Himbeeren – Valerie Zichy

Himbeeren - Valerie Zichy

HIMBEEREN

das hier ist autofiktion. das ich hier ist autofiktion. das ich
hinter diesem text isst gerne himbeeren. das ich hat oft ein
schlechtes gewissen. und regelschmerzen. das ich trinkt
heiße schokolade. das ich ist fiktiv. das ich ist ich und das
ich ist nicht ich. das ich ist babysitterin. das ich zieht über-
all die schuhe aus. das ich schreibt. das ich schreibt über das
ich. das ich hat angst vor der klimakrise. das ich ist careerar-
beiterin ohne dafür bezahlt zu werden. das ich ist nicht fik-
tiv. das ich lächelt. das ich hätte gerne eine katze. das ich
weint. das ich sitzt am liebsten am boden. das ich tut mei-
stens so als ob. das ich wohnt in einem text. das ich wohnt
in einem zimmer in das manchmal die sonne scheint. das ich
mag keine veränderungen. das ich mag keine binaritäten.
das ich ist meistens überfordert mit der welt, manchmal mit
sich selbst. das ich trinkt auch im sommer tee. das ich hier
ist autofiktion. das ich ist nicht hier das ich verlässt diesen
text. das ich ist immer woanders.

Annähernd gelesen

„HIMBEEREN“ präsentiert sich als experimentelle Autofiktion, die in einem fortlaufenden, fast mantra-artigen Duktus die Grenzen zwischen realem und fiktivem Ich auslotet. Die Autorin arbeitet mit der repetitiven Formel „das ich“, wodurch eine distanzierende Objektivierung der eigenen Subjektivität entsteht.

Der Text oszilliert zwischen alltäglichen, körperlichen Details (Himbeeren essen, Regelschmerzen, heiße Schokolade trinken) und existenziellen Reflexionen über Identität und Authentizität. Dabei entsteht ein Spannungsfeld zwischen dem „ich ist ich“ und „das ich ist nicht ich“, das die grundsätzliche Frage nach der Darstellbarkeit von Selbst in der Literatur aufwirft.

Besonders bemerkenswert ist die selbstreflexive Dimension: Das schreibende Ich thematisiert explizit seine eigene Textualität („das ich wohnt in einem text“) und seine Vergänglichkeit („das ich verlässt diesen text“). Die Enumeration persönlicher Eigenschaften und Gewohnheiten – von konkreten Tätigkeiten bis hin zu emotionalen Zuständen wie Weltüberforderung und Klimaangst – zeichnet ein fragmentiertes Porträt zeitgenössischer Subjektivität.

Der Text endet mit einer paradoxen Bewegung: Das textuelle Ich, das zunächst als „hier“ und als „autofiktion“ etabliert wird, erklärt sich schließlich als „nicht hier“ und „immer woanders“ – ein poetisches Statement über die Flüchtigkeit und Ungreifbarkeit von Identität in der literarischen Darstellung. Die Autorin Valerie Zichy.

Foto von The New York Public Library auf Unsplash

Die Idee: Ein Fragentext, der aus „Himbeeren“ heraus entwickelt hat – Fragen, die der Text selbst aufwirft, aber bewusst unbeantwortet bleiben. Die Leerstellen werden zum eigentlichen Dialog. Es gibt keine richtigen Antworten, sondern als weitere Stimmen im Gespräch.

FRAGEN AN EIN ICH, DAS IMMER WOANDERS IST

Ein Nicht-Interview zu „Himbeeren“

Wenn das Ich hinter dem Text gerne Himbeeren isst – schmecken die fiktiven Himbeeren anders als die realen? Haben sie Kerne? Lassen sie Flecken auf den Fingern?

Du schreibst „das ich ist ich und das ich ist nicht ich“ – wo genau verläuft die Grenze? Oder gibt es gar keine? Ist es eher eine durchlässige Membran, ein Übergangsbereich, wo das eine ins andere sickert?

Das schlechte Gewissen und die Regelschmerzen – welches davon ist fiktiver? Oder sind Körperschmerzen die einzige Gewissheit, dass etwas real ist?

Wenn du überall die Schuhe ausziehst – ist das eine Geste der Ankunft oder der Fluchtbereitschaft? Barfuß ist man verwundbarer, aber auch freier. Was überwiegt?

„Das ich schreibt über das ich“ – ist das Mise en abyme oder Selbstgespräch? Oder ist jedes Schreiben über sich selbst immer schon beides?

Die Careerarbeit ohne Bezahlung – ist das die Care-Arbeit, die du meinst? Oder eine andere Form von Arbeit, die unsichtbar bleibt, weil sie nicht ins ökonomische Raster passt?

Du lächelst – aber wer sieht das Lächeln, wenn das Ich im Text wohnt?

„Das ich hätte gerne eine katze“ – Konjunktiv. Warum nicht „das ich will eine katze“ oder „das ich holt sich eine katze“? Was hält das Ich im Hätte-gerne fest?

Warum sitzt du am liebsten am boden? Ist das näher an etwas oder weiter weg von etwas?

„Das ich tut meistens so als ob“ – als ob was? Als ob es existiert? Als ob es nicht existiert? Als ob es wüsste, wer es ist?

Das Zimmer, in das manchmal die Sonne scheint – nur manchmal. Was ist mit den anderen Zeiten? Wohnst du dann trotzdem dort, oder wanderst du mit der Sonne?

Keine Veränderungen mögen, keine Binaritäten mögen – ist das nicht ein Widerspruch? Oder gerade die Auflösung des Widerspruchs?

Die Überforderung mit der Welt, mit sich selbst – was ist schwieriger? Oder ist es dieselbe Überforderung, nur anders benannt?

Auch im Sommer Tee – ist das Beharren auf Wärme, wenn die Welt ohnehin warm ist? Eine Art Selbstfürsorge gegen die Erwartung?

„Das ich ist nicht hier“ – aber der Text ist hier. Wo bist du dann? In der Lücke zwischen Buchstaben? Im Weißraum?

Wenn du diesen Text verlässt – gehst du dann in einen anderen Text? Oder gibt es auch ein Außerhalb-der-Texte, in dem du existierst?

„Das ich ist immer woanders“ – ist das Flucht oder Freiheit? Oder ist es die einzige ehrliche Beschreibung dessen, was ein Ich sein kann?

Hinweis für die Lesenden:

Diese Fragen suchen keine Antworten von der Autorin. Sie sind Versuche, mit dem Text weiterzudenken, ihm nachzugehen in seinem Woanders-Sein. Wer eigene Antworten auf eine dieser Fragen hat – oder selbst eine eigene Frage stellen möchte – kann diese gern in die Kommentare schreiben. Bitte nicht um den Text zu erklären, sondern um das Gespräch fortzusetzen.

  • Valerie Zichy

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