Ulrike Almut Sandig wurde 1979 in Großenhain in der DDR geboren und wuchs in der sächsischen Kleinstadt Riesa auf. Sie gehört zu jener Generation deutschsprachiger Autorinnen, die ihre Kindheit noch in der DDR verbrachten und ihre literarische Sozialisation nach der Wende erfuhren. Diese biografische Verortung zwischen zwei deutschen Staaten und Systemen prägt ihr Werk, ohne es eindimensional zu bestimmen.
Vielleicht gibt es zwei Arten des Lesens. Die eine ist die Suche nach Bestätigung des eigenen Weltbildes. Das hat seine Berechtigung. Es empowert. Die andere ist ein Suchen ohne bestimmtes Ziel, das einen mit echten Funden belohnt. Diese Art des Lesens befreit mich vom eigenen beschränkten Blick. Außerdem hat sie eine steile Lernkurve. – Aus: Sprechstunde – die Sprachkolumne
Ausbildung und künstlerische Anfänge
Nach dem Abitur studierte Sandig zunächst Religionswissenschaft und Indologie in Leipzig und Berlin, später Angewandte Literaturwissenschaft am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, wo sie 2010 ihr Diplom erlangte. Diese Ausbildung an einer der renommiertesten deutschsprachigen Schreibschulen legte den Grundstein für ihre vielseitige literarische Praxis. Bereits während des Studiums machte sie mit ersten Veröffentlichungen auf sich aufmerksam.
Literarisches Werk
Sandigs Schaffen zeichnet sich durch ausgeprägte Gattungsvielfalt aus. Sie schreibt Lyrik, Prosa und Hörstücke und entwickelt intermediale Projekte, die Literatur mit Musik und Performance verbinden. Ihre ersten Gedichtbände erschienen in den 2000er Jahren und etablierten sie schnell als eine bemerkenswerte Stimme in der zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik.
Zu ihren wichtigsten Veröffentlichungen zählen die Gedichtbände „Zunder“ (2005), „Streumen“ (2007), „Dickicht“ (2011) und „ich bin ein Feld voller Raps verstecke die Rehe und leuchte wie dreizehn Ölgemälde übereinandergelegt“ (2016). In ihrer Lyrik verbindet Sandig oft archaische und märchenhafte Elemente mit zeitgenössischen Bezügen. Ihre Sprache changiert zwischen dem Konkreten und dem Mythischen, zwischen regionaler Verwurzelung und universellen Motiven.
Im Prosabereich veröffentlichte sie unter anderem „Flamingos“ (2010), einen Erzählband, sowie „Monster wie wir“ (2015), einen Roman, der die Geschichte dreier Frauen aus verschiedenen Generationen einer ostdeutschen Familie erzählt. Das von Ihnen erwähnte „Buch gegen das Verschwinden“ erschien 2023 und markiert eine weitere Facette ihres Schreibens. In diesem Werk verbindet Sandig persönliche Erinnerungen, familiäre Überlieferungen und kulturhistorische Reflexionen zu einem vielstimmigen Text über Gedächtnis, Herkunft und die Bewahrung des Verschwindenden.
Musikalisch-performative Projekte
Ein charakteristisches Merkmal von Sandigs künstlerischer Arbeit ist die Verbindung von Literatur und Musik. Sie arbeitet regelmäßig mit Musikern zusammen und entwickelt Konzertlesungen, die ihre Texte mit Klanglandschaften verweben. Zu ihren musikalischen Partnern gehören unter anderem der Schlagzeuger Andreas Schnitzer und der Musiker Christian Steyer. Diese Zusammenarbeit mündet in Auftritten, die zwischen Lesung, Konzert und Performance oszillieren und das gesprochene Wort als musikalisches Element verstehen.
Thematische Schwerpunkte
In Sandigs Werk kehren bestimmte Themen und Motive wieder: die ostdeutsche Provinz als Landschaft der Kindheit und der Transformation, Familiengeschichten und Generationenbeziehungen, die Natur als mythischer und konkreter Raum, sowie Fragen von Sprache, Erinnerung und Identität. Ihre Texte sind häufig von einem ethnografischen Interesse geprägt – sie sammelt Geschichten, Lieder, Sprichwörter und Alltagserzählungen und verwandelt sie in literarische Form.
Die DDR-Vergangenheit erscheint in ihren Texten nicht als politisches Thema im engeren Sinne, sondern als biografische Grundierung, als Teil einer Herkunft, die miterzählt wird, ohne dass sie das Werk dominierte. Sandig gehört zu jenen Autorinnen, die den ostdeutschen Erfahrungsraum literarisch bearbeiten, ohne sich darauf reduzieren zu lassen.
Übersetzungen und Hörstücke
Neben der eigenen literarischen Produktion betätigt sich Sandig auch als Übersetzerin und hat Texte aus dem Englischen ins Deutsche übertragen. Zudem hat sie mehrere Hörstücke verfasst, die im Radio ausgestrahlt wurden und die akustischen Möglichkeiten des Mediums für poetische Experimente nutzen.
Auszeichnungen und Stipendien
Sandigs Werk wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien gewürdigt. Sie erhielt unter anderem den Leonce-und-Lena-Preis (2009), einen der wichtigsten deutschsprachigen Lyrikpreise, den Förderpreis zum Bremer Literaturpreis (2010), den Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis (2010), den Kranichsteiner Literaturpreis (2012) und den Peter-Huchel-Preis (2015). Sie war Stipendiatin der Villa Massimo in Rom (2018) und erhielt 2021 den Heimrad-Bäcker-Preis. Diese Auszeichnungen dokumentieren die Anerkennung, die ihr Werk in der literarischen Öffentlichkeit gefunden hat.
Lebens- und Arbeitsweise
Sandig lebt und arbeitet in Leipzig, einer Stadt, die sich seit der Wende zu einem wichtigen Zentrum der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur entwickelt hat. Von dort aus unternimmt sie Lesereisen, nimmt an Festivals teil und entwickelt neue Projekte. Ihre Arbeitsweise ist geprägt von einem experimentellen Zugang zur Sprache und von der Suche nach Formen, die über das reine Textformat hinausgehen.
Poetologische Position
In Interviews und Essays hat sich Sandig wiederholt zu ihrer Schreibpraxis geäußert. Sie versteht Schreiben als einen Prozess des Zuhörens und Sammelns, als ein Aufnehmen von Stimmen und Geschichten aus der Umgebung. Ihre Texte entstehen oft aus einem längeren Recherche- und Verdichtungsprozess, in dem dokumentarisches Material und literarische Imagination ineinandergreifen. Die Mündlichkeit spielt eine wichtige Rolle – viele ihrer Texte sind auf Vortrag hin angelegt und entfalten ihre Wirkung erst in der performativen Situation.
Rezeption und literarisches Feld
Sandig wird von der Literaturkritik überwiegend positiv aufgenommen und gilt als eine der profilierten Stimmen ihrer Generation. Ihre Texte werden in Literaturzeitschriften, Anthologien und auf Festivals präsentiert. Sie nimmt teil am zeitgenössischen literarischen Diskurs und gehört zu jenen Autorinnen, die die Grenzen zwischen den Gattungen produktiv überschreiten und nach neuen Ausdrucksformen suchen.
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Titelfoto: Brigitte Werner
Aus der Lektüre entstandene Beiträge
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Ulrike Almut Sandig – Ein literarisches Porträt
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Ulrike Almut Sandig – Buch gegen das Verschwinden
2–4 minutesVor der Lektüre | Das Buch besteht aus sechs Kurzgeschichten, die verschiedene Aspekte des Verschwindens umkreisen. Laut Klappentext sammelt Sandig darin Geschichten von Menschen, deren Erzählungen verloren zu gehen drohen. Es geht um Erinnerung, um Migration, Flucht, Verlust. Die Texte arbeiten mit verschiedenen Formen – Lyrik, Prosa, dokumentarische Passagen – und folgen keiner durchgehenden Erzählung.…

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