Bei der Rechcherche zum Fotografen des Umschlagbildes von Tagtexte habe ich dieses Zitat von ihm auf der Seite von Pina Bausch gefunden:
„Ich glaube, man muß sehr bescheiden sein in der Wahl eines Stoffes, weil man sich zu einem intimen Freund bekennt, der sich nicht wehren kann. Diese Konfrontation hat die besten Chancen, wenn man mit Demut an seiner eigenen Wirklichkeit zweifeln kann, bis hin zur Zerstörung einer subjektiven Oberfläche. Ich glaube, daß man dann auf dem Weg ist, ein starkes Herz auszugraben, das aus einer starken, einfachen Form besteht. Nach meinem Gefühl ist Inszenieren ein Schöpfungsakt, bei dem man im leeren Raum anfängt vorsichtig zu atmen. Aus dieser Stille sehe ich ein Erwachen des menschlichen Körpers mit seinem gesamten Organismus.
Was ist das Kriterium, das befähigt, eine Schicht von Gefälligkeit und Fertigkeit abzuschaben bis hin zum naiven Kern? Ich glaube nicht, daß das Wissen ist, weil dies sich zu leicht verbindet mit Überheblichkeit. Vielleicht ist die Wahrheit im kargen Beginn. Um zum Anfang zurückzukehren ist es notwendig, starre Normen und Werte zu zerstören. Wahrscheinlich hilft diese Ursprünglichkeit einen freien Aktionsraum zu schaffen, der uns zu frohen oder grausamen Kindern macht. Ich denke mir, wenn man bemüht ist, an seinen eigenen Anfang zurückzukehren, man ein Reservoir entdeckt, das sehr viel geben kann. Es ist entstanden beim Öffnen der Augen am Morgen.“ – Rolf Borzik (Notizen: Rolf Borzik und das Tanztheater)
Was das Zitat für mich bedeutet
Rolf Borzik spricht hier etwas Grundlegendes an, das nicht nur für darstellende Künste (Inszenieren) gilt, sondern auch für jeden kreativen oder sogar persönlichen Entwicklungsprozess. Meine Kerngedanken:
Bescheidenheit und Intimität mit dem Stoff: Er betont, wie wichtig es ist, sich dem gewählten Thema oder Material mit großer Achtung zu nähern. Es ist wie eine Freundschaft, in der man die Schwächen des anderen akzeptiert und keine Gewalt anwendet. Das heißt, man sollte sich nicht einfach über den Stoff erheben, sondern ihm Raum geben, sich zu entfalten.
Zweifel an der eigenen Wirklichkeit und Demut: Der Schlüssel zur Tiefe liegt im Zweifel an der eigenen subjektiven Oberfläche. Das bedeutet, alte Muster, Vorstellungen und sogar das eigene Ego müssen hinterfragt und vielleicht sogar „zerstört“ werden, um zum Wesentlichen vorzudringen. Das erfordert Demut.
Das „starke Herz“ und die „einfache Form“: Wenn man diese Oberflächen abträgt, entdeckt man etwas Echtes, Authentisches – ein „starkes Herz“, das sich in einer „starken, einfachen Form“ manifestiert. Das ist die Essenz, frei von überflüssigem Ballast.

Inszenieren als Schöpfungsakt und das „vorsichtige Atmen“: Er beschreibt den Schöpfungsakt als ein behutsames Beginnen im „leeren Raum“. Es geht nicht um große Gesten, sondern um ein vorsichtiges Erwecken, das aus Stille und Achtsamkeit entsteht. Dies führt zur Entfaltung des Ganzen.
Der „naive Kern“ und die Zerstörung starrer Normen: Das Zitat kritisiert Wissen, das zu Überheblichkeit führt, und plädiert dafür, Schichten von „Gefälligkeit und Fertigkeit“ abzuschaben, um zum naiven, ursprünglichen Kern zu gelangen. Das erfordert die Bereitschaft, starre Normen und Werte zu durchbrechen. Es geht darum, wieder die Ursprünglichkeit eines Kindes zu finden, das ungefiltert und authentisch agiert – sei es „froh oder grausam“.
Das „Reservoir beim Öffnen der Augen am Morgen“: Diese Metapher ist wunderschön. Es ist die Rückkehr zum absoluten Beginn, zum Moment des Erwachens, der unverbraucht und voller Potenzial ist. Hier liegt ein unerschöpfliches Reservoir an Kreativität und Wahrheit.
Für mich ist das Zitat eine Aufforderung, mich von oberflächlichen Erwartungen, erlernten Mustern und intellektuellem Dünkel zu befreien, um eine tiefere, authentischere Form der Kreativität und des Seins zu finden. Es ist ein Plädoyer für Radikalität in der Einfachheit und Authentizität.
Da ich vornehmlich aktiv lese, habe ich mir Gedanken gemacht, wie mich dies nun in Bewegung bringt.
Das Zitat selbst ist ja schon eine Anleitung zum Handeln. Ein paar Ideen/Gedankenspiele, Borziks Überlegungen aktiv zu reflektieren (kreativ, persönlich, beruflich):
„Den Stoff bescheiden wählen“ – Ein bewusster Start:
Praxis: Wähle ein kleines Projekt, eine Idee, ein Thema (sei es künstlerisch, ein Lernprojekt oder eine persönliche Herausforderung), dem du dich mit maximaler Offenheit und minimalen Vorurteilen näherst. Versuche, nicht von vornherein zu wissen, was das Ergebnis sein soll.
Fragen zum Reflektieren: Was ist der Kern dessen, was ich tun oder lernen möchte? Welche Erwartungen oder Vorkenntnisse könnte ich bewusst beiseitelegen?
„Mit Demut an der eigenen Wirklichkeit zweifeln“ – Ein Entblätterungsprozess:
Praxis: Identifiziere in deinem gewählten Bereich (oder in deinem Leben allgemein) „starre Normen und Werte“, die dich einschränken könnten. Das können Glaubenssätze, perfektionistische Ansprüche, gesellschaftliche Erwartungen oder eingefahrene Arbeitsweisen sein.
Methode: Versuche eine „Dekonstruktionsübung“: Nimm einen Gedanken oder eine Methode, die du immer anwendest, und frage dich: Warum mache ich das so? Was wäre das Gegenteil davon? Was, wenn ich alle Regeln breche?
Beispiel: Wenn du schreibst, versuche, mal bewusst ohne Satzzeichen oder in einem völlig neuen Stil zu schreiben. Wenn du ein Problem löst, ignoriere für eine Stunde alle üblichen Lösungswege.
„Das starke Herz ausgraben“ – Die Suche nach der Essenz:
Praxis: Konzentriere dich auf die Reduktion. Nachdem du Dinge dekonstruiert hast, frage dich: Was ist das absolut Wesentliche hier? Was bleibt übrig, wenn ich alles Unnötige weglasse?
Beispiel: Wenn du ein Bild malst, versuche es mit nur einer Farbe. Wenn du sprichst, versuche, deine Botschaft in so wenig Worten wie möglich auszudrücken. Das Zitat spricht von einer „einfachen Form“.
„Im leeren Raum anfangen vorsichtig zu atmen“ – Achtsamkeit im Schöpfungsprozess:
Praxis: Egal was du tust, beginne mit einem Moment der Stille und bewussten Wahrnehmung. Bevor du startest, nimm dir 1-2 Minuten, um einfach nur zu atmen und den „leeren Raum“ in dir und um dich herum wahrzunehmen.
Methode: Übe Achtsamkeit in deinem kreativen Prozess. Konzentriere dich auf den Akt selbst, nicht auf das Ergebnis. Spüre das Material, höre die Geräusche, nimm die Bewegung wahr.
„Zum Anfang zurückkehren“ – Das „Reservoir beim Öffnen der Augen“:
Praxis: Nutze den Moment des Erwachens bewusst. Bevor der Tag dich packt, nimm dir einen Moment, um diese ursprüngliche, ungefilterte Wahrnehmung zu spüren. Was kommt dir in den Sinn, wenn dein Geist noch nicht von Gedanken gefüllt ist? Schreibe es auf.
Anwendung: Versuche, diese kindliche Neugier und Offenheit in deinen Alltag zu integrieren. Stell dir vor, du siehst alles zum ersten Mal. Was fällt dir auf? Wie würdest du reagieren, wenn du keine Vorkenntnisse hättest?
Ein konkretes Beispiel:
1. „Bescheidenheit in der Wahl eines Stoffes“ – Das Mikro-Projekt
Such dir ein kleines, scheinbar unscheinbares Thema oder Material, dem du dich mit voller Hingabe widmest. Der Gedanke ist, dass du dich nicht von der Größe oder dem vermeintlichen „Gewicht“ des Themas einschüchtern lässt, sondern seine inneren Qualitäten erforschst.
Vorschlag A: Die Materie erkunden. Wähle ein ganz alltägliches Material – einen Stein, ein Stück Holz, ein Blatt Papier, eine alte Stoffserviette, eine Handvoll Sand. Verbringe Zeit damit, dieses Material zu erforschen. Wie fühlt es sich an? Welche Geräusche macht es? Wie reagiert es auf Licht? Wie kannst du es bearbeiten, ohne es zu verändern, nur um seine Essenz zu zeigen? (Z.B. eine Serie von Fotografien, die die Textur des Materials hervorheben; Skulpturen, die seine natürliche Form betonen; Klanginstallationen, die seine Geräusche verstärken).
Vorschlag B: Ein unsichtbares Phänomen sichtbar machen. Wähle etwas Abstraktes oder Flüchtiges – zum Beispiel die Stille, einen Atemzug, die Zeit, das Warten, eine flüchtige Erinnerung. Wie kannst du diesem immateriellen „Stoff“ eine Form geben, die seine Zerbrechlichkeit und Flüchtigkeit ehrt? (Z.B. eine Klangkomposition aus Stille und minimalen Geräuschen; eine Tanzperformance, die nur aus dem Ein- und Ausatmen besteht; eine Serie von Zeichnungen, die sich auf das Verblassen einer Erinnerung konzentrieren).
2. „Zweifeln bis zur Zerstörung einer subjektiven Oberfläche“ – Der Dekonstruktions-Akt
Dieser Vorschlag zielt darauf ab, deine gewohnten Herangehensweisen aufzubrechen und zu hinterfragen. Es geht darum, deine eigene künstlerische „Handschrift“ oder deine Routine bewusst zu stören, um zu einem naiveren, unverstellten Kern vorzudringen.
Vorschlag A: Das Werk rückwärts erschaffen. Wenn du normalerweise von A nach Z arbeitest, versuche, ein Stück rückwärts zu entwickeln. Beginne mit dem, was normalerweise der letzte Schliff wäre, und arbeite dich zurück zu den Grundelementen. Wenn du malst, beginne mit Details und gehe dann zu groben Formen über. Wenn du schreibst, beginne mit dem Ende der Geschichte. Das zwingt dich, deine übliche Denkrichtung zu verlassen.
Vorschlag B: Künstliche Barrieren einführen. Lege dir selbst extreme Einschränkungen auf, die dich aus deiner Komfortzone drängen. Zum Beispiel: Male ein Bild mit nur einer einzigen Farbe und einem einzigen Pinselstrich. Schreibe ein Gedicht, das nur aus Verben besteht. Komponiere ein Musikstück mit nur einem einzigen Ton. Die extremen Begrenzungen können überraschende Freiheit und Kreativität freisetzen. Borziks Wunsch, „starre Normen und Werte zu zerstören“, wird hier ganz praktisch umgesetzt.
3. „Das starke Herz ausgraben“ und „im leeren Raum atmen“ – Der Prozess der Reduktion und Achtsamkeit
Hier geht es darum, die Essenz zu finden und den Schaffensprozess als einen Akt des vorsichtigen Atmens zu erleben, nicht des forcieren Handelns.
Vorschlag A: Der 5-Minuten-Essenz-Sketch. Wähle ein Motiv (z.B. ein Gesicht, ein Baum, ein Gebäude) und zeichne es in nur 5 Minuten. Aber nicht irgendwie. Dein Ziel ist es, in diesen 5 Minuten nur die absolut wesentlichen Linien oder Formen einzufangen, die das Motiv unverkennbar machen. Wiederhole das täglich mit verschiedenen Motiven. Das schult deinen Blick für das Wesentliche und zwingt dich zur Reduktion.
Vorschlag B: Stille-Performance oder Installation. Erschaffe ein kleines Werk, dessen Kern die Stille und der leere Raum ist. Dies könnte eine minimalistische Skulptur sein, die den Raum um sich herum betont, eine Klanginstallation, die aus langen Pausen und nur vereinzelten, leisen Tönen besteht, oder eine Performance, die nur aus langsamen, bewussten Atemzügen besteht. Es geht darum, die Abwesenheit als Präsenz zu erleben und das „vorsichtige Atmen“ spürbar zu machen.
4. „Reservoir beim Öffnen der Augen am Morgen“ – Das tägliche Ritual
Dieses Konzept lädt dich ein, die ungefilterte Wahrnehmung des Erwachens zu nutzen.
Vorschlag: Der Morgen-Impuls. Lege ein Notizbuch und einen Stift direkt neben dein Bett. Wenn du morgens aufwachst, noch bevor du aufstehst oder dich ablenken lässt, notiere sofort alles, was dir in den Sinn kommt – Gedanken, Bilder, Gefühle, Träume. Ohne zu zensieren oder zu bewerten. Das ist dein „Reservoir“. Nutze diese ungefilterten Impulse als Ausgangspunkt für deine künstlerische Arbeit des Tages – vielleicht als Thema für einen Sketch, einen Text, eine Melodie oder einfach nur als Inspiration für einen Gedanken.
Titelfoto: Oliver Simon
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