Interpretation zu Nathalie Schmids Gedicht „herbrig“
Nathalie Schmids Gedicht „herbrig“ ist ein poetischer Erinnerungsraum, der sich mit Vergänglichkeit, Heimatverlust und dem Bewahren des Alltäglichen beschäftigt. In einer fragmentarisch-assoziativen Struktur – typisch für zeitgenössische Lyrik – reiht die Autorin Bilder aneinander, die zwischen Melancholie und stillem Humor oszillieren. Jede Strophe beginnt mit dem Wort „bevor“, wodurch sich eine stetige Dringlichkeit aufbaut: Der Moment des Jetzt muss gewürdigt werden, ehe er unwiederbringlich verloren geht.
Bereits die erste Strophe gibt das Thema des Gedichts vor:
„bevor die weissen geranien welken / und die wehmut einkehrt / solange alles noch steht / muss ich es preisen“
Die weißen Geranien symbolisieren Schönheit und Vergänglichkeit, die „Wehmut“ kündigt den nahenden Abschied an. Das lyrische Ich erkennt die Notwendigkeit, das Bestehende zu preisen – als Geste des Festhaltens und der Wertschätzung des Gegenwärtigen, bevor es im Erinnern verblasst.
In der zweiten Strophe trifft Sakrales auf Profanes:
„bevor jemand am betonkreuz / auf dem hügel jesus abmontiert / im regen zwischen linden und / schafen hängt er gut“
Ein Betonkreuz mit Christusfigur auf einem Hügel verbindet religiöse Symbolik mit moderner Tristesse. Die Vorstellung, dass Jesus „abmontiert“ werden könnte, verweist auf den drohenden Verlust traditioneller Sinnbilder. Doch noch „hängt er gut“ – in einer fast idyllischen Szenerie zwischen Schafen und Linden. Der Regen deutet bereits an, dass dieses fragile Gleichgewicht ins Wanken geraten könnte – als Vorzeichen einer entzauberten Welt.
Die dritte Strophe lenkt den Blick auf Szenen aus dem ländlichen Alltag:
„sieht verkehrsschilder kommen / und gehen erste augustfeuer / massen kleiner mädchen auf dem weg / ins schwimmbad“
Die Christusfigur oder das lyrische Ich beobachten hier das Kommen und Gehen menschlicher Ordnungssysteme, repräsentiert durch Verkehrsschilder. Die „ersten Augustfeuer“ verweisen auf den Schweizer Nationalfeiertag – ein kollektives Ritual, das für Heimat und Tradition steht. Die „kleinen Mädchen auf dem Weg ins Schwimmbad“ symbolisieren Unschuld, Sommer und flüchtige Lebensfreude. Diese Szene wirkt wie eine Momentaufnahme im Übergang, eingebettet in einen kulturellen Kontext, der sich gleichzeitig festlich und brüchig zeigt.
In der vierten Strophe wird der Blick intimer und biografischer:
„bevor im keller der eltern / keine schachteln mehr stehn / und sie müde den garten ausräumen“
Hier wird der Keller zum Sinnbild eines Archivs privater Erinnerung. Mit dem Verschwinden der Schachteln endet auch ein Teil gelebter Geschichte. Die müden Eltern, die ihren Garten ausräumen, stehen für den Rückzug einer Generation. Die Strophe markiert einen Punkt, an dem familiäre Kontinuität zerfällt – leise, aber unausweichlich.
Die abschließende Strophe bringt das Gedicht auf eine persönliche, fast skurrile Ebene:
„muss ich noch einmal / mit den haflingern die auffahrt / nehmen mich mahnen: verlier zum tor / die fernbedienung nicht und nenn / den hund der nachbarn elvis“
Die Haflinger – Pferde aus dem Alpenraum – stehen für ländliche Kindheitserinnerung. Die „Auffahrt“ wird zur letzten Fahrt ins Erinnerte, zur rituellen Heimkehr. Die Mahnung, die Fernbedienung nicht zu verlieren, wirkt absurd banal – doch gerade darin liegt ihre Kraft: Im Kontrast zu existenziellen Themen wird das Alltägliche zum festen Anker. Auch der Hundename „Elvis“ ist eine skurrile, aber liebevolle Geste der Vertrautheit, die Nachbarschaft und Erinnerung miteinander verknüpft.
Der Titel „herbrig“ bleibt bewusst offen: Er könnte ein Eigenname, ein Ortsname oder eine Neuschöpfung sein – in jedem Fall verweist er auf einen konkreten Schauplatz des Erinnerns – so meine Wahrnehmung. Die lyrische Stimme fungiert als Chronistin des Verschwindenden. Mit Sensibilität benennt sie, was im Alltag übersehen wird, und macht es dadurch bedeutungsvoll.
Das Gedicht wird so zu einem lyrischen Memento mori der Gegenwart. Es kämpft mit Sprache gegen das Verblassen dreier Sphären:
- Natur (welkende Geranien, Schafe),
- Tradition (Betonkreuz, Augustfeuer),
- Privatheit (Elternhaus, Nachbarschaft).
Die Spannung zwischen Sakralem und Profanem – etwa zwischen Jesus und Verkehrsschildern – wird zum Bild für eine Welt, die ihre symbolischen Ordnungen verliert. Doch im Banalen – der Fernbedienung, dem Hund „Elvis“ – liegt eine stille Würde: Das Benennen wird zum poetischen Akt der Rettung.
In ihrer zurückhaltenden, fragmentarischen Sprache gelingt es Nathalie Schmid, die Tiefe familiärer, kultureller und persönlicher Brüche sichtbar zu machen, ohne in Klage zu verfallen. Vielmehr ist „herbrig“ ein liebevoller, leicht melancholischer Versuch, das zu preisen, was noch da ist – im Wissen darum, dass es bald verschwunden sein wird. Es ist ein Ritual des Bewahrens, ein poetisches Innehalten im Fluss der Zeit.
Die Musik zum Gedicht
„herbrig“ entfaltet für mich eine stille, filmische Kraft – wie eine Abfolge zarter Bilder im Übergang. Dazu ist mir eine Auswahl von Musikstücken eingefallen, die das Gedicht atmosphärisch begleiten – eine Art persönlicher Soundtrack.
Klassische Musik
Arvo Pärt – „Spiegel im Spiegel“
Minimalistisch, meditativ, voller Leere und Weite.
Passt hervorragend zur ruhigen, kontemplativen Grundstimmung des Gedichts.
Die Einfachheit der Musik spiegelt das stille „Preisen“ wider.
Gustav Mahler – Adagietto aus der 5. Sinfonie
Ausdruck tiefer Melancholie, aber mit einem leisen Hoffnungsschimmer.
Thematisch passend zum Abschied von Elternhaus, Kindheit und Tradition.
Franz Schubert – „Im Abendrot“ (aus den Liedern nach Rellstab)
Eine romantische Vertonung von Vergänglichkeit und Naturerleben.
Besonders geeignet, wenn du die Naturbilder (Geranien, Schafe, Regen) hervorheben willst.
Claude Debussy – „Rêverie“ oder „Clair de Lune“
Träumerisch, leicht entrückt, mit zartem Humor.
Könnte gut zu den skurrileren Momenten passen („Hund der Nachbarn heißt Elvis“).
Jazz
Bill Evans – „Peace Piece“
Ein ruhiges, fast meditatives Klavierstück.
Ideal als musikalischer Spiegel für Erinnerung, Zerbrechlichkeit und Innenwelten.
Keith Jarrett – „The Köln Concert“ (v.a. der erste Teil)
Improvisation als Form des Erinnerns.
Weich, fließend, teilweise hymnisch, dann wieder zurückgenommen – wie das Gedicht selbst.
Miles Davis – „Blue in Green“ (aus Kind of Blue)
Melancholie trifft auf Eleganz.
Sanft und introspektiv, perfekt für die Stimmung von „herbrig“.
Jan Garbarek – „In Praise of Dreams“
Eine Mischung aus Jazz, Klassik und nordischer Klanglandschaft.
Atmosphärisch, entrückt, gleichzeitig sehr konkret – wie ein Soundtrack zu verlorenen Orten.
Dieses Gedicht habe ich gefunden in:
Die Kindheit ist eine Libelle (Gedichte)
Nathalie Schmid
Edition Isele, Eggingen – Neuauflage 2023
ISBN: 978-3-86142-647-9
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