Jürgen Völkert-Marten - Wege - Lyrik

WEGE ist ein Gedicht, das uns auf eine Reise mitnimmt – nicht nur durch eine Landschaft, sondern auch durch die Art und Weise, wie wir unsere eigenen Pfade im Leben wahrnehmen. Es fordert uns heraus, über das bloße Gehen hinauszublicken und zu hinterfragen, was bleibt, wenn der Weg vermeintlich endet. Mit seinen starken Bildern und dem Wechsel der Perspektiven lädt es dazu ein, unsere eigene Rolle in den „Wegen“ des Lebens zu reflektieren.

Formale Aspekte

Die freie Form ohne festes Reimschema oder Metrum unterstreicht die fließende, ungebundene Natur der Wege und ermöglicht eine größere Freiheit im Ausdruck der Gedanken.

Satzbau und Enjambements: Die langen, verschachtelten Sätze, besonders in der ersten Strophe, simulieren nicht nur das sich Windende der Wege, sondern schaffen auch einen atemlosen, unaufhaltsamen Fluss, der das Gefühl des „nicht enden wollen“ verstärkt. Die häufigen Enjambements (Zeilensprünge) verstärken diese Dynamik und zwingen das Auge, den Zeilenfluss ohne Pause zu folgen – ähnlich wie man einem sich schlängelnden Weg folgt.

„Schritteton“: Das Gedicht spricht vom „Schritteton verschmutzter Schuhe“. Dies ist ein starkes, synästhetisches Bild, das auditiv und visuell verschmilzt. Der Klang der Schritte (Schrittton) ist so präsent, dass er fast physisch wird und sich mit dem Schmutz auf den Schuhen verbindet. Es betont die Unmittelbarkeit der körperlichen Erfahrung des Gehens. Die Schritte sind nicht nur hörbar, sondern werden Teil der Verunreinigung, untrennbar mit dem dreckigen, nassen Weg verbunden. Diese Formulierung verstärkt die Vorstellung, dass der Mensch mit jedem Schritt Spuren hinterlässt und selbst von seinem Weg gezeichnet wird.

Prosaische Sprache: Die von dir beschriebene prosaische Sprache schafft eine Zugänglichkeit und Unmittelbarkeit, die es dem Leser leichter macht, sich in die beschriebene Szenerie hineinzuversetzen, bevor die abstraktere Ebene der zweiten Strophe erreicht wird.

Inhaltliche Aspekte & Deutung

Der „metallisch glänzende Wasser“: Dieses Bild ist sehr stark. „Metallisch glänzend“ könnte nicht nur die Reflexion des Himmels im Wasser beschreiben, sondern auch eine gewisse Kälte, Härte oder Künstlichkeit in die Natur bringen. Es erzeugt eine Atmosphäre, die gleichermaßen faszinierend wie unwirtlich wirken kann – eine Schönheit, die vielleicht auch eine gewisse Distanz hat. Das „Verlaufen“ und „sich Biegen“ der Wege in diesem Ambiente evoziert das Gefühl, von den eigenen Pfaden abzukommen, sich zu verirren, aber gleichzeitig eine Art organisches Wachstum und Anpassungsfähigkeit der Wege selbst. Sie finden ihren „Ausgang“, aber das gleichzeitige „kein Ende finden“ deutet auf eine zyklische oder sich wiederholende Erfahrung hin, in der jedes Ende auch ein neuer Anfang oder eine Fortsetzung ist.

Die Schuhe und der Aprilregen: Die „verschmutzten Schuhe“ und „Wasserpfützen des letzten Aprilregens“ verankern das Gedicht fest in der menschlichen Erfahrung und der Realität des Unterwegsseins. Der Aprilregen steht oft für Unbeständigkeit, Wechselhaftigkeit, aber auch für Neubeginn und Wachstum. Hier jedoch scheint er eher die Mühsal des Weges zu betonen, die Spuren, die das Gehen hinterlässt. Die Verbindung „um mit ihnen gemeinsam kein Ende zu finden“ verstärkt die Idee, dass der Mensch selbst untrennbar mit diesem endlosen oder immer wiederkehrenden Prozess verbunden ist. Es ist ein gemeinsames Schicksal von Mensch und Weg.

Der Perspektivwechsel zur Landkarte: Dieser Übergang ist das Herzstück des Gedichts und von dir sehr gut erfasst.

Distanzierung und Abstraktion: Die Landkarte symbolisiert die Distanzierung von der unmittelbaren Erfahrung. Auf ihr verliert das Konkrete seine Bedeutung und wird zu einem Symbol. Die „zusammenziehenden“ und „im Nichts verschwindenden“ Wege auf der Karte spiegeln die Relativierung individueller Anstrengungen und Erfahrungen wider, wenn man sie aus einer übergeordneten Perspektive betrachtet.

Ohnmacht und Verlust der Autonomie: Die Formulierung „ohne sich sträuben zu können“ ist zutiefst resignativ. Sie betont die Ohnmacht des Individuums oder des persönlichen Weges gegenüber der abstrakten Darstellung, der Statistik, dem Großen Ganzen. Der individuelle Kampf, das Suchen und Finden, das Schmutzigwerden – all das verschwindet und wird zu einem bedeutungslosen Detail.

Das „Ganze“: Wenn „Alles verschmilzt und ergibt ein Ganzes“, entsteht eine paradoxe Situation. Einerseits ist es die Erkenntnis einer umfassenden Ordnung, andererseits aber auch der Verlust der Einzigartigkeit. Es ist ein Ganzes, in dem das Individuelle nicht mehr sichtbar ist. Dies kann als Trost (alles hat seinen Platz) oder als Bedrohung (ich bin nur ein kleiner Teil ohne Bedeutung) empfunden werden.

Die Natur als Akzeptierende: Der Schlusssatz ist, wie du bemerkst, entscheidend. Die „Natur“ nimmt es „ohne Widerspruch“ hin. Diese Natur ist hier nicht die konkrete, nasse Landschaft des ersten Teils, sondern eine übergeordnete, vielleicht kosmische oder schicksalhafte Kraft. Sie ist neutral, unbeteiligt, aber auch allgegenwärtig. Ihre Akzeptanz bedeutet eine Art höhere Logik oder Unausweichlichkeit. Sie urteilt nicht, sie ist einfach. Das kann als Beruhigung wirken – das Leben geht weiter, unabhängig von individuellen Nöten – oder als kalte Gleichgültigkeit, die die Mühen des Einzelnen ignoriert. Ich tendiere hier zu einer Wahrnehmung, die beides zulässt: Eine gewisse Ruhe in der Akzeptanz des Unvermeidlichen, aber auch eine leise Melancholie über die eigene geringe Bedeutung.


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