Nathalie Schmid - im namen der eisheiligen - Atlantis lokalisieren

die namen der eisheiligen

Annähernd gelesen | Nathalie Schmids Gedicht „die namen der eisheiligen“ ist eine dichte lyrische Miniatur, die existenzielle Verlusterfahrung in einer poetischen Collage aus Stadt- und Naturbildern verarbeitet. In freier Form, ohne Satzzeichen oder konventionelle Struktur, oszilliert das Gedicht zwischen Bewegung und Erstarrung, zwischen Geräuschkulisse und sprachloser Introspektion. Es thematisiert das Ringen um Orientierung in einem emotional zerrissenen Raum und erzeugt durch seine Fragmentarität einen Zustand der Schwebe – zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Nähe und Entfremdung, Erkenntnis und Verdrängung.

Wind und Verbindung: Verlust als Bewegung ins Unbestimmte

Schon die Eingangsverse „auf der terrasse treibt der wind / blätter und kleine reste einer seilbahn“ etablieren den Wind als Symbol für Vergänglichkeit, als ungerichtete Kraft, die Spuren der Vergangenheit fortträgt. Doch besonders die „kleinen reste einer seilbahn“ sind ein aufschlussreiches Bild: Seilbahnen überwinden Distanzen, ermöglichen Verbindung – hier bleiben nur Fragmente, Zeichen einer gescheiterten Überbrückung. Der Wind trägt sie weiter „in unbestimmte ferne und an kalte geländer“ – eine Bewegung in Richtung Entfremdung. Die „kalten Geländer“ stehen sinnbildlich für eine Welt, die zwar Halt bietet, aber keine Wärme – Sicherheit ohne Geborgenheit, Struktur ohne Empathie.

Körperliche Erinnerung: Bitterkeit der Nähe

In der Zeile „an deinen fingerspitzen der bittere geschmack / von tabak“ wird Verlust körperlich spürbar. Der Geschmack an den Fingerspitzen verweist auf Intimität und Gewohnheit, aber auch auf etwas, das verbleibt, obwohl es vergangen ist – wie der Geruch von Rauch, der nach dem Verlassen eines Raumes noch in der Kleidung haftet. Der „bittere Geschmack“ ist Rückstand einer Verbindung, die nicht mehr existiert. Im Kontrast dazu steht der „geöffnete Mohn“, der – wie von beiden Interpretationen betont – gleichzeitig Schönheit und Vergänglichkeit, aber auch Vergessen symbolisiert. Doch das Gedicht scheint diesen Trost zu verweigern: Das lyrische Ich erlebt die Vergänglichkeit nicht als Befreiung, sondern als quälendes Erinnern.

Die Eisheiligen: Verlorene Ordnung, bleibende Kälte

Der Titel des Gedichts, „die namen der eisheiligen“, entfaltet seine ganze Bedeutung in den Versen „und die eisheiligen sich dunkel / verzogen haben“. Die Eisheiligen markieren normalerweise das Ende einer frostigen Periode im Frühling – ein Hoffnungsmoment. Doch hier verzieht sich die Kälte nur „dunkel“, bleibt spürbar als unsichtbare Bedrohung. Die ersehnte Erneuerung bleibt aus, die emotionale Starre bleibt bestehen. Diesem Zustand steht die Welt der Kinder gegenüber: „es rufen sie die kinder / ihre stimmen hell und noch in strophen“. Das Adverb „noch“ ist entscheidend – es zeigt, dass auch diese Ordnung, dieses spielerisch-rezitierende Erfassen der Welt, vergänglich ist. Die Erwachsenenwelt hingegen ist fragmentiert, zerfallen in Geräusche und Bedeutungsreste.

Kaffeesatz, Licht und Lärm: Die Unmöglichkeit der Deutung

Mit der Zeile „kaffeesatz in deinen gedanken“ verdichtet sich die existenzielle Krise: Das lyrische Ich sucht Sinn im Undeutbaren, wie eine Wahrsagerin im Kaffeesatz. Die Frage „warum wachsen diese stauden nicht“ wirkt beinahe verzweifelt – das Leben verweigert sein Wachstum, Hoffnung bleibt aus. Dies verstärkt sich im klimaktischen Bild:

„warum bricht / das festgebrannte licht das rauschen der / strasse das rauschen der häfen das / trampeln auf pfaden das donnern nicht“

Hier treffen sich zwei Deutungsebenen: Einerseits ist das „festgebrannte Licht“ gescheiterte Erkenntnis, die die unaufhörliche Geräuschkulisse der Welt nicht durchdringen kann. Andererseits kann das Licht auch als starrer Schmerz gelesen werden, eine bleibende Präsenz, die das Ich lähmt. In beiden Fällen bleibt das „rauschen“ – der Lärm der Außenwelt, der Trubel des Lebens – ungebrochen, als Zeichen einer Welt, in der sich innerer Stillstand und äußere Bewegung unvereinbar gegenüberstehen.

Schlussbild: Schuld, Sprachlosigkeit und das Unausgesprochene

Im letzten Abschnitt des Gedichts kulminieren die zuvor entwickelten Motive:

„bitter auch dein letzter streit und / wie du hast fortwehen lassen was / noch zart und ohne worte war“

Der letzte Streit ist wie der Tabak bitter – Erinnerung an Nähe, die in Konflikt mündete. Die Wendung „hast fortwehen lassen“ zeigt Verantwortung, vielleicht Schuld: Das Ich hat nicht gehalten, was „zart und ohne worte“ war – eine Verbindung, noch unausgesprochen, noch werdend. Es ist der Verlust eines Potenzials, das nicht zur Sprache kam, nicht zur Reife. Hier verbinden sich zwei Sichtweisen: Das bewusste Loslassen (Versagen) trifft auf das Tragische des Ungesagten (Verlust durch Sprachlosigkeit). Die Kälte war nicht nur von außen, sondern Teil des eigenen Handelns.

Die Poetik des Fragmentarischen

Wie beide Interpretationen betonen, lebt Schmids Gedicht von seiner Andeutung, seiner Struktur des Fragments. Es spricht nicht „aus“, sondern „an“ – es tastet sich an Bedeutungen heran, bleibt offen, elliptisch, zögernd. Der „Rest einer Seilbahn“ wird so zum poetologischen Symbol: Eine zerbrochene Verbindung, deren Fragmente noch durch den Text treiben, wie Blätter im Wind.

Die Eisheiligen stehen in diesem Kontext nicht nur für die letzten kalten Tage des Frühlings, sondern für alle Ordnungen und Namen, auf die wir hoffen – seien es Liebesbeziehungen, Erinnerungen, Neubeginne – und deren Versprechen im „dunklen Verzug“ der Realität zerbrechen. Was bleibt, ist das Rauschen, der bittere Nachgeschmack vergangener Nähe – und die Trauer um das, was hätte werden können.


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