Rosestock Holderblüh - Ille Chamier

Ille Chamier – Rosestock Holderblüh

Ille Chamiers Gedicht Rosestock Holderblüh verdichtet ihre Kindheitserinnerungen an den Zweiten Weltkrieg zu einer poetischen Collage aus Trauma und Überlebenspoesie. Geboren 1937, erlebte sie die Bombennächte um 1943 – als Sechsjährige – in unmittelbarer existenzieller Bedrohung, wie die Zeilen „horchte ich nach den Bombengeschwadern“ bezeugen. Die Szene der zersplitterten Fenster („Scherben lagen ums Gitterbett“) neben der unverletzten Schwester offenbart die willkürliche Grausamkeit des Krieges: Dass das Kind „nicht einmal blutete“, wird von der Mutter als „Wunder“ gedeutet – eine für die Zeit typische religiöse Überlebensstrategie, wie Chamier sachlich notiert: „weil wir nötig / ein Wunder brauchten“.

Magisches Denken durchzieht das Gedicht als Bewältigungsmechanismus: Die wiederkehrenden Spiegelgespräche („ich sprach mit den Spiegeln“) und die halluzinatorischen Lichtvisionen („durchsichtige Schweife des Lichts“) stehen neben kleinen Naturbeobachtungen wie dem Falter auf dem Stein – fragile Inseln der Schönheit in der Zerstörung. Diese mantrahaften Wiederholungen („ich rollte mit den Augen / ich vergaß in den Träumen“) spiegeln dissoziative Zustände, die Traumata der Bombennächte abzuwehren.

Auffällig ist die Ambivalenz zwischen Idylle und Gewalt: Das Kräutersammeln von „Brennnesseln, Schafsgarbe und Kamille“ wirkt wie ein Heilungsritual, kontrastiert jedoch scharf mit der verstörenden Zeile „in der Zeit, als das Opfer selbst folterte“. Diese Formulierung deutet auf komplexe Schuld- oder Ohnmachtsgefühle hin – vielleicht ein Echo der späteren Erkenntnis, dass auch Deutsche Täter waren. Selbst der scheinbar naive „Tanz im Kindergarten“ wird zur grotesken Geste der Normalität in einer zerbrochenen Welt.

Die fragmentarische Struktur des Gedichts selbst wird zum Ausdruck des Traumas: Abrupt wechseln Szenen zwischen Spiegelritualen, Bombenterror und Kindheitsalltag. Die Naturbilder (Sonne, Falter, Heilkräuter) dienen als symbolische Gegenwelt zur Gewalt, während die Spiegel für die gespaltene Identität des Kriegskindes stehen – zwischen erzwungener Unschuld und frühem Wissen. Chamier zeigt so die Unmöglichkeit vollständiger Verarbeitung: Das „Vergessen in den Spiegeln“ ist kein Befreiungsakt, sondern Teil eines lebenslangen Ringens mit Erinnerungsfragmenten der deutschen Kriegskindergeneration.

Foto: Kerstin Riemer | Die Schafgarbe habe ich als Foto gewählt, weil sie für Mut und Schutz steht. Das finde ich passend zum Text.


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