Der Künstler als Versuchsanordnung und Schaustück?
Auf den ersten Blick scheint Annette Hagemanns Gedicht ARTIST ein feines, fast ehrfürchtiges Porträt eines schöpferischen Menschen zu sein – eines, der sich einen Raum erbittet, um seine Arbeit zu tun:
„Du hattest um den Geheimnisraum gebeten, das Innere des Turms ein leuchtender Lichthof …“
Ein Bild der Sammlung, der Konzentration.
Der „Lichthof“ wirkt wie eine Metapher der Inspiration, der Künstler ein Suchender, der Fragmente der Welt in diesen Innenraum trägt, um sie zu ordnen, zu verstehen, zu verwandeln.
Er wirkt wie jemand, der dem Geheimnishaften auf der Spur ist – das Licht als Erkenntnisquelle, der Turm als Symbol für Einsamkeit und Schutz.
Diese erste Leseschicht lässt das Gedicht als eine Hommage an die schöpferische Arbeit erscheinen: die Hingabe, das geduldige Zueinandersetzen von Dingen, das Ringen um Bedeutung.
Auch die Sprache scheint das zu stützen: „Galerie“, „Lichthof“, „mehrschichtige Fotografien“ – das klingt nach Werkstatt, nach Kunst und Disziplin.
Doch kaum taucht man tiefer ein in den Text, beginnen diese Wörter zu kippen.
„Apportieren“ – dieses eine Wort ist der Bruch. Es gehört nicht in die Sprache der Kunst, sondern in die des Tiertrainings.
Der Künstler bringt seine Funde nicht „herbei“, er apportiert sie – wie ein Hund, der auf Befehl Beute bringt.
Damit verändert sich der Blick.
Plötzlich ist dieser „Geheimnisraum“ kein romantischer Ort mehr, sondern ein Versuchslabor.
Die Sprecherin (oder Beobachterin) richtet das Wort „Du“ auf den „Artist“ wie ein Forscher auf ein Versuchstier.
Ihre Sprache ist kühl, präzise, durchzogen von einem sachlichen Rhythmus: nummerieren, rekonstruieren, illustrieren.
Alles wirkt wie eine Dokumentation, nicht wie Bewunderung.
Erste Leseschicht: Das Künstlerideal
Im Vordergrund zeigt sich eine Gestalt, die sich ganz der Kunst hingibt – leidend, entbehrend, getrieben vom Wunsch, die Wirklichkeit zu fassen.
„Du wolltest die Tröpfchen aus einer beliebigen Wolke sammeln …“
Ein unmögliches Unterfangen – poetisch, aber auch absurd.
Hier erscheint der Künstler als Suchender zwischen Traum und Erkenntnis, als jemand, der bereit ist, sich selbst zu opfern, um etwas Wahrhaftiges zu schaffen.
Er lebt von „Luft, weißem Joghurt und blanker Leidenschaft“ – die asketische Reinheit des schöpferischen Daseins.
Diese Lesart ist verführerisch: Sie erzählt von Hingabe, von der einsamen Größe der Kunst.
Doch sie ist nur die Oberfläche.
Zweite Leseschicht: Der Artist in der Manege
Sobald man den Titel ernst nimmt, öffnet sich eine andere Bedeutungsebene.
„Artist“ heißt nicht einfach „Künstler“ – es ist das französische Wort für Zirkusartist, für jemanden, der Kunststücke zeigt, sich exponiert, Risiken eingeht – zur Unterhaltung anderer.
Aus dieser Perspektive verwandelt sich der ganze Text:
Der „Lichthof“ wird zur Manege, das „Apportieren“ zum Dressurakt, die „Beinahedokumente“ zu Schaustücken, die Beobachter zu Publikum.
Der Künstler ist nicht mehr der schöpferische Geist, sondern das Objekt einer Inszenierung, ein Wesen unter Beobachtung, das in einer künstlichen Versuchsanordnung agiert.
Auch die Zeitform unterstützt diesen Eindruck: Das Gedicht steht im Präteritum – es blickt zurück, als ob das Experiment bereits beendet wäre, der Artist vielleicht verschwunden oder gescheitert.
„Du wolltest… du musstest… du illustriertest…“
Das klingt wie die Aufzählung eines Protokolls.
Das „Du“ ist distanziert, kühl, vielleicht sogar ironisch – kein Lob, sondern eine Analyse.
Selbst der Ruhm, von dem am Ende die Rede ist, hat einen bitteren Beigeschmack:
„…bis zum Ruhm. Und danach – wer weiß, ob du dann überhaupt noch schlucken könntest.“
Der Ruhm ist nicht Erlösung, sondern Verstummen. Der Künstler ist verschlissen, ausgebrannt, unbrauchbar geworden.
Das Ende: Kunst als biologische Probe
Im letzten Abschnitt wird der Gedanke radikal:
„…um zu sehen, ob es unter diesen ganz und gar erfundenen Bedingungen überleben würde. Wenn ja, wäre es eine neue Spezies und wir würden sie vermutlich nach dir benennen.“
Hier schließt sich der Kreis. Der Künstler, der einst Schöpfer sein wollte, wird selbst zum Gegenstand einer Schöpfung – zum Objekt seiner eigenen Versuchsanordnung.
Das Gedicht entlarvt damit die moderne Künstlerfigur als Teil eines Systems von Beobachtung, Bewertung und Verwertung.
Die Ironie ist bitter: Der „Artist“, der alles riskiert, um das Wirkliche zu verwandeln, wird selbst zum Kunstprodukt, zum Namen, zur Gattung.
Kunst wird so zur Biologie des Symbolischen: Alles, was überlebt, trägt den Namen seines Schöpfers – und löscht ihn zugleich aus.
Einordnung
Annette Hagemann gelingt mit ARTIST eine doppelte Bewegung:
Sie entwirft das Bild des schöpferischen Menschen, um es im selben Atemzug zu zersetzen.
Das Gedicht schwankt zwischen Bewunderung und Analyse, zwischen Mythos und Protokoll.
Es zeigt, dass der Künstler – ob Maler, Dichter, Performer – nie nur Schöpfer ist, sondern immer auch Exponat seiner eigenen Existenz.
Vielleicht ist das der eigentliche Kern dieses Gedichts:
Kunst bedeutet, sich selbst auszusetzen – und nie zu wissen, ob man dabei gerade etwas erschafft oder bereits vorgeführt wird.
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