Eine Handreichung zum Finden von Musik zu Gedichten. Für alle, die glauben, dass ein Gedicht klingen kann – auch nach außen hin.
1. Nicht die Playlist, sondern das Echo suchen
Ein Gedicht wie „herbrig„ ist keine Liedvorlage und kein Musikvideo. Es ist ein „Echo-Raum“, der nach Resonanz sucht. Wer dazu Musik finden möchte, beginnt am besten nicht mit einer Streamingplattform, sondern mit dem Gedicht selbst: mit dem Hören, Lesen, Wiederholen.
2. Annäherung: Lesen, notieren, erinnern
Vor jeder musikalischen Suche steht die Auseinandersetzung mit dem Gedicht:
- Welche Stimmung herrscht vor? Kühl oder warm, leicht oder schwer?
- Welche Bewegung ist spürbar? Bleibt das Gedicht stehen oder strebt es irgendwohin?
- Welche Bilder fordern eine klangliche Antwort heraus (z. B. „Jesus im Regen“, „leerer Keller“, „der Hund heißt Elvis“)?
- Welches Tempo ist spürbar: fließend, stockend, tröpfelnd, schreitend?
Diese Eindrücke können notiert werden. Sie bilden ein inneres „Moodboard“ und geben Impulse für die musikalische Auswahl.
3. Zwei Wege zur passenden Musik
A. Suchen über digitale Plattformen
Plattformen wie Spotify, Apple Music oder YouTube können eine Hilfe sein, sofern man sie gegen ihre eigene Logik nutzt.
Statt nach Genres zu suchen, kann mit poetischen oder emotionalen Begriffen gearbeitet werden:
„nachdenkliche Kammermusik“
„melancholischer Jazz“
„minimalistisches Klavierstück“
„atmosphärische Cellomusik“
Beginnt man mit einem bereits bekannten Stück, das zur Stimmung passt, können automatische Vorschläge weiterführen. Dennoch empfiehlt es sich, die Auswahl gezielt zu treffen und nicht nur durchzuhören. (Mir persönlich dauert dieser Weg durch die eher allgemein gehaltenen Keywords zu lange.)
B. Musik entdecken über Sprache: der Umweg über Musikkritiken
Wer sich nicht auf die oft oberflächlichen Schlagwörter von Streamingdiensten verlassen möchte, kann gezielt nach sprachlichen Beschreibungen von Musik suchen – in Musikkritiken, Rezensionen oder Labeltexten. Sie arbeiten mit dichter Sprache, oft voller Bilder, die klangliche Qualitäten beschreibbar machen.
Diese Texte sind keine technischen Analysen, sondern poetische Annäherungen: Wenn eine Rezensentin ein Stück als „eine Erinnerung, die durchs Morgengrauen tropft“ beschreibt oder als „still gestaffelte Schatten in Moll“, dann können solche Formulierungen ein Türöffner sein – auch ohne Kenntnis der Komponistin oder Stilrichtung.
Empfehlenswerte Quellen:
- Feuilletons deutschsprachiger Tageszeitungen (z. B. NZZ, SZ, FAZ, ZEIT)
- Radiosender mit Musikarchiven (z. B. DLF Kultur, SWR2, BR Klassik)
- Labeltexte unabhängiger Musikverlage (z. B. ECM, Erased Tapes, Deutsche Grammophon)
Wer so vorgeht, entwickelt mit der Zeit auch ein Gespür für jene Sprache, die Klang übersetzt – und findet darüber auch zu Musikstücken, die außerhalb des Algorithmus liegen.
4. Klanglich kuratieren – nicht sammeln, sondern abgleichen
Hat man eine Auswahl getroffen, lohnt sich die gezielte Verbindung zur Lektüre:
- Passt dieses Musikstück zu einer bestimmten Strophe?
- Verändert es die Wahrnehmung des Textes?
- Eröffnet es neue Ebenen oder stört es eher?
Es geht nicht um eine vollständige musikalische Vertonung, sondern um Resonanz und atmosphärische Stimmigkeit.
5. Erweiterte Perspektiven: Stille, Geräusche, Feldaufnahmen
Manchmal braucht ein Gedicht keine komponierte Musik, sondern Raum:
- Naturgeräusche: Regen, Wind, Glocken, Schritte auf Kies
- Soundwalks: Draußen lesen, im eigenen Rhythmus, mit offener Wahrnehmung
- Archivaufnahmen: Alte Radiosendungen, Stimmen, Rauschen
Solche Klangquellen können vor allem Gedichten, die in Erinnerung, Landschaft und Zeit verankert sind, eine besondere Tiefe verleihen.
6. Erfahrungswissen – was sich im Tun aufbaut
Die bewusste Verbindung von Lyrik und Musik führt mit der Zeit zu einem besonderen, nicht quantifizierbaren Wissen: Erfahrungswissen.
- Es fördert die Sensibilität für Nuancen in Sprache und Klang.
- Es schafft ein inneres Archiv an Stimmungen, Texturen, Atmosphären.
- Es stärkt das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und die Offenheit für neue Verbindungen.
Dieses Wissen entsteht langsam und organisch. Es basiert nicht auf Fakten, sondern auf Resonanz, Wiederholung und Aufmerksamkeit. Es hilft, Gedichte nicht nur zu interpretieren, sondern sie wirklich zu hören. Und Musik nicht nur zu genießen, sondern sie als möglichen Resonanzraum für Sprache zu begreifen.
Diese Handreichung versteht sich als Einladung: zum bewussteren Hören, Lesen und Entdecken. Sie kann als Begleitung für den Unterricht, das literarische Schreiben, für Lesekreise oder die persönliche Lektüre genutzt werden.
Ausgangspunkt für diese Überlegungen ist der Soundtrack zum Gedicht „herbrig„von Nathalie Schmid, der sich beim Lesen recht schnell zwischen meinen Ohren einfand.
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