margueriten - Norbert Hummelt - Lyrik

margueriten – Norbert Hummelt

Das Gedicht als transgenerationale Übersetzungsarbeit?
Eine Annäherung | In „margueriten“ rekonstruiert Norbert Hummelt nicht einfach die Erinnerungen seiner Mutter an den Zweiten Weltkrieg – er macht den Prozess der Rekonstruktion selbst zum Thema. Das lyrische Ich (als nachgeborener Sohn) wird zum Archäologen mütterlicher Erfahrungen, die nur fragmenthaft überliefert sind: in abgebrochenen Sätzen, verweigerten Liedern und weggelegten Briefen.

Die Mutterstimme als lyrisches Palimpsest

Keine Originalstimme, sondern eine durch den Sohn gebrochene
Die Zeilen „das Lied […] das ich beim Bügeln summte“ sind keine wörtliche Wiedergabe, sondern eine Rekonstruktion aus zweiter Hand. Hummelt montiert Fundstücke:

den Brief („auf der Waage recht weit unten“) als physisches Relikt
das verbotene Volkslied als akustische Spur
die Margeriten als symbolische Neucodierung

Rheinische Konkretion
Die „Flieger“ und der „Alarm“ verweisen auf die Bombardierung Neuss’ 1944/45. Doch Hummelt nennt keine Daten – die Bedrohung steckt in der Alltagssprache („mußten wir immer“), als sei der Luftschutzbunker selbstverständlicher Teil der Kindheit gewesen.

Kommunikationspathologien des Krieges

a) Das Trauma im Alltagsritual

  • Bügeln vs. Summen
    Die Mutter bügelt – eine Geste der Ordnung –, aber ihr entgleitet das traurige Lied. Die Abwehr („gefiel ihr nicht“) zeigt: Selbst in scheinbar harmlosen Momenten bricht das Verdrängte durch.
  • Erzwungene Themenwechsel
    Der abrupte Übergang zu „das Rotkehlchen im Apfelbaum“ spiegelt, wie Kriegserfahrung den Dialog deformiert: Naturbilder werden zu Fluchtpunkten vor der eigentlichen Geschichte.

b) Die doppelte Last der Waage

Der Brief „auf der Waage recht weit unten“ symbolisiert:

  1. das physische Gewicht des Ungesagten
  2. das moralische Abwägen des Sohnes: Soll er die Erinnerung heben – oder ihr Schweigen respektieren?

Hummelts poetische Therapie

a) Form als Spiegel der Zerrüttung

  • Die kleingeschriebenen „u.“ und brüchigen Enjambements („hand-/arbeit“) imitieren verstümmelte Kommunikation.
  • Das Gedicht endet mit einem Naturbild – aber der Apfelbaum wurzelt in bombenverseuchtem Boden.

b) Säen als Gegenakt

Die Margeriten sind keine naive Geste:

  • Historisch: Blumen auf Trümmergrundstücken („Trümmerblumen“)
  • Psychologisch: Der Sohn pflanzt, was die Mutter nicht aussprechen konnte

Schweigen als lyrische Herausforderung

„margueriten“ zeigt nicht den Krieg, sondern seine sekundären Wirkungen:

  • wie Trauma sich in Alltagsgesten einschreibt
  • wie eine Generation versucht, die Sprachlosigkeit der anderen in Poesie zu übersetzen
  • wie selbst das Schönste (Blumen, Vögel) von der Geschichte kontaminiert bleibt

Hummelt schreibt kein Gedicht über die Mutter – er schreibt das Gedicht, das sie nie geschreiben hat. Dabei wird jede Zeile zum Kompromiss zwischen ihrem Schweigen und seinem Bedürfnis zu verstehen.

Ich sehe Hummelts Text als einen, der Erinnerungsverarbeitung ernst nimmt – ohne ihn zum reinen Dokument zu reduzieren.


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