In einer Welt, die plötzlich stillstand, fand Carolin Emcke Worte für das Unsagbare. Ihr „Journal – Tagebuch in Zeiten der Pandemie“ (2020) ist mehr als eine Chronik der ersten Covid-19-Monate – es ist ein seismografisches Werk, das die Erschütterungen einer globalen Krise einfängt und zugleich universelle Fragen über Menschlichkeit, Angst und Zusammenhalt stellt. Emcke, preisgekrönte Publizistin und scharfe Analytikerin gesellschaftlicher Umbrüche, wagt hier etwas Unerwartetes: Sie blickt nach innen und teilt ihre privatesten Zweifel, Ängste und Hoffnungen.
Ein Tagebuch als Spiegel kollektiver Erfahrungen
Vom März bis Juni 2020 dokumentiert Emcke in fragmentarischen Einträgen, wie die Pandemie nicht nur den öffentlichen Raum, sondern auch das private Innenleben verwüstet. Ihre Berliner Wohnung wird zum Mikrokosmos einer paralysierten Welt: Hier beobachtet sie, wie sich Zeit anfühlt, wenn Pläne zerbrechen – mal dehnt sie sich gummiartig, mal rast sie unerbittlich voran. Die Autorin, sonst als Reisende und politische Beobachterin unterwegs, wird zur Zeugin ihres eigenen Stillstands.
Doch Emcke bleibt nie im Persönlichen stecken. Mit der Präzision einer Philosophin und der Empathie einer Chronistin verwebt sie Alltagsbeobachtungen – leere Supermarktregale, distanzierte Begegnungen im Park – mit existentiellen Reflexionen. Wie entsteht Solidarität, wenn Berührung verboten ist? Kann Kunst ein Rettungsanker sein, wenn die Realität unerträglich wird? Ihre Gedanken spannen einen Bogen von Hannah Arendts Analysen totalitärer Systeme bis zu James Baldwins Betrachtungen über gesellschaftliche Ohnmacht.
Themen, die an die Haut gehen
Im Herzstück des Buches pulsiert die Auseinandersetzung mit Angst – nicht als abstraktes Konzept, sondern als körperliche Erfahrung: „Angst ist nicht einfach nur ein Gefühl. Es ist eine Kraft, die uns entweder lähmen oder zu Handlungen inspirieren kann.“ Emcke seziert diese Ambivalenz: Wie verwandelt man lähmende Beklemmung in produktive Wachsamkeit?
Ebenso eindringlich ist ihre Erkundung der Zeit. Die Pandemie, so zeigt sie, entlarvt die Illusion von Kontrolle über unser Dasein. In einem ihrer eindrücklichsten Vergleiche wird die Krise zum Brennglas: Sie vergrößert, was wir verdrängen – die Zerbrechlichkeit von Beziehungen, die Ungleichheit im Zugang zu Schutz, die Sehnsucht nach Gemeinschaft.
Doch Emcke wäre nicht Emcke, würde sie nicht das Politische im Persönlichen aufspüren. Wenn sie von ihrer Einsamkeit im Homeoffice erzählt, wird darin das Schicksal aller sichtbar, die ohne sicheres Zuhause die Lockdowns überstehen mussten. Ihr Appell für Solidarität – „eine Praxis, die von uns verlangt, uns umeinander zu kümmern“ – wirkt wie ein Gegenmittel zur Vereinsamung.
Kunst als Überlebensmittel
Besonders reibend sind die Passagen, in denen Emcke die rettende Kraft der Kunst beschwört. Ob sie über Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ sinniert oder über die tröstende Kraft von Musikplaylists – stets zeigt sie: „Kunst ist nicht nur ein Luxus. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein.“ In ihrer Schilderung eines abendlichen Klavierkonzerts, das Nachbarn aus offenen Fenstern lauschen, verdichtet sich die Essenz des Buches: Schönheit als Akt des Widerstands.
Ein Buch, das bleibt
Carolin Emckes „Journal“ ist keine pandemische Momentaufnahme, sondern ein zeitloses Dokument menschlicher Resilienz. Was zunächst als Tagebuch einer Ausnahmesituation beginnt, entpuppt sich als Handbuch für den Umgang mit Ungewissheit – sei es in Gesundheitskrisen, politischen Umwälzungen oder persönlichen Brüchen.
Mit poetischer Dichte und intellektueller Schärfe gelingt Emcke hier etwas Seltenes: ein Text, der gleichzeitig verwundbar und kraftvoll, privat und universell ist. Wer sich auf diese Reise durch die Abgründe und Lichtmomente der Pandemie einlässt, wird am Ende nicht nur Emckes Welt besser verstehen – sondern auch die eigene.
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