Hilde Domin (Hrsg.) – DOPPELINTERPRETATIONEN

Hilde Domins „Doppelinterpretationen“ eröffnet ein literarisches Experiment, das Lesenden die Vielschichtigkeit zeitgenössischer Lyrik in einem dreiteiligen Prozess zugänglich macht. Im Zentrum steht die Idee, Gedichte nicht nur als abgeschlossene Werke, sondern als Ausgangspunkte für vielfältige Deutungsperspektiven zu begreifen. Der Band versammelt 31 Gedichte namhafter Autor:innen wie Günter Eich, Peter Huchel oder Ernst Jandl, die ein breites Spektrum von Naturlyrik bis zu sprachexperimentellen Formen abdecken. Jeder Text steht zunächst unkommentiert, sodass die Lesenden die Möglichkeit haben, sich ein eigenes, unvoreingenommenes Bild zu machen.

Direkt im Anschluss folgt die Selbstdeutung der Dichter:innen, die Einblicke in ihre Entstehungsprozesse geben – von Motiven über Bildwelten bis zu klanglichen Überlegungen. Dabei betont Domin, dass Autor:innen und Kritiker:innen ihre Interpretationen unabhängig voneinander verfassten, um eine möglichst unverfälschte Gegenüberstellung zu gewährleisten. Erst danach tritt die Fremdinterpretation durch Literaturkritiker:innen hinzu, die den Text aus analytischer Distanz betrachtet. Diese Dreiteilung schafft ein Spannungsfeld zwischen subjektivem Entstehungskontext und objektivierender Analyse.

In ihrer Einleitung skizziert Domin das Ziel, das moderne Gedicht „von innen und von außen“ zu beleuchten und einen „Zirkel der Deutung“ zu initiieren, der Lesende aktiv einbindet. Sie versteht die Lektüre als kreativen Akt, bei dem die Balance zwischen dem „Augenzeugenbericht“ der Autor:innen und der „Historikerperspektive“ der Kritiker:innen entscheidend ist. Der Band versteht sich somit nicht nur als Sammlung, sondern als Anstoß, den eigenen Lesevorgang zu reflektieren.

Die Lesenden werden vor die Aufgabe gestellt, die verschiedenen Ebenen – Original, Autorenkommentar, Kritikerstimme – zueinander in Beziehung zu setzen. Dabei entsteht ein Meta-Diskurs über das Interpretieren selbst: Wo überschneiden sich die Perspektiven, wo divergieren sie? Wie formt sich durch diese Gegenüberstellung ein Bewusstsein für die Vieldeutigkeit literarischer Texte? Indem der Band Brüche und Übereinstimmungen offenlegt, wird die Leserschaft dazu angeregt, eine eigene, dritte Deutungsebene zu entwickeln.

Rezensionen und Klappentexte unterstreichen die Wirkung dieses Experiments. Hervorgehoben wird etwa, wie die Gegenüberstellung von Autor:innen- und Kritiker:innensicht nicht nur die Bandbreite möglicher Lesarten verdeutlicht, sondern auch überraschende Selbstwahrnehmungen der Schreibenden offenbart. Domins Konzept, Lesende zu Mitgestalter:innen des Deutungsprozesses zu machen, erweist sich dabei als zentraler Impuls. „Doppelinterpretationen“ wird so zu einem Laboratorium, in dem Lyrik nicht passiv konsumiert, sondern aktiv erforscht wird – ein Ansatz, der bis heute die Auseinandersetzung mit Literatur bereichert.

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