Annäherung an Ille Chamiers „das kaputte Salzfaß wird behandelt wie ein heiliger Topf“
Manchmal ist es ein einziger Satz, der innehalten lässt, irritiert und zum Nachfassen einlädt. Ille Chamiers Zeile „das kaputte Salzfaß wird behandelt wie ein heiliger Topf“ aus ihrem 1980 erschienenen Lyrikband Tagtexte ist so ein Fall. Beim ersten Lesen habe ich mich gefragt: Ist das schon ein Gedicht? Es scheint all das zu fehlen, was man gemeinhin von Lyrik erwartet: Reim, Rhythmus, ausdrucksstarke Bilder oder große Gefühle. Stattdessen steht da ein knapper, scheinbar schlichter Satz.
Doch gerade in dieser Reduktion liegt sein Reiz. Die Irritation entsteht aus dem schroffen Gegensatz, den Chamier hier inszeniert: Da ist das kaputte Salzfass, ein banaler Alltagsgegenstand, dessen Wert und Funktion erloschen sind, etwas, das man üblicherweise entsorgt. Und dem gegenüber steht der heilige Topf, ein Objekt von besonderer, ja sakraler Bedeutung, fast unantastbar und verehrungswürdig, vergleichbar mit einem kostbaren Kultobjekt.
Der entscheidende Aspekt ist die Handlung, die durch die Passivkonstruktion „wird behandelt wie“ beschrieben wird. Es geht weniger um das, was die Dinge an sich sind, sondern vielmehr darum, wie Menschen mit ihnen umgehen, welchen Wert sie ihnen zuschreiben. Der Satz deutet an, dass etwas Alltägliches, sogar Defektes, plötzlich mit derselben Ehrfurcht und Sorgfalt behandelt wird wie etwas Heiliges.
Diese Gegenüberstellung wirft Fragen auf: Warum behandeln Menschen ein kaputtes Salzfass wie ein Heiligtum? Was verleiht Dingen – oder auch Ideen – ihren Wert? Ist es der Gegenstand selbst, seine Funktion oder unsere bloße Gewohnheit und die Rituale, die wir damit verbinden? Chamier lenkt den Blick darauf, dass der Wert oft nicht im Ding selbst liegt, sondern in der Art und Weise, wie wir es behandeln oder welche Bedeutung wir ihm zuschreiben. Es kann als Hinweis verstanden werden, wie wir manchmal auch Dingen oder Ideen Bedeutung beimessen, die sie objektiv betrachtet vielleicht gar nicht verdienen.
Gerade weil dieser Satz mit den üblichen Erwartungen an Lyrik bricht, entfaltet er seine Wirkung. Als erster Text in Chamiers Tagtexte dient er möglicherweise als programmatischer Auftakt. Er signalisiert: Hier wird Sprache anders genutzt, es geht nicht um klassische „schöne“ Lyrik. Stattdessen wirkt er wie ein kurzer Gedankenblitz, ein prägnanter Aphorismus. Zugleich ist es ein Sprach-Experiment, dessen Wirkung allein durch den scharfen Kontrast der Worte und den nüchternen, fast berichtenden Ton („wird behandelt“) entsteht. Es lädt uns ein, die folgenden Texte des Bandes mit einer neuen Aufmerksamkeit zu lesen, hinter die Oberfläche zu blicken und über Sprache, Bedeutung und das Alltägliche nachzudenken.
Ein Statement seiner Zeit?
Die Veröffentlichung um das Jahr 1980 platziert Chamiers Einzeiler in eine Zeit des kulturellen Umbruchs, in der viele Künstler und Schriftsteller begannen, mit Sprache zu experimentieren und vertraute Vorstellungen zu hinterfragen. Es war eine Ära, in der Skepsis gegenüber festgefahrenen Ritualen und etablierten Bedeutungszuschreibungen wuchs. Chamiers Hintergrund als Tänzerin (sie studierte unter anderem bei Pina Bausch) und Dramaturgin mag ihre präzise und verdichtete poetische Haltung beeinflusst haben. Ähnlich wie eine einzelne Geste im Tanz eine ganze Erzählung komprimieren kann, verdichtet sie hier eine Weltsicht in einer einzigen, gezielten Gegenüberstellung.
Zusammengefasst: Ille Chamiers Einzeiler ist kein Gedicht im traditionellen Sinne. Es ist vielmehr ein prägnantes Sprachkunststück, dessen Stärke nicht in klassischer Schönheit oder gefühlvollem Ausdruck liegt. Seine Kraft entfaltet sich in der klugen und zugleich irritierenden Gegenüberstellung: Das scheinbar Wertlose wird wie etwas Heiliges behandelt. Dieser eine Satz regt zum Nachdenken an – über unsere Gewohnheiten, über die wahre Bedeutung der Dinge und darüber, wie wir selbst die Welt um uns herum bewerten. Er öffnet die Tür zu größeren Fragen und macht ihn als Auftakt eines Gedichtbands so bemerkenswert.
Was denken Sie, welche Alltagsgegenstände in unserer heutigen Zeit ähnlich „heilig“ behandelt werden könnten, obwohl sie vielleicht kaputt oder überholt sind?
Auf Seite 31 greift die Autorin das Motiv des Salzfasses wieder auf. Dieses Mal erkennbar als Gedicht und mit einem anderen Motiv: „aber das kaputte Salzfaß„
Quelle des Gedichtes: Ille Chamier – Tagtexte
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Von
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Der eine Satz
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