Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, zählt zu den markantesten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Seine Werke bestechen durch präzise Beobachtungsgabe, melancholischen Humor und die Fähigkeit, scheinbar unspektakuläre Alltagsszenen in universelle Menschheitsfragen zu verwandeln. Schertenleibs Figuren sind oft Außenseiter, Getriebene oder Menschen an Wendepunkten – stets auf der Suche nach Halt in einer brüchigen Welt.
Biografie und literarische Wurzeln
Schertenleib wuchs in Zürich auf, arbeitete nach einer Buchhändlerlehre unter anderem als Journalist, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Prägend waren Auslandsaufenthalte in Frankreich und den USA, die sein Interesse an kulturellen Grenzgängern und migrantischen Existenzen schärften. Seine literarischen Vorbilder reichen von Robert Walsers Miniaturismus bis zur Lakonie eines Raymond Carver – Einflüsse, die sich in seiner knappen, doch bildstarken Sprache niederschlagen.
Themen und Werke: Zwischen Kiosk und Weltenbrand
Ein wiederkehrendes Motiv ist die Suche nach Heimat in der Fremde. In „Der Kiosk“ (2000), einem seiner bekanntesten Romane, verwandelt Schertenleib einen Zürcher Zeitungskiosk in ein Mikrokosmos der Gesellschaft. Der Protagonist René, ein gescheiterter Akademiker, flüchtet sich in die vermeintliche Ordnung des kleinen Verkaufsstands:
„Der Kiosk war sein letzter Halt, ein Ort, an dem die Welt noch überschaubar schien. Hier kannte er jede Schlagzeile, jeden Stammkunden, jeden Millimeter Regalbrett.“
Doch selbst dieser Rückzugsort wird zum Schauplatz von Konflikten – zwischen Globalisierung und Lokalität, zwischen Routine und Aufbruch.
In „Die blauen Jahre“ (2006), einer coming-of-age-Erzählung, seziert Schertenleib die Verwirrungen der Jugend in den 1970ern. Der jugendliche Protagonist schwankt zwischen Rebellion und Anpassung:
„Er trug seine Langeweile wie einen Mantel, der ihm zu groß war, und hoffte insgeheim, dass irgendwann jemand käme, um ihn daraus zu befreien.“
Schertenleibs jüngerer Roman „Einmal ein großer Sohn sein“ (2014) thematisiert das Scheitern am väterlichen Erbe. Der gescheiterte Musiker Viktor kehrt in sein Heimatdorf zurück und muss erkennen, dass sein Leben ein einziger Kompromiss wurde:
„Er hatte sich immer als Künstler gesehen, aber die Welt sah in ihm nur einen Mann, der nicht einmal sein eigenes Altpapier sortiert bekam.“
Schertenleibs Prosa ist schnörkellos, aber nicht karg. Mit wenigen Sätzen zeichnet er Atmosphären, etwa in „Derrière la gare“ (2018), wo er einen obdachlosen Deutschen durch europäische Bahnhofsvorstädte folgt:
„Die Nacht roch nach verbranntem Kaffee und Regen, der nie fallen wollte. Er schlief in Briefkästen, träumte von Zügen, die ihn nie mitnahmen.“
Seine Dialoge sind scharf konturiert, oft von schwarzem Humor durchzogen, der die Abgründe hinter banalen Gesprächen aufblitzen lässt.
Rezeption und Bedeutung
Schertenleib, mehrfach ausgezeichnet (u.a. mit dem Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis und dem Zürcher Literaturpreis), bleibt ein Autor zwischen den Stühlen: zu wenig experimental für die Avantgarde, zu unverschlüsselt für den Mainstream. Doch genau diese Eigenständigkeit macht ihn zum Chronisten der leisen Existenzen. Wie er selbst einmal sagte:
„Mich interessieren die Risse im Alltag. Dort, wo die Fassade bröckelt, zeigt sich, was uns wirklich trägt – oder nicht.“
Ob Kioskverkäufer, gescheiterte Väter oder herumstreunende Träumer: Schertenleibs Figuren sind Zeugen einer Zeit, die Heimat verspricht, aber oft nur Transiträume bietet. In ihrer Unabgeschlossenheit liegt ihre Wahrhaftigkeit – und die literarische Kraft dieses Autors.
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