Jürgen Völkert-Marten – Wege – Lyrik

Jürgen Völkert-Marten - Wege - Lyrik

„Wege“ führt uns durch einen merkwürdigen Wechsel der Perspektiven: Erst sind wir mittendrin im Matsch und Regen, dann schauen wir von oben auf eine Landkarte. Diese Bewegung von der körperlichen Erfahrung zur abstrakten Betrachtung durchzieht das ganze Gedicht wie ein roter Faden.

Unterwegs im Regen

Die erste Strophe lässt uns förmlich die nassen Füße spüren. Da sind Wasserpfützen vom „letzten Aprilregen“, verschmutzte Schuhe, Wege die sich biegen und verlaufen. Das „metallisch glänzende Wasser“ verleiht der Szenerie etwas Unwirkliches – als würde man durch eine fremde, fast artifizielle Landschaft wandern.

Besonders der „Schritteton verschmutzter Schuhe“ fällt auf: Hier wird das Gehen nicht nur sichtbar und fühlbar, sondern auch hörbar. Die Schritte werden zu einem Rhythmus, der mit dem dreckigen Weg verschmilzt. Man denkt unwillkürlich an Samuel Becketts „Warten auf Godot“, wo das endlose Gehen und Warten ähnlich physisch präsent wird.

Der Blick von oben

Dann erfolgt ein radikaler Schnitt. Plötzlich betrachten wir dasselbe aus der Vogelperspektive einer Landkarte. Die mühsam begangenen Wege „ziehen sich zusammen und verschwinden im Nichts“. Was eben noch konkrete, körperliche Erfahrung war, wird zu abstrakten Linien reduziert.

Diese Wendung erinnert an Jorge Luis Borges‘ berühmte Erzählung über die Karte, die so detailliert ist wie die Landschaft selbst – nur hier läuft es umgekehrt: Die gelebte Realität schrumpft zur vereinfachten Darstellung zusammen. Der Zusatz „ohne sich sträuben zu können“ verleiht diesem Vorgang etwas Gewaltsames, als würde die Individualität der Erfahrung gegen ihren Willen abstrahiert.

Literarische Verwandtschaften

Das Thema des Weges als Metapher für das Leben hat eine lange Tradition. Bei Antonio Machado heißt es: „Caminante, no hay camino, se hace camino al andar“ – Wanderer, es gibt keinen Weg, der Weg entsteht beim Gehen. Unser Gedicht dreht diese Perspektive um: Hier verschwindet der Weg gerade durch das Gehen, oder besser gesagt durch die nachträgliche Betrachtung.

Auch Robert Frost’s „The Road Not Taken“ arbeitet mit der Spannung zwischen konkreter Wegewahl und deren späterer Interpretation. Während Frost jedoch die Bedeutung individueller Entscheidungen betont, scheint unser Gedicht eher deren letztendliche Belanglosigkeit zu thematisieren.

Form und Inhalt

Die ungebundene Form des Gedichts unterstützt seine Aussage. Die langen, sich windenden Sätze der ersten Strophe imitieren das Mäandern der Wege. Dann kommt die abrupte Verknappung: „Auf der Landkarte dann“ – ein harter Schnitt, der den Perspektivwechsel auch sprachlich vollzieht.

Die Enjambements, besonders „verschmutzt werden / Schuhe“, schaffen ein Stolpern im Lesefluss, das das mühsame Gehen nachahmt. Gleichzeitig entsteht durch die fortlaufenden Sätze ein Sog, der einen unaufhaltsam vorwärts zieht – genau wie die beschriebenen Wege, die „nicht enden wollen“.

Das große Ganze

Der Schluss bringt eine eigentümliche Beruhigung. „Alles verschmilzt und ergibt ein Ganzes. Ohne Widerspruch nimmt die Natur es hin.“ Diese Natur ist nicht mehr die konkrete, nasse Landschaft des Beginns, sondern eine Art übergeordnete Instanz, die gleichgültig oder weise – je nach Lesart – über den Dingen steht.

Man könnte darin eine tröstliche Botschaft sehen: Alle individuellen Mühen fügen sich letztendlich in ein größeres Muster. Oder man liest es als melancholische Erkenntnis über die Bedeutungslosigkeit persönlicher Anstrengungen. Das Gedicht lässt beide Deutungen zu und gewinnt gerade dadurch seine Kraft.

Ein zeitgenössischer Ton

Was „Wege“ von klassischen Weggedichten unterscheidet, ist seine moderne Nüchternheit. Hier wird nicht pathetisch über Lebenspfade philosophiert, sondern mit fast dokumentarischer Genauigkeit eine doppelte Perspektive entwickelt. Die Spannung zwischen Erleben und Erfassen, zwischen Subjektivität und Objektivierung durchzieht unsere Zeit in vielfacher Weise – von der Digitalisierung des Alltags bis zur wissenschaftlichen Vermessung der Welt.

In dieser Hinsicht ist „Wege“ ein sehr gegenwärtiges Gedicht, auch wenn es mit einfachsten Mitteln arbeitet: nasse Schuhe, eine Landkarte und der ewige Widerspruch zwischen dem, was wir erleben, und dem, was davon übrig bleibt, wenn wir es zu verstehen suchen.

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