Meine LektüreNotizen

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Lesen ist kein lineares Voranschreiten, sondern ein Vermessen von Gelände. Meine Notizen – über die Jahre hinweg entstanden, fragmentarisch, oft assoziativ – sind keine Protokolle, sondern Landkarten im Werden. Sie halten fest, wie sich Texte verzweigen: in Schluchten unerwarteter Bezüge, über Hügelkämme von Genres hinweg, durch Wälder, in denen Bücher einander wurzelhaft durchdringen.

Inspiriert von der Praxis des Lesetagebuchs, nutze ich unterschiedlichste Formen, um diesen Prozess abzubilden: Skizzen verorten plötzliche Einsichten, Töne halten die Stimmung einer Passage fest, Filme fangen Bewegung ein, wo Worte erstarrten. Form follows function – denn nur so lässt sich erfassen, was beim Lesen geschieht: ein Dialog, der nie endet.

Aus knapp 3000 Büchern, Essays und Werken erzählerischer Kunst sind über die Jahre Notizen entstanden, die längst ein Eigenleben entwickeln. Sie winden sich durch Zeit und Themen wie Flussläufe, die irgendwann unvermutet zusammenfinden: Ein Sachbuch über Gletscherschmelze trifft auf Kafkas Verwandlung; eine Graphic Novel öffnet ein Portal zu Brechts Theatertheorie. Solche Querverbindungen sind keine Zufälle, sondern Spuren aktiver Lektüre – ein Netz aus Pfaden, die immer neue Routen vorschlagen.

Dabei folge ich keiner Methode, außer der, mich treiben zu lassen. Manchmal sind es Schlüsselwörter, die als Wegmarken dienen: „Scham“, „Grenze“, „Zeitlosigkeit“. Ein andermal zieht mich ein Satz wie Toni Morrisons „Du dein bestes Ding“ in einen Strudel aus Assoziationen – und plötzlich wird aus einer Notiz ein Essay, aus einem Essay eine Collage. Die Werkzeuge dafür sind so vielfältig wie das Gelände selbst: Literaturgeschichte dient als Koordinatensystem, Philosophie als Kompass, doch ebenso wichtig sind die Leerstellen, die zum Weiterdenken einladen.

Jede Notiz ist ein Knotenpunkt. Sie verweist zurück auf frühere Lektüren, deutet voraus auf künftige. Was hier als Randbemerkung begann, wird Jahre später zur Keimzelle eines neuen Textes; was heute wie ein Irrweg erscheint, erweist sich morgen als Abkürzung. Diese Dynamik ist gewollt: Nicht Vollständigkeit ist das Ziel, sondern ein Gefüge, das stets umbaut, verwischt, ergänzt werden kann. Wie in einer topographischen Karte bleiben Höhenlinien der Interpretation sichtbar, doch die Legende bleibt beweglich – bereit, neu justiert zu werden, sobald ein anderer Blickwinkel es verlangt.

Am Ende geht es nicht darum, Literatur zu „verstehen“, sondern sie zu bewohnen. Die Notizen sind keine Schatztruhen, sondern Bausteine für etwas, das sich erst im Entfalten zeigt: ein Archiv aus Korrekturen, ein Atlas des Möglichen. Sie laden ein, die eigenen Koordinaten zu verschieben – oder, wie Marcel Proust es nannte, „mit neuen Augen zu sehen“.

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