Von der Liebe die Spreu - Ille Chamier

Von der Liebe die Spreu…

Ein Gedicht ohne Titel, dass mich recht lange beschäftigt hat; es war weniger der Inhalt, eher ihre Bildsprache hat mich herausgefordert:

Von der Liebe hatte ich Spreu im Mund
Kleie und leere Hülsen der Nacht
fälschlich von Sonnenlicht überzuckert…

Das Gedicht (S.12) beschreibt eine tiefgreifende Ernüchterung und einen existenziellen Wandel im Umgang mit Liebe und Tod:

Bittere Enttäuschung der Liebe (1. Strophe):
Die Erfahrung der Liebe wird als wertlos und ungenießbar beschrieben: „Spreu im Mund“, „Kleie und leere Hülsen“. Das sind Abfallprodukte, leere Hüllen ohne nährenden Kern. Diese Enttäuschung wurde durch Illusionen („fälschlich von Sonnenlicht überzuckert“) verschleiert oder schöngeredet. Das Ergebnis ist Ekel und Ablehnung: Die Überreste werden „ausgespuckt“ und bleiben auf harten, unbelebten Wegen („Kies und Schottenwegen“) liegen. Die Liebe wird als etwas Vergangenes, Verworfenes dargestellt.

Neue Weisheit und eine andere Art der Nahrung (2. Strophe):
Eine neue Instanz tritt auf: „kundige Schatten“. Diese können verstorbene Wesen, Ahnen oder eine personifizierte Weisheit des Todes sein. Sie raten zu einem vorsichtigen Neuanfang. Der Rat bezieht sich nicht mehr auf die irdische Liebe, sondern auf eine Speisung vom „Hors d’oeuvre-Tisch des Todes“. Der Tod wird hier nicht als Ende, sondern paradoxerweise als Quelle von Nahrung und Genuss dargestellt.
Die Haltung dazu soll „bescheiden“ sein – ein Gegensatz zur vielleicht übermütigen oder illusionären Haltung gegenüber der Liebe.
Die „Speise“ sind „unsterbliche Köstlichkeiten“. Es geht um geistige, seelische oder transzendente Nahrung, die Bestand hat.

Das konkrete Beispiel für eine solche unsterbliche Köstlichkeit ist das Lachen einer anderen Person („deinem Lachen“), das im „Brustton der Überzeugung“ erklingt. Dieses Lachen steht für Echtheit, tiefe innere Gewissheit und eine Freude, die nicht oberflächlich oder trügerisch ist.

Zentrale Themen und Motive die ich sehe: Desillusionierung: Die schmerzhafte Erkenntnis, dass die erhoffte oder erlebte Liebe leer und ungenießbar war.
Tod als Quelle: Ein radikaler Perspektivwechsel: Statt Bedrohung wird der Tod als Anbieter wahrer, unvergänglicher Nahrung (Erkenntnis, Trost, echte Verbindung?) gesehen.
Wahre Kost vs. wertlose Speise: Kontrast zwischen der wertlosen „Spreu“ der Liebeserfahrung und den „unsterblichen Köstlichkeiten“, die der Tod (oder die Auseinandersetzung mit ihm) bieten kann.
Echtheit und Überzeugung: Das Lachen „im Brustton der Überzeugung“ wird als höchstes Gut und wahre Nahrung der Seele hervorgehoben. Es symbolisiert Authentizität, innere Stärke und eine Freude, die aus tiefem Glauben oder Wissen kommt.
Bescheidenheit: Die Annahme dieser neuen Nahrung erfordert Demut und Vorsicht, im Gegensatz zur vielleicht gierigen oder naiven Erwartung an die Liebe.

Dieses Gedicht erzählt mir von einer tiefen Krise der Liebe, die als ungenießbar und enttäuschend erlebt wurde. Aus dieser Ernüchterung heraus weist eine mystische Weisheit („kundige Schatten“) den Weg zu einer neuen Form der Nahrung und des Trostes: nicht mehr in der enttäuschenden irdischen Liebe, sondern paradoxerweise im Bereich des Todes („Hors d’oeuvre-Tisch des Todes“) werden unvergängliche Kostbarkeiten gefunden. Die Quintessenz dieser neuen Nahrung ist die authentische, von tiefster Überzeugung getragene Freude („Lachen im Brustton der Überzeugung“) eines anderen Menschen. Es ist ein Gedicht über die Suche nach wahrhaftigem, beständigem Halt nach einer großen Enttäuschung.


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