Franz Hohler - Das Päckchen

Das Päckchen – Franz Hohler

Franz Hohler, der Schweizer Meister der leisen Töne, entführt uns in seinem 2017 erschienenen Roman Das Päckchen (Luchterhand Literaturverlag) auf eine Reise durch Zeit und Verantwortung. Die Geschichte ist mehr als nur eine spannende Quest (So bezeichnet von der hiesigen Bibliothekarin im Schulzentrum) – es ist eine Parabel über kulturelles Erbe, historische Schuld und die unerwartete Macht kleiner Gesten.

Vom unscheinbaren Fund zur existentiellen Mission

Der Kern des Romans ist so unscheinbar wie sein Titel: Bibliothekar Ernst Stricker erhält in einer Berner Telefonzelle zufällig ein mysteriöses Päckchen von einer verängstigten Seniorin. Doch im Gegensatz zur Baustein-Version öffnet er es sehr wohl – und entdeckt eine mittelalterliche Handschrift: den verschollenen „Abrogans“, das älteste Buch deutscher Sprache. Dieses Päckchen wird zum Katalysator, der ihn mit dem Schicksal des Mönchs Haimo aus dem 8. Jahrhundert verbindet. Haimo scheiterte einst daran, diese Schrift nach Montecassino zu bringen – nun wird Stricker zum Erfüller einer 1200-jährigen Mission.

Das Manuskript als Schicksalsbote

Das Päckchen symbolisiert hier nicht Hoffnung auf Neuanfang, sondern die Last der Vergangenheit. Seine physische Präsenz – „rissiger Ledereinband, Geruch vergangener Zeit“ – transformiert Strickers Leben vom „wohlorganisierten Mann“ zum notorischen Lügner auf riskanter Reise. Die Ungewissheit, ob er Haimos Schicksal teilen wird, verleiht dem Roman seine existenzielle Spannung. Jede Station seiner Flucht vor Dieben und eigenen Gewissenskonflikten beleuchtet seine innersten Ängste und Wünsche. Hohler erzählt dies mit feinem Gespür für menschliche Absurditäten und zarter Melancholie.

Der Bibliothekar: Hüter des Wissens im Strudel der Geschichte

Die Rolle des Bibliothekars ist hier zentral und ambivalent: Ernst Stricker ist kein passiver „weiser Mann“, sondern ein Anti-Held im Kampf gegen historisches Unrecht. Als Hüter des Wissens erkennt er die Bedeutung des Manuskripts sofort – „Bibliotheken sind das Gedächtnis der Menschheit“ (Hohler) – doch die Bibliothek wird ihm zum Ausgangspunkt einer lebensgefährlichen Odyssee. Seine anfängliche rationale Welt bricht zusammen, als er die Handschrift als „Botens aus einer anderen Zeit“ begreift. Erst durch diese Demütigung vor dem kulturellen Erbe (Abrogans = Demut) findet er zu einer neuen Form der Verbindung: Am Ende vollendet er nicht nur Haimos Mission, sondern wird auch Vater einer Tochter Maria – ein symbolischer Kreisschluss.

Hohlers Philosophie: Geschichten als Brücken

Zitate des Autors unterstreichen dies: „Ich schreibe, weil ich die Welt begreifen will. Und weil ich hoffe, dass meine Geschichten auch andere dazu bringen, sich der Welt zu öffnen.“ Diese Haltung prägt den Roman. Das verschollene Manuskript wird zum Medium, durch das Vergangenheit gegenwärtige Leben prägt – eine „sehr alte Rechnung“ (Hohler) wird durch Strickers Opfergang beglichen. Die anfänglich kleine Geste der Päckchen-Übergabe entpuppt sich als Initialzündung für eine Reise, die Isolation durchbricht und historische wie persönliche Schicksale verwebt.

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