Ille Chamier - Das Zündblättchen - Heft 21

Ille Chamier & Karen Roßki

DAS ZÜNDBLÄTTCHEN – Heft 21

LektüreNotizen | Das Heft beinhalte acht Gedichte der Autorin vier Bleistiftzeichnungen von Karen Roßki. Diese bringen mich beim Betrachten zum Abschlussgedicht „Herbst“: Stammabschnitte von Bäumen, die, obwohl blattlos, für mich die Energie der vier Jahreszeiten vermitteln.

Eines fällt mir auf: Der Lyrikerin sind Bewegung, Licht und der Kreislauf des Lebens Herzensthemen; möglichst im Einklang zu sein.


„Herbst“ (Das letzte Gedicht im Heft) widmet sich der Platane, die ich häufig mit dem Ahorn verwechsle. Diese Verwechslung beruht auf der Ähnlichkeit der Blätter, doch die Platane (Platanus ×hispanica) ist eine eigenständige Kreuzung aus Morgenländischer und Amerikanischer Platane. Ihre Blätter sind handförmig geteilt, enthalten jedoch keinen Milchsaft in den stielen, wie beim Ahorn.

Das Gedicht bringt als Metapher das Herzwurzelsystem der Platane ein. Es besteht aus senkrechten und waagerechten Wurzeln, die der Baum tief in den Boden treibt. Dadurch ist er widerstandsfähig gegenüber Stürmen sowie städtischen Einflüssen wie Bodenverdichtung und Luftverschmutzung.

Historisch wurde die Platane medizinisch genutzt: Ihre Früchte als Wein getrunken halfen gegen Schlangenbisse, die Rinde bei Zahnschmerzen und die Blätter bei Augenleiden. Aktuell wird die Rinde auf krebshemmende Inhaltsstoffe untersucht.

Die Poesie der „Lebenslinien“ – Die Schlussstrophe des Gedichts spiegelt für mich zwei Realitäten:
Die Borke, die in Platten abblättert und mosaikartige Muster hinterlässt sowie
die Blattadern verwelkter Herbstblätter, die wie gealterte Hände wirken.

„nun lese ich / die Lebenslinien / von ehemals grünen / Händen des Lichts“


Ein Gedicht ohne Titel, dass mich recht lange beschäftigt hat; es war weniger der Inhalt, eher ihre Bildsprache hat mich herausgefordert:

Von der Liebe hatte ich Spreu im Mund
Kleie und leere Hülsen der Nacht
fälschlich von Sonnenlicht überzuckert…

Das Gedicht (S.12) beschreibt eine tiefgreifende Ernüchterung und einen existenziellen Wandel im Umgang mit Liebe und Tod:

Bittere Enttäuschung der Liebe (1. Strophe):
Die Erfahrung der Liebe wird als wertlos und ungenießbar beschrieben: „Spreu im Mund“, „Kleie und leere Hülsen“. Das sind Abfallprodukte, leere Hüllen ohne nährenden Kern. Diese Enttäuschung wurde durch Illusionen („fälschlich von Sonnenlicht überzuckert“) verschleiert oder schöngeredet. Das Ergebnis ist Ekel und Ablehnung: Die Überreste werden „ausgespuckt“ und bleiben auf harten, unbelebten Wegen („Kies und Schottenwegen“) liegen. Die Liebe wird als etwas Vergangenes, Verworfenes dargestellt.

Neue Weisheit und eine andere Art der Nahrung (2. Strophe):
Eine neue Instanz tritt auf: „kundige Schatten“. Diese können verstorbene Wesen, Ahnen oder eine personifizierte Weisheit des Todes sein. Sie raten zu einem vorsichtigen Neuanfang. Der Rat bezieht sich nicht mehr auf die irdische Liebe, sondern auf eine Speisung vom „Hors d’oeuvre-Tisch des Todes“. Der Tod wird hier nicht als Ende, sondern paradoxerweise als Quelle von Nahrung und Genuss dargestellt.
Die Haltung dazu soll „bescheiden“ sein – ein Gegensatz zur vielleicht übermütigen oder illusionären Haltung gegenüber der Liebe.
Die „Speise“ sind „unsterbliche Köstlichkeiten“. Es geht um geistige, seelische oder transzendente Nahrung, die Bestand hat.

Das konkrete Beispiel für eine solche unsterbliche Köstlichkeit ist das Lachen einer anderen Person („deinem Lachen“), das im „Brustton der Überzeugung“ erklingt. Dieses Lachen steht für Echtheit, tiefe innere Gewissheit und eine Freude, die nicht oberflächlich oder trügerisch ist.

Zentrale Themen und Motive die ich sehe: Desillusionierung: Die schmerzhafte Erkenntnis, dass die erhoffte oder erlebte Liebe leer und ungenießbar war.
Tod als Quelle: Ein radikaler Perspektivwechsel: Statt Bedrohung wird der Tod als Anbieter wahrer, unvergänglicher Nahrung (Erkenntnis, Trost, echte Verbindung?) gesehen.
Wahre Kost vs. wertlose Speise: Kontrast zwischen der wertlosen „Spreu“ der Liebeserfahrung und den „unsterblichen Köstlichkeiten“, die der Tod (oder die Auseinandersetzung mit ihm) bieten kann.
Echtheit und Überzeugung: Das Lachen „im Brustton der Überzeugung“ wird als höchstes Gut und wahre Nahrung der Seele hervorgehoben. Es symbolisiert Authentizität, innere Stärke und eine Freude, die aus tiefem Glauben oder Wissen kommt.
Bescheidenheit: Die Annahme dieser neuen Nahrung erfordert Demut und Vorsicht, im Gegensatz zur vielleicht gierigen oder naiven Erwartung an die Liebe.

Dieses Gedicht erzählt mir von einer tiefen Krise der Liebe, die als ungenießbar und enttäuschend erlebt wurde. Aus dieser Ernüchterung heraus weist eine mystische Weisheit („kundige Schatten“) den Weg zu einer neuen Form der Nahrung und des Trostes: nicht mehr in der enttäuschenden irdischen Liebe, sondern paradoxerweise im Bereich des Todes („Hors d’oeuvre-Tisch des Todes“) werden unvergängliche Kostbarkeiten gefunden. Die Quintessenz dieser neuen Nahrung ist die authentische, von tiefster Überzeugung getragene Freude („Lachen im Brustton der Überzeugung“) eines anderen Menschen. Es ist ein Gedicht über die Suche nach wahrhaftigem, beständigem Halt nach einer großen Enttäuschung.


Dieses Poem – auch ohne Titel – (S. 7) beschreibt eine tiefgründige, leicht melancholische und rätselhafte Reflexion über Bewegung, Begegnung und Wahrnehmung. Hier eine Annäherung an die zentralen Aspekte:

Der Schritt nach Draußen und die Bewegung der Anderen:
Der erste Teil fokussiert auf eine Übergangssituation („Nur ein Schritt und du bist draußen“). Draußen beobachtet das lyrische Ich die Bewegung anderer Menschen: Einige gehen mit, andere kommen entgegen, viele gehen einfach vorbei. Dies evoziert Bilder von Alltag, Anonymität, flüchtigen Begegnungen und der Vielfalt menschlicher Wege und Richtungen.

Die Frage nach dem Ziel / Zusammenfluss:
Die zentrale Frage „Wo / münden alle diese Wege / In einen Ort“ stellt das Rätsel in den Raum: Haben alle diese unterschiedlichen Pfade ein gemeinsames Ziel? Gibt es einen Ort der Vereinigung oder des Endpunkts? Dies kann sowohl konkret (ein physischer Ort) als auch abstrakt (Tod, Schicksal, Sinn) interpretiert werden.

Das Ziel – Gedeckte Tische und Greifende Hände:
Die Antwort auf die Frage scheint ein Ort zu sein, der durch „gedeckte Tische“ und „greifende Hände“ charakterisiert ist. „Gedeckte Tische“ suggerieren Gastlichkeit, Gemeinschaft, Einladung, vielleicht auch ein Festmahl oder eine Versorgung – aber auch eine gewisse Erwartung oder Vorbereitung.
Greifende Hände“ sind ambivalent: Sie können Hilfe, Begrüßung, Verbindung und Unterstützung bedeuten, aber auch Gier, Besitzergreifen, Forderung oder den Versuch, festzuhalten und zu kontrollieren. Der Zusatz „auch dahin“ klingt fast resigniert oder unausweichlich.

Die Macht des Lichts und der Wahrnehmung:
Das Gedicht endet mit einem starken, fast magischen Bild:

wo die Kerze / aufscheint / deren Schattenschlag / die Dinge wandern macht


Die Kerze steht für Licht, Erkenntnis, Fokus, aber auch Vergänglichkeit und eine fragile Quelle.Ihr „Schattenschlag“ ist ein besonders eindrückliches Bild. Es beschreibt nicht einfach statische Schatten, sondern deren Bewegung, ihr „Schlagen“ oder Pulsieren im flackernden Kerzenlicht.

Dass dieser Schattenschlag „die Dinge wandern macht“, ist der zentrale, rätselhafte Höhepunkt. Es suggeriert:

Die grundlegende Veränderlichkeit und Unbeständigkeit der Dinge.

Die Macht der Wahrnehmung und der (künstlichen) Beleuchtung: Je nach Lichtquelle und Perspektive erscheinen und bewegen sich Dinge anders. Die Realität ist nicht fest, sondern wird durch unseren Blick (das Licht, das wir darauf werfen) geformt und in Bewegung gesetzt. Eine fast mystische Kraft des Lichts, die die materielle Welt beeinflusst. Die Illusion der Bewegung durch das Spiel von Licht und Schatten.

Dieses Gedicht malt ein Bild von der Unausweichlichkeit des Unterwegsseins („alle diese Wege„) und der Begegnung mit anderen (mitgehen, entgegenkommen, vorbeigehen) sowie einem unbestimmten, ambivalenten Zielort (Gastlichkeit/Bedrohung durch Tische und Hände). Es gipfelt in der faszinierenden und beunruhigenden Erkenntnis, dass unsere Wahrnehmung – symbolisiert durch das flackernde Kerzenlicht und seinen bewegten Schatten – die Welt um uns herum nicht nur beleuchtet, sondern sie aktiv verformt und in Bewegung setzt („wandern macht“). Es ist eine Meditation über Vergänglichkeit, Perspektive und die fragile, von unserer Sichtweise abhängige Natur der Wirklichkeit. Der Ton ist nachdenklich, etwas düster und von einer poetischen Rätselhaftigkeit.

Titelfoto: brisch27 via pixabay


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