Meine Annäherung an ein Gedicht, welches ich im Signaturen-Magazin entdeckt habe: Jane Wels schreibt über die verborgene Magie der Realität, eine Feier der unerwarteten Wunder im scheinbar Gewöhnlichen und Wissenschaftlichen.
Die zentrale Idee: „Auf Wunder angewiesen“
Der letzte Vers ist der Schlüssel: „bin ich auf Wunder angewiesen.“ Aber das Gedicht definiert „Wunder“ nicht im religiösen oder mystischen Sinne neu, sondern findet sie in der Realität selbst. Es ist die Haltung eines neugierigen, poetischen Wissenschaftlers oder eines philosophischen Dichters, der die Welt genau betrachtet.
Eine Analyse der Bilder und was sie bedeuten könnten:
- „Zebrasteine auf dem Mars“: Ein wunderbares Oxymoron. Zebrasteine (angelehnt an die Zebrastreifen zur Markierung für Fußgängerüberwege) sind ein spezifisches, von Menschen gemachtes Objekt. Der Mars steht für das völlig Fremde, Unberührte. Eine Suggestion, dass selbst im scheinbar völlig anderen und unbekannten Terrain (ob rotem Planet oder im Leben) plötzlich vertraute, ordnende Muster auftauchen können.
- „Lucy in Addis Abeba“: Dies ist eine geniale Doppelbedeutung.
- Wissenschaftlich: „Lucy“ ist der Name des berühmtesten Fossils eines frühen Hominiden (Australopithecus afarensis), dessen Überreste in Äthiopien gefunden wurden. Addis Abeba ist die Hauptstadt Äthiopiens. Das Wunder hier ist die reale, fassbare Spur unserer eigenen Evolution.
- Kulturell: „Lucy in the Sky with Diamonds“ von den Beatles. Das Lied steht für psychedelische, traumhafte Bilder – also für eine andere Art von Wunder, das im Geist entsteht.
 
- „tauschen Synapsen Signale aus“: Das Wunder des Bewusstseins, des Denkens, der Gefühle und eben auch der Poesie entsteht aus dem bloßen, elektrochemischen Austausch in unserem Gehirn. Das Materielle wird zum Metaphysischen.
- „rollt ein Ball so lange bergab…“: Hier wird ein physikalisches Naturgesetz (die Schwerkraft) als etwas Selbstverständliches und doch Erstaunliches beschrieben. Die Poesie liegt in der unausweichlichen Logik der Bewegung.
- „schlafen stillgelegte Gene in den Zellen“: Ein wunderbares Bild für die verborgene Geschichte und das Potenzial, das in uns trägt. Diese Gene sind Archive der Evolution, schlafende Programme, die vielleicht eines Tages wieder erwachen. Es ist das Wunder der vererbten Information.
- „Heidelberger Wäldchen in Brasilien“: Ein Stück deutscher Heimat mitten in der exotischen Fremde Brasiliens. Spielt dies auf reale Auswanderergeschichten an? Ich sehe darin ein Beispiel, wie Kultur und Erinnerung selbst an den unwahrscheinlichsten Orten Wurzeln schlagen können – ein anthropologisches Wunder.
- „Grinsen ohne Katze“: Eine direkte Referenz zu Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ (das Grinsekatzen-Grinsen, das zurückbleibt, nachdem die Katze verschwunden ist). Es ist das Wunder der Absurdität, der Logik des Traums und der Idee, dass Effekte auch ohne ihre offensichtliche Ursache existieren können.
- „Hufeisen aus Blausteinen um den Altar von Stonehenge“: Stonehenge ist selbst ein Ort des Rätsels und des Wunders. Die präzise Anordnung der Steine nach astronomischen Gesichtspunkten ist das „Wunder“ der frühen Wissenschaft und Spiritualität. Das „Hufeisen“ beschreibt konkret die Anordnung der Trilithen (die torartigen Steinstrukturen).
- „entweicht die Luft nicht ins All“: Vielleicht das größte und lebensspendendste Wunder von allen: die Erdatmosphäre und die Gesetze der Physik (Schwerkraft), die sie halten. Es ist die unsichtbare, fragile Barriere, die alles Leben überhaupt erst möglich macht.
Jane Wels‘ Gedicht konstruiert keine übernatürlichen Wunder, sondern entschlüsselt die Wunder, die bereits existieren. Ein Katalog des Staunens: Das Mysteriöse und Erstaunliche existiert nicht trotz der Wissenschaft, sondern durch und in ihr. Wir müssen nicht auf überirdische Eingriffe warten. Wir sind bereits von Wundern umgeben – in unserer DNA, in den Gesetzen der Physik, in der Geschichte der Erde und in der Art, wie unser Gehirn diese Welt begreift. Wir sind nur darauf angewiesen, sie zu sehen. Und es erschreckt zu sehen, wie viele Menschen den Sinn dafür verloren zu haben scheinen.
Hier finden Sie das Gedicht im Ganzen: Signaturen-Magazin


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