Guido Zernatto Gebet

Guido Zernatto || Gebet

Ich bete zu Gott, weil in seiner Hand
Mein Sein ist, mein Leib, mein Gefühl, mein Verstand,
Mein Hoffen, mein Trachten zu jeglicher Stund
Und ohne ihn redet kein Wörtlein mein Mund.

Ich bete zu Gott, weil das Firmament
Kein Licht und kein Lebendsein ohne ihn kennt;
Ohne ihn steigt kein Tag auf den Bergen ins Licht,
Ohne ihn ist kein Mittag und Abendzeit nicht.

Ich bete zu Gott, weil ich dasteh und schau
Und begreif und andächtig den Boden bebau,
Weil ich weiß, daß ich ohne sein Gnad und Gewähr
Nicht Licht hätt und tot wie ein Ackerstein wär.

1930er Jahre

Guido Zernatto (* 21. Juni 1903 in Treffen; † 8. Februar 1943 in New York City, USA) war ein österreichischer Schriftsteller und Politiker.

Annähernd gelesen | Das Gedicht von Guido Zernatto (1930er Jahre) beschreibt die völlige Abhängigkeit des lyrischen Ichs von Gott.

  • Strophe 1: Alles Persönliche – Körper, Gefühle, Verstand, Hoffnung, Handeln, Sprache – wird als in Gottes Hand liegend beschrieben.
  • Strophe 2: Auch die Natur – Himmel, Licht, Tageszeiten – existiert nicht ohne Gott.
  • Strophe 3: Der Mensch kann nur sehen, verstehen, arbeiten und leben, weil Gott ihm Gnade gibt; ohne ihn wäre er leblos wie ein Stein.

Aus dem Gedicht spricht eine Sicht, in der Gott Ursprung, Erhalter und Garant allen Seins ist – sowohl individuell als auch kosmisch.

Christlich-theologische Perspektive
In der christlichen Tradition gilt Gott als jemand, der in Beziehung zu den Menschen treten will. Gebet ist erwünscht, nicht weil Gott es „braucht“, sondern weil es Ausdruck von Liebe, Vertrauen und Gemeinschaft ist. Es wird als Antwort des Menschen auf Gottes Handeln verstanden und als Teil einer lebendigen Beziehung.

Philosophisch-neutrale Perspektive
Aus rein vernunftgeleiteter Sicht könnte ein vollkommenes Wesen weder Bedürfnis noch Mangel haben, also auch kein Gebet „brauchen“. Gebet wäre dann vor allem für den Menschen selbst wirksam – als Mittel zur Selbstbesinnung, moralischen Ausrichtung oder inneren Ruhe – unabhängig davon, ob ein Gott es hört oder will.

Fragen zur Selbstklärung
Die eigene Position hängt von Grundannahmen über Gottes Natur, vom Verständnis von Gebet und seiner Wirkung sowie von der Einschätzung ab, ob und warum Gott menschliche Zuwendung „wollen“ könnte. Der Fragenkatalog oben hilft, zwischen einer beziehungsorientierten und einer menschenzentrierten Sicht einzuordnen, wo man selbst steht.

Fragenkatalog zur eigenen Position

A. Grundannahmen über Gott

  • Glaube ich an einen Gott?
  • Wenn ja, wie stelle ich ihn mir vor – persönlich, unpersönlich, Schöpfer, Energie, etwas anderes?
  • Wenn Gott vollkommen ist – könnte er überhaupt etwas „brauchen“ oder „wollen“?

B. Gebet und Beziehung

  • Sehe ich Gebet als Gespräch mit jemandem oder als inneren Monolog?
  • Ist Gebet für mich eher eine Pflicht, ein Bedürfnis, oder eine spontane Regung?
  • Brauche ich es, dass Gott mich „hört“, oder reicht es mir, dass ich selbst innerlich spreche/denke?

C. Sinn und Wirkung

  • Erwarte ich, dass Gebet etwas in der Welt verändert, oder eher mich selbst?
  • Gibt mir Gebet Orientierung, Ruhe oder Kraft – auch unabhängig von einer Antwort?
  • Ist Anbetung für mich Ausdruck von Dankbarkeit oder eher von Unterordnung?

D. Gottes Wille

  • Wenn ich glaube, dass Gott Gebet will: warum?
  • Wenn nicht: warum nicht – und was heißt das für mein eigenes Beten oder Nicht-Beten?

Seit Anfang 2025 setze ich mich eher mit einer Zen- bzw. buddhistischen Perspektive auseinander. Der Blick auf das Gedicht und das Thema „Gott will Gebet“ sieht dann ganz anders aus, weil zentrale Begriffe und Annahmen dort nicht vorkommen oder völlig anders gefüllt werden.

Grundlagen im Buddhismus / Zen

  • Kein personaler Gott: Im klassischen Buddhismus gibt es keine Schöpfergottheit, die die Welt gemacht oder erhält.
  • Ziel: Erwachen (Erkenntnis der Wirklichkeit, Überwindung von Leid), nicht Beziehung zu einem Gott.
  • Praxis: Meditation, Achtsamkeit, ethisches Handeln – nicht als Dienst an einer Gottheit, sondern zur Befreiung des Geistes.

Bezug zum Gedicht

Abhängigkeit: Das Gedicht schreibt alles – Körper, Natur, Leben – einem Gott zu. Im Buddhismus würde man diese Abhängigkeit eher als wechselseitige Bedingtheit (Interdependenz) sehen: Alles existiert nur in Verbindung mit allem anderen, nicht durch den Willen eines einzelnen Wesens.

  • Dankbarkeit: Auch im Zen gibt es Dankbarkeit für das Leben, aber nicht als Gebet an eine Gottheit, sondern als achtsames Erleben des Augenblicks und Respekt vor allen Erscheinungen.
  • „Ohne ihn wäre ich wie ein Stein“: Buddhistisch gedacht wäre ein Stein nicht „tot“, sondern einfach eine andere Form von Existenz, die genauso Teil des Ganzen ist.

Zen-Perspektive auf Gebet

  • Kein Bitten an eine Instanz: Stattdessen Sitzen in Stille (Zazen), um Illusionen und Ich-Bindung zu durchschauen.
  • „Wollen“ entfällt: Die Frage, ob ein Gott etwas „will“, stellt sich nicht – weil kein personaler Gott vorausgesetzt wird.
  • Richtung nach innen: Was im Theismus Gebet ist, ist im Zen eher eine Form innerer Einkehr und Loslassen – ohne Adressaten.

Kurz gesagt:

  • In der christlichen Sicht ist Gebet Beziehung zu einem personalen Gott.
  • In der philosophischen Sicht ist Gebet vor allem eine menschliche Praxis, unabhängig von Gott.
  • In der Zen-/buddhistischen Sicht gibt es keinen Adressaten wie im Gedicht; spirituelle Praxis dient dem Erwachen und nicht dem Erfüllen eines göttlichen Willens.

Aus dieser Position heraus habe ich mich in einem „Gegenentwurf“ versucht: nicht lyrisch „betend“, sondern in der Haltung des Zen-Diskurses:
Keine Zuschreibung an einen personalen Schöpfer, sondern Bedingtes Entstehen (Pratītyasamutpāda)
Keine Hierarchie Mensch–Gott–Natur, sondern gegenseitige Verbundenheit
Dankbarkeit ohne Adressat – Achtsamkeit und Akzeptanz statt Lob oder Bitte

„Sitzen in der Leere“

Ich sitze still,
nicht weil ein Gott mich trägt,
sondern weil dieser Atem
aus unzähligen Ursachen hervorgegangen ist:
Luft, Sonne, Nahrung, Eltern, Erde, Regen.

Ich sehe den Himmel,
nicht als Werk einer Hand,
sondern als Spiegel der unendlichen Wandlungen.
Die Berge erheben sich nicht für mich,
die Sonne geht nicht für mich auf –
und doch bin ich mit ihnen verbunden.

Ich gehe über den Boden,
nicht um ihn zu beherrschen,
sondern um zu erkennen,
dass ich selbst Boden bin.
Stein, Baum, Wasser, Haut –
alle aus demselben Stoff,
alle vergehend, alle werdend.

Darum danke ich nicht jemandem,
sondern übe,
jede Erscheinung
ohne Festhalten zu sehen.


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