vergänglich und beharrlich

Die Schlange glitt davon,
doch ihre Augen
blieben im Gras.

Takahama Kyoshi
[1874 – 1959] war ein japanischer Dichter und Schriftsteller.

Haikus arbeiten oft mit präzisen Naturbildern, um eine Stimmung oder einen Augenblick einzufangen. Der „Sinn“ ist dabei meist nicht explizit, sondern entsteht durch die Assoziationen, die die Bilder wecken. Hier eine Annäherung an den Dreizeiler:

Struktur und Bildsprache

Das Haiku folgt der klassischen Dreiteilung:
Erste Zeile: Eine Bewegung („glitt davon“) – die Schlange verschwindet.
Zweite/Dritte Zeile: Ein Kontrast – etwas bleibt zurück („Augen im Gras“).

Die Spannung zwischen Vergänglichkeit (die Schlange entzieht sich) und Beharrlichkeit (die Augen bleiben) ist zentral. Das Hintergründige, Unfassbare der Schlange wird durch die zurückgelassenen Augen betont – fast, als ob ihre Präsenz noch spürbar ist, obwohl sie physisch fort ist.


Mögliche Metaphern

Die Augen als Symbol: Sie könnten für Wachsamkeit, Bedrohung oder das Unheimliche stehen, das auch nach dem Verschwinden der Schlange „im Gras lauert“.
Das Gras: Ein Ort des Verbergens, der Natur, aber auch der Vergänglichkeit (es wächst, bewegt sich, verdeckt).
Die Schlange: Ein archetypisches Symbol für Verwandlung (Häutung), Gefahr oder auch heimliche Schönheit.

Interessant ist die Trennung von Körper und Blick: Die Augen wirken wie eigenständige Wesen, die den Betrachter*innen weiterhin „beobachten“. Das schafft eine unheimliche, fast surreale Atmosphäre.


Haiku-typische Offenheit

Im Haiku geht es selten um eine eindeutige „Botschaft“, sondern um die Evokation von Stimmung und Resonanz. Die zurückbleibenden Augen könnten auch als Einladung gelesen werden, über das Nachwirken von Begegnungen nachzudenken – was bleibt, wenn etwas (oder jemand) verschwindet? Ein Eindruck? Eine Erinnerung? Eine ungelöste Spannung?


Fragen zur Vertiefung

– Wie wirkt das Bild auf dich persönlich? Fühlst du dich beobachtet, verunsichert, fasziniert?
– Was assoziierst du mit Schlangen – ist es Angst, Respekt, Neugier?
– Könnten die „Augen im Gras“ auch etwas Positives symbolisieren (z.B. Wachsamkeit der Natur)?


Haikus leben von der Mehrdeutigkeit – gerade das macht sie stark! Es lässt Raum, dass jeder & jede die zurückgelassenen „Augen“ anders deutet: als Bedrohung, als mystisches Naturphänomen oder sogar als Metapher für etwas, das uns „im Leben“ immer wieder verfolgt. Und manchmal reibt man sich die Augen, weil man einen Fremdkörper darin vermutet.

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