Eine Annäherung | Ille Chamiers Gedicht „Lied 76“ aus den 1970er Jahren erzählt von einer Frau, die zwischen patriarchalen Erwartungen und eigener Ohnmacht gefangen ist. Ihr Mann schickt sie mit dem unmöglichen Auftrag aufs Feld, „Stroh zu Gold zu spinnen“ – eine bittere Anspielung auf das Rumpelstilzchen-Märchen. Doch anders als im Märchen gibt es hier keine magische Rettung: „weiß doch selber, daß ichs nicht kann“, gesteht sie resigniert. Während der Mann mit autoritärem Gestus verschwindet („fort geht mein Mann / groß wird sein Wort“), wird die Natur zum Spiegel ihrer Verzweiflung. Die Dämmerung führt ihr handlungsunfähig die Hand, und in der nächtlichen Kammer lacht sie der Mond aus – ein Symbol entfremdeter Weiblichkeit. Am Ende kehrt sie das Märchenmotiv um: Statt Stroh zu Gold zu spinnen, „weinte ich Gold zu Stroh“. Diese Tränen werden zum Sinnbild vergeblicher Anstrengung, innerer Ressourcen, die für fremde Ansprüche vergeudet werden.

Zeitgeschichtlich wurzelt das Gedicht tief in den Debatten der westdeutschen Frauenbewegung der 1970er Jahre. Die Stroh-zu-Gold-Forderung spiegelt die Doppelbelastung von Beruf und Haushalt, die Feministinnen wie Alice Schwarzer anprangerten. Wirtschaftliche Krisen (Ölpreisschock 1973) unterfüttern die Existenzangst hinter Zeilen wie „das Stroh wird nicht zu Geld“. Chamier nutzt dabei eine bewusst archaisierende Sprache („ward davon froh“), um patriarchale Strukturen als zeitloses Phänomen zu entlarven – eine subversive Strategie im Kontext der „Neuen Subjektivität“, die persönliche Erfahrungen politisch rahmte.
Als das Gedicht 1980 in der Anthologie „Allerlei Frau“ erschien, erhielt es eine neue Resonanz. Unter dem Motto „Gedichte, Geschichten, Geträumtes von Frauen aus Schreibgruppen“ wurde es zum Teil eines kollektiven weiblichen Erzählens. Was auf den ersten Blick wie naive Märchenlyrik wirkt, entpuppt sich als präziser Kommentar: Die scheinbar private Klage enthüllt, wie traditionelle Machtverhältnisse in modernen Ehen fortwirken. Die Naturbilder – das „Sonnenrad“, das anderen Glück bringt, während die Sprecherin in der „Kammer der Nacht“ gefangen bleibt – verdeutlichen diese soziale Isolation.
Literarische Schwesterwerke
Chamiers Text korrespondiert mit Schlüsselwerken des feministischen Aufbruchs:
„Ich bin eine Frau. Und das ist das Problem.“
— Verena Stefan, Häutungen (1975)
Wie Stefan beschreibt Chamier den Körper als Ort der Entfremdung: Der Mond als Symbol weiblicher Zyklen wird zum Peiniger. Die „Kammer der Nacht“ erinnert an die „Beklemmungsräume“ in Sarah Kirschs Gedichtzyklus Zaubersprüche (1973). Doch Chamier geht weiter: Ihr „Sonnenrad“ – ein traditionelles Lebenssymbol – dient anderen zur Freude („mancher ward davon froh“), während die Sprecherin ausgeschlossen bleibt.
Die Pointe für heute
Als das Gedicht 1980 in der Anthologie Allerlei Frau erschien, wurde es als „geträumtes“ Dokument weiblicher Innerlichkeit gelesen. Doch die Neubetrachtung zeigt: Es ist kein Traum, sondern eine Anklage in Märchengewand. Chamier nutzt die scheinbar naive Form, um fundamentale Machtungleichheiten zu entlarven. Ihr Schlussvers – „da weinte ich Gold zu Stroh“ – antizipiert heutige Debatten um emotionale Arbeit und Burnout bei Frauen.
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