Adolf Endler (1930-2009) war eine singuläre Erscheinung in der deutschsprachigen Literatur, ein Dichter, Essayist und Prosaist, dessen Werk sich der Kategorisierung oft entzieht. Gerade der Gesprächsabend „dies sirren“ mit Renatus Deckert, benannt nach einem seiner zentralen Gedichte, ist ein guter Ansatzpunkt, um sich ihm zu nähern, denn Endler war ein Meister des Gesprächs, der Anekdote und des intellektuellen Schlagabtauschs.
Was hat er uns heute noch zu sagen? Was kann man, außer der üblichen, rückschauenden und historisierenden Betrachtung, von seinem Werk mitnehmen, was wirkt aktuell, und wie lassen sich seine Texte weiterentwickeln?
Was Endler uns heute noch zu sagen hat – Aktuelle Relevanz seiner Texte:
Skeptische Distanz und „Hohnlachen“: Endler war ein überzeugter Kommunist, der in die DDR übersiedelte, aber schnell zu einem scharfen Kritiker des Systems wurde. Sein „Hohnlachen“, wie ein Gedicht von 1972 betitelt ist, war seine ästhetisch raffinierte Antwort auf die Zumutungen von außen und innen. Diese Haltung einer kritischen Distanz, auch gegenüber ideologischen Verheißungen und gesellschaftlichen Normen, ist heute aktueller denn je. In einer Welt, die von Polarisierung und einfachen Wahrheiten geprägt ist, lehrt Endler die Kunst des genauen Hinsehens, des Zweifels und des komplexen Denkens. Er entlarvt die Absurditäten von Macht und Ideologie mit scharfem Witz und intellektueller Präzision.
Die Selbstbefragung des Künstlers und die Rolle der Literatur: Endler hat sich immer wieder mit der Rolle des Dichters und der Funktion der Literatur in der Gesellschaft auseinandergesetzt. Seine Texte sind oft meta-literarisch, sie reflektieren den Akt des Schreibens selbst, seine Schwierigkeiten, seine Fallstricke und seine Notwendigkeit. In einer Zeit, in der die Rolle der Kunst und Kultur oft infrage gestellt wird, bietet Endlers Werk eine eindringliche Verteidigung der Autonomie und des Widerstandspotenzials der Literatur. Seine Auseinandersetzung mit der „Akte Endler“ und der Stasi-Überwachung zeigt, wie Literatur als subversive Kraft gegen staatliche Kontrolle wirken kann.
Sprachliche Virtuosität und Formbewusstsein: Endler war ein Sprachkünstler par excellence. Seine Gedichte und Prosatexte sind voller Überraschungen, Bizarrem, Komik und gleichzeitig von einer wohlüberlegten Form getragen. Er jonglierte raffiniert mit lyrischen Formen, verband Klopstock mit Brecht und schuf eine einzigartige Mischung aus Sub- und Hochliteratur. In einer Zeit, in der die Sprache oft vereinfacht und trivialisiert wird, erinnert uns Endler an die Macht und Schönheit sprachlicher Präzision und Experimentierfreude. Seine Texte sind eine Schule des genauen Hinhörens und Hinsehens, des bewussten Umgangs mit Worten.
Umgang mit Brüchen und Wandel: Endlers Biografie und Werk sind geprägt von Brüchen und Wandlungen – vom überzeugten Kommunisten zum Systemkritiker, vom West- zum Ost-Autor und wieder zur gesamtdeutschen Figur. Sein Werk spiegelt die Komplexität der deutschen Geschichte wider, insbesondere die der DDR, ohne in Schwarz-Weiß-Malerei zu verfallen. Diese Fähigkeit, Ambivalenzen auszuhalten und Brüche produktiv zu machen, ist auch für unsere heutige Gesellschaft, die mit vielen Umbrüchen konfrontiert ist, von großer Bedeutung.
Der „Tarzan am Prenzlauer Berg“ als archetypische Figur: Seine Tagebuchaufzeichnungen „Tarzan am Prenzlauer Berg“ machten ihn nach der Wende einem breiten Publikum bekannt. Diese Figur des Intellektuellen, der sich in den Wirren des Alltags und der Bürokratie behaupten muss, bleibt eine archetypische Figur, die auch heute noch Resonanz findet. Es geht um das individuelle Überleben und die Behauptung der eigenen Integrität in widrigen Umständen.
Was man über die retrospektive Betrachtung hinaus mitnehmen kann:
Die Kunst des essayistischen Denkens: Endlers Essays und kritische Texte sind nicht nur Literaturkritik, sondern eigenständige Kunstwerke. Sie zeigen, wie man intellektuell scharf, humorvoll und persönlich zugleich denken und schreiben kann. Man kann von Endler lernen, wie man Themen von verschiedenen Seiten beleuchtet, Widersprüche aufzeigt und zu überraschenden Erkenntnissen kommt.
Die Bedeutung des Eigen-Sinns und der Eigensinnigkeit: Endler war ein Eigensinniger, der sich nie ganz einordnen ließ. Er stand für eine Art von Nonkonformismus, die nicht auf plumpe Provokation aus war, sondern auf intellektuellem Tiefgang und sprachlicher Raffinesse beruhte. Diese Haltung kann als Inspiration dienen, den eigenen Denk- und Schreibweg zu finden und zu verteidigen.
Humor als Erkenntnismittel: Endlers Humor ist oft schwarz, ironisch, manchmal absurd. Er ist aber nie Selbstzweck, sondern immer Mittel zur Erkenntnis, zur Entlarvung von Heuchelei und zur Verarbeitung von Leid. Man kann von ihm lernen, wie Humor auch in ernsten Kontexten eingesetzt werden kann, um neue Perspektiven zu eröffnen.
Die Wertschätzung des Details und des Alltäglichen: Endler hatte ein unglaubliches Gespür für die kleinen, oft übersehenen Details des Alltags, die er mit poetischer Präzision zu neuen Bedeutungen erhob. „Dies Sirren“ ist ein perfektes Beispiel dafür. Diese Aufmerksamkeit für das scheinbar Banale kann uns lehren, die Welt um uns herum bewusster wahrzunehmen und darin Poesie zu entdecken.
Wie lassen sich seine Texte weiterentwickeln?
Die „Weiterentwicklung“ von Texten eines verstorbenen Autors kann auf verschiedene Weisen verstanden werden:
Rezeption und Interpretation in neuen Kontexten: Endlers Texte können und sollten immer wieder neu gelesen und in Bezug zu aktuellen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklungen gesetzt werden. Was sagen sie uns über autoritäre Tendenzen heute? Welche Parallelen lassen sich zwischen seiner Kritik an der DDR und heutigen Debatten ziehen? Wie verhalten sich seine sprachlichen Experimente zu zeitgenössischen literarischen Strömungen?
Künstlerische Adaption und Transformation: Seine Texte könnten als Ausgangspunkt für neue künstlerische Arbeiten dienen. Man könnte sich vorstellen:
Theater- oder Hörspieladaptionen: Endlers Dialogwitz und seine skurrilen Figuren (wie Bubi Blazezak und Bobbi Bumke Bergermann) böten sich hervorragend für die Bühne oder das Hörspiel an.
Musikalische Vertonungen: Seine Lyrik könnte Komponisten inspirieren, neue musikalische Werke zu schaffen, die die Sprachrhythmen und Stimmungen Endlers aufgreifen.
Visuelle Kunst: Illustrationen, Kurzfilme oder andere visuelle Interpretationen könnten die oft surrealen und bildstarken Metaphern Endlers aufgreifen.
Interaktive Formate: In Zeiten digitaler Medien könnten Textfragmente Endlers in interaktive Formate überführt werden, die Leser*innen auf neue Weise mit seinem Werk in Kontakt bringen.
Wissenschaftliche Forschung und kritische Editionen: Die fortgesetzte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem Werk, inklusive historisch-kritischer Ausgaben, kann dazu beitragen, Endlers Texte noch tiefer zu erschließen und ihre Bedeutung für die Literaturgeschichte und darüber hinaus zu beleuchten. Die umfassende Werkausgabe seiner Gedichte (herausgegeben von Robert Gillett und Astrid Köhler) ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.
Inspiration für junge Autoren und Autorinnen: Endlers Eigensinn, seine formale Freiheit und sein kritischer Geist können eine wichtige Inspirationsquelle für junge Schriftsteller*innen sein. Sie können von ihm lernen, wie man eine eigene Stimme entwickelt und sich den Zumutungen der Zeit auf künstlerische Weise widersetzt.
Adolf Endler ist kein Autor, dessen Werk lediglich museal betrachtet werden sollte. Seine Fähigkeit, Komplexität zu erfassen, seine sprachliche Virtuosität und sein unbestechlicher Blick auf die Gesellschaft machen ihn zu einer Stimme, die auch heute noch relevant ist und vielfältige Impulse für das Denken und Schaffen geben kann. Das „Sirren“ in seinen Texten ist das anhaltende Echo einer einzigartigen Intelligenz und eines unverwechselbaren Geistes.
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