexten riss, schuf er einen literarischen Raum, in dem Sprache wieder erfahrbar wurde – nicht als automatisches Kommunikationsmittel, sondern als sinnliches, widerständiges Material.
Mit Mons Tod 2022 endete ein literarisches Leben, das sich über mehr als sieben Jahrzehnte erstreckte. Sein Werk bleibt eine Herausforderung und Anregung für alle, die nach anderen Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks suchen.
In den kommenden Beiträgen werden wir einzelne Aspekte von Franz Mons Werk vertiefen: seine visuellen Gedichte, seine Lautpoesie, seine theoretischen Schriften und die Frage, wie seine Sprachexperimente heute weiterwirken.

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