Weg ohne Fortsetzung - Antwortgedicht aufJürgen Völkert-Marten - Ratlos

Jürgen Völkert-Marten – Ratlos

Es ist das erste Gedicht, dass mir auffällt, als ich nach dem dem abgedruckten Holzschnitt von Heinz Stein suche. Ich überlege, ob ich das Heft gleich wieder schließe. Manchmal trifft man auf Texte, die so gar nicht, nicht mehr zu eigenen Lebenssituation passen. Also, ich habe es dennoch gelesen und hier ist meine – auf Abstand bedachte – Annäherung an den Text:

Inhaltliche Annäherung:

Zentrales Thema: Existenzielle Verzweiflung, Suizidgedanken und der innere Kampf zwischen Selbstzerstörung und Lebenswillen.

Entwicklung:

RATLOS (Überschrift): Setzt sofort den Ton der Orientierungslosigkeit und Hoffnungslosigkeit.

Konkrete Suizidmethoden (Z. 2-4): „Strick“, „Pistole“, „Schlaftabletten“, „Rauschmittel“ listen direkt und schonungslos Mittel zur Selbsttötung auf. Die Kürze verstärkt die Bedrohlichkeit.

Ambivalenz und Wendepunkt (Z. 4): „ausreißen neu anfangen“ – Dieser Bruch ist entscheidend. „Ausreißen“ kann Flucht (von den Methoden? vom Leben?) oder ein gewaltsames Entfernen bedeuten. „Neu anfangen“ ist der erste, noch vage Hoffnungsschimmer oder Wunsch nach radikaler Veränderung.

Chaotischer Gedankenstrom (Z. 5): Die Zeile verdichtet den inneren Konflikt:

Selbstzerstörung: „Schluß machen“, „Leben fortwerfen“, „aufgeben“, „Suicid“, „ein Ende machen“.

Lebenswillen / Suche nach Alternativen: „weiter hoffen“, „weiter suchen“, „auf das Gute hoffen“, „beten“.

Resignation: „resignieren“.

Abruptes Ende (Z. 5): Das Gedicht schließt mit der ratlosen, fast verzweifelten Frage „Was?“. Sie fasst die gesamte existenzielle Unsicherheit und Ausweglosigkeit des Sprechers zusammen. Es gibt keine Antwort, nur die quälende Frage.

Grundstimmung: Überwältigende Verzweiflung, tiefe Ratlosigkeit, lähmende Ambivalenz und ein intensiver innerer Kampf zwischen Todessehnsucht und dem (wenn auch schwachen) Wunsch nach Rettung, Hoffnung oder spirituellem Trost („beten“, „auf das Gute hoffen“).

Formale Annäherung:

Struktur & Form:

Fragmente & Aufzählung: Das Gedicht besteht fast ausschließlich aus Einzelwörtern oder kurzen Phrasen, die wie ein innerer Monolog oder Gedankensturm wirken. Es fehlt eine traditionelle Strophenform oder ein geregeltes Versmaß.

Enjambement / Zeilenbruch: Die vierte Zeile „Rauschmittel ausreißen neu anfangen“ nutzt den Zeilenumbruch für eine überraschende semantische Wende. Die letzte Zeile ist ein einziges langes, ununterbrochenes Gedankenkonglomerat.

Sprache & Stilmittel:

Parataxe: Aneinanderreihung von Hauptsätzen bzw. Satzfragmenten ohne Unterordnung („Strick Pistole Schlaftabletten… weiter hoffen weiter suchen resignieren aufgeben…“). Dies spiegelt das Chaos und die Überforderung im Kopf des Sprechers wider.

Ellipse: Auslassungen sind das prägende Stilmittel. Es gibt keine vollständigen Sätze, keine erklärenden Verbindungen, nur die nackten Kernbegriffe.

Kontrast / Antithese: Der scharfe Gegensatz zwischen den Todeswünschen („Suicid“, „aufgeben“) und den Lebens-/Hoffnungsimpulsen („neu anfangen“, „weiter hoffen“, „beten“) bildet das strukturelle und inhaltliche Rückgrat des Gedichts, besonders in der letzten Zeile.

Wiederholung (Anapher): „weiter hoffen weiter suchen“ und die Wiederholung des Hoffens („weiter hoffen“, „auf das Gute hoffen“) betonen den mühsamen Kampf gegen die Verzweiflung.

Ausruf / Frage: Die Überschrift „RATLOS“ wirkt wie ein verzweifelter Ausruf. Das Gedicht endet mit der offenen, ratlosen Frage „Was?“.

Orthografie & Typografie:

Großschreibung: Wichtige, emotionale oder handlungsweisende Begriffe sind großgeschrieben (RATLOS, Strick, Pistole, Schlaftabletten, Schluß, Leben, Suicid, Ende, Gute, Was?). Dies verleiht ihnen besonderes Gewicht und Intensität.

Keine Interpunktion: Das völlige Fehlen von Satzzeichen (außer dem Fragezeichen am Ende) verstärkt den Eindruck des Gedankenstroms, der Atemlosigkeit und des Kontrollverlusts.

Bildlichkeit: Die Sprache ist weitgehend konkret und direkt („Strick“, „Pistole“) oder abstrakt-reflexiv („hoffon“, „suchen“, „resignieren“). Die einzige potentielle Metapher ist „ausreißen“ (Flucht? gewaltsame Befreiung?) und „Leben fortwerfen“ (als Objekt behandeln, wegwerfen).

Und nun?

Als gelegentlicher „Gegenbeispielsortierer“ möchte ich die formale Struktur des Fragmentarischen, Aufzählenden und Ambivalenten beibehalten, aber den inhaltlichen Fokus vom passiven Verzweifeln auf aktives Suchen, Entscheiden und Handeln lenken – ohne die Tiefe der Krise zu leugnen. Das Ziel ist (m)ein Gedicht, das die Verzweiflung anerkennt, aber den Lesenden (und den Sprecher im Gedicht) implizit oder explizit in Richtung konstruktiver Schritte führt. – Einfach, weil ich solch einen Text für mich nicht so stehen lassen mag.


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