Klaus Johannes Thies‘ Prosatext schildert die Hörspielabteilung von Radio Bremen als einen Ort des Wartens und Dämmerns. Schauspieler in Schlafanzügen lagern in langen, leeren Fluren einer vergessenen Abteilung, die bei einem Umzug einfach nicht mitgenommen wurde. Die Synchronisation von Gina Lollobrigida steht an, aber es gibt nur Männer – man behilft sich mit einer Sekretärin. Alte, weißhaarige Männer, früher Handwerker, sitzen herum und warten auf ihren Einsatz, „manchmal Jahre“. Das erzählende Ich sucht seine Brillenhülle und findet sie zwischen den Schlafanzügen. Der Text endet mit dem Bild der „guten alten Radioluft, die noch aus dem Nachkrieg stammt, die man dabehalten wollte, weil man sie nicht speichern konnte.“
Ebene 1: Anekdotisch-realistische Erzählebene
Die oberste Schicht gibt sich dokumentarisch: Ein Ort (Hörspielabteilung), Menschen (Schauspieler, Sekretärin, alte Männer), eine Handlung (Warten, Suchen, Diktieren). Der Ton ist lakonisch und leicht ironisch. Es entsteht der Eindruck einer Momentaufnahme, die sich nicht nostalgisch verklärt, sondern nüchtern beobachtet: „Saßen da und dämmerten, und warteten auf die Raucherlaubnis, die jemand ganz offiziell aussprechen musste.“
Ebene 2: Institutionelle / bürokratische Ebene
Unter der Oberfläche zeigt sich ein System, das absurd weiterläuft: Niemand ist für die Raucherlaubnis zuständig, die Abteilung wurde beim Umzug vergessen, aber „machten einfach ihre Arbeit“. Es wird diktiert, weil es etwas zu diktieren gibt – „eine Absage vielleicht, und dann noch eine, wer weiß“. Die Bürokratie wird nicht angeklagt, sondern vorgeführt: Ein Apparat funktioniert, obwohl sein Rahmen verschwunden ist. Die Atmosphäre erinnert an Kafka, allerdings ohne Bedrohung, eher mit resignierter Heiterkeit.
Ebene 3: Sozial-historische Ebene (Nachkriegsdeutschland)
Leise, aber deutlich zeichnet der Text biografische Brüche: „Alte, weißhaarige Männer saßen da, die vielleicht früher Handwerker waren, jetzt noch etwas dazuverdienen wollten, sich darum als Schauspieler ausgegeben und beim Arbeitsamt gemeldet hatten.“ Hier wird ein Deutschland im Übergang sichtbar – vom Handwerk zur Medienarbeit, vom Körperlichen zum Sprachlichen, vom Krieg zur Verwaltung. Das Hörspiel wird zur Auffangzone für Lebensläufe, die nicht mehr in alte Strukturen passen.
Ebene 4: Medien- und Simulationsebene
Der Titel nennt Gina Lollobrigida – Ikone des italienischen Kinos, Glamour, Körper, Stimme. Die Diskrepanz zur Realität ist maximal: „Lollobrigida musste synchronisiert werden, aber es gab nur Männer in Schlafanzughosen“. Man behilft sich mit einer Sekretärin mit „süßen Pfennigabsätzen“. Die Synchronisation wird zur grotesken Simulation: Die Stimme des Stars ist eine behelfsmäßige Konstruktion, der Glamour entsteht nicht durch die Realität, sondern trotz ihr. Medien produzieren Illusion, indem sie die Realität verbergen – und Thies zeigt genau diese Kluft, ohne Anklage, mit stiller Ironie.
Ebene 5: Metapoetische / medienphilosophische Ebene
Der Schlüsselsatz liegt am Ende: „diese gute alte Radioluft, die noch aus dem Nachkrieg stammt, die man dabehalten wollte, weil man sie nicht speichern konnte.“ Radio ist flüchtig – Luft, Klang, Zeit. Man kann sie nicht archivieren, nur bewahren, indem man Räume schließt und die Luft nicht „zu sehr verändert“. Der Text reflektiert sein eigenes Medium: Das Hörspiel existiert nur im Moment, genau wie diese Menschen. Das Radio produziert Vergänglichkeit, die nicht festgehalten werden kann.
Ebene 6: Subjektive Wahrnehmungsebene
Das erzählende Ich sucht seine Brillenhülle „zwischen diesen Schlafanzügen“ und findet sie. Die Hülle ist ein konkretes, banales Detail in einer surreal wirkenden Umgebung. Sie ist kein Symbol, sondern ein realistischer Gegenstand, der den Text erdet. Das Ich bewegt sich tastend durch einen Raum aus Körpern, Zeiten und Rollen, sucht etwas Konkretes, während um es herum alles diffus bleibt: Warten, Dösen, Zeitlosigkeit. Die Brillenhülle liegt einfach da – als Zeichen dafür, dass der Erzähler in dieser Welt funktioniert, ohne sie zu deuten.
Ebene 7: Zeitphilosophische Ebene
Der Text arbeitet mit verschobenen Zeitschichten: Die Abteilung ist „vielleicht gerade im Jahr 1964 angekommen“, Schauspieler warten „manchmal Jahre“ auf ihren Einsatz, die Radioluft stammt „noch aus dem Nachkrieg“. Die Hörspielabteilung existiert in einer Zeitblase – gleichzeitig vergangen, vergessen und doch noch da. Sie ist ein Anachronismus: Eine Institution, die weiterarbeitet, obwohl ihre Zeit vorbei ist. Verschiedene Epochen überlagern sich, ohne sich aufzulösen. Der Text zeigt nicht nur, was geschieht, sondern wie Zeit in institutionellen Räumen gerinnt und sich schichtet.
Der Text ist zugleich Anekdote, Institutionssatire, Nachkriegsminiatur, Medienreflexion und Zeitphilosophie. Er erzählt nichts Spektakuläres, sondern lässt Bedeutungen in der Luft hängen – genau wie das Radio selbst.
Das Gesamtgefüge: Wie die Ebenen zusammenwirken
Die sieben Ebenen existieren nicht isoliert voneinander, sondern erzeugen erst durch ihr Zusammenspiel die eigentliche Wirkung des Textes. Es gibt keine Hierarchie zwischen ihnen – die Brillenhülle ist nicht weniger wichtig als die Medienphilosophie, die Schlafanzüge nicht weniger bedeutsam als die Nachkriegsgeschichte. Thies zeigt, wie Alltag und Geschichte, Banalität und Bedeutung ineinander verschränkt sind, ohne dass man sie sauber trennen könnte.
Die Spannung entsteht durch Simultaneität: Die Schlafanzüge sind wirklich Schlafanzüge und zugleich Zeichen für eine Arbeitswelt im Übergang. Die Radioluft ist wirklich stickig und zugleich Metapher für Flüchtigkeit. Gina Lollobrigida ist wirklich eine Synchronisationsaufgabe und zugleich die Markierung einer unerreichbaren Glamourwelt. Der Text funktioniert nicht symbolisch (A steht für B), sondern durch Überlagerung: Alles ist gleichzeitig da.
Radio als historisches Medium
Was der Text dabei unterschwellig verhandelt, ist ein medienhistorischer Bruch. Radio war einmal ein Medium der Imagination – durch Stimmen und Geräusche entstanden ganze Welten, das Hörspiel war die Hochform dieser Kunst. Man tauchte ab, verschwand in akustischen Räumen, die nirgendwo existierten außer in der Luft zwischen Sender und Empfänger. Die Hörspielabteilung bei Thies ist ein Relikt dieser Zeit: vergessen, ausgelagert, in einer Zeitblase gefangen.
Die „Nachkriegsluft, die man nicht speichern konnte“ meint genau das: Radio war flüchtig, unwiederholbar, an den Moment gebunden. Man musste zur richtigen Zeit einschalten, sonst war es verloren. Diese Flüchtigkeit machte das Medium kostbar – und zugleich vergänglich. Was Thies beschreibt, ist der Moment, in dem diese Welt bereits zu verschwinden beginnt: Die Abteilung wurde vergessen, die Schauspieler warten Jahre auf ihren Einsatz, die Zeit steht still.
Heute ist Radio weitgehend zu einem funktionalen Medium geworden: Berieselung, Formatradio, Verkehrsmeldungen. Die imaginative Kraft, die es einmal hatte, ist in andere Medien gewandert – Podcasts, Serien, Streaming. Was bei Thies bleibt, ist die Erinnerung an einen Zustand, in dem das Radio noch ein Ort war, kein Hintergrundgeräusch. Ein Ort mit langen Fluren, Schlafanzügen, Sekretärinnen und alter Luft, die man nicht austauschen wollte.
Die Verschränkung von Zeit und Medium
Das Besondere an Thies‘ Text ist, dass er diese Transformation nicht beklagt oder nostalgisch verklärt, sondern einfach zeigt: So war das. Die Ironie ist sanft, die Beobachtung präzise. Die Zeitschichten überlagern sich (1964, Nachkrieg, der Moment der Erzählung), ohne sich aufzulösen. Die Institution läuft weiter, obwohl sie bereits historisch geworden ist. Die Menschen sitzen herum, obwohl ihre Funktion fragwürdig geworden ist. Und das erzählende Ich findet seine Brillenhülle – ein konkretes Ding in einer diffusen Welt.
Der Text lässt offen, ob das, was hier beschrieben wird, Verlust oder Befreiung ist. Er hält den Moment fest, in dem etwas verschwindet, ohne zu sagen, was danach kommt. Genau darin liegt seine Stärke: Er ist selbst wie die Radioluft – da, spürbar, aber nicht zu speichern.
