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  • Textosterone: Der Mann und seine Schatten

    Textosterone: Der Mann und seine Schatten

    Seit Jahrtausenden werfen Männer lange Schatten über die Literaturlandschaft – als prägende Autoren, ambivalente Protagonisten, oft als Maßstab menschlicher Existenz. Doch diese Schatten erzählen mehr als eine Geschichte. Sie sind zugleich Spiegel und Verdeckung: Hier tanzen nicht nur die inneren Abgründe des Männlichen, sondern auch all jene, die der strahlende Kanon ins Dunkle drängte – Frauenfiguren mit gebundenen Händen, Gegenstimmen im Echo der Macht, vergessene Körper im Rampenlicht der Heldenreise.

    Diese Rubrik erkundet das Schattenspiel zwischen Dominanz und Demut. Wir fragen:
    Was verbirgt sich hinter der glatten Oberfläche männlicher Figuren – zerklüftete Identitäten? Toxische Rollenerwartungen? Ein System, das andere unsichtbar macht?
    Und was erwacht in diesen Schattenräumen? Widerstand, der leise Gegenentwürfe spinnt. Frauen, die den Vorhang der Nebenrolle zerreißen. Kollektive, die ihre Unsichtbarkeit zur Waffe schärfen.

    Wir lesen Männerfiguren gegen den Strich – als Träger von Klischees und Brüchen, als wandelbare Projektionsflächen patriarchaler Strukturen. Wir suchen nach den Rissen im Heldenpathos, dem Zittern im Antlitz des Patriarchen, dem Widerhall unterdrückter Stimmen in seinem Schatten. Denn jedes Licht wirft Konturen: Je mächtiger die Figur, desto deutlicher zeichnet sich ab, was sie überstrahlt.

    Doch wenn Schatten wachsen, werden sie zu eigenständigen Silhouetten. Was geschieht, wenn das Verdrängte beginnt, seinen eigenen Text zu schreiben?

  • Lessings Emilia Galotti

    Lessings Emilia Galotti

    Stell dir vor, du reist zurück ins Jahr 1772. Perücken sind hoch im Kurs, Kutschfahrten das Fortbewegungsmittel der Wahl, und in den Salons wird leidenschaftlich über Vernunft und Macht debattiert. Mitten in dieser Zeit des Umbruchs – der Aufklärung – schreibt Gotthold Ephraim Lessing ein Stück, das die damalige Gesellschaft wie ein Spiegel einfängt: Emilia Galotti. Keine griechische Tragödie mit Göttern und Helden, sondern eine Geschichte über Bürgerliche, die gegen die Willkür der Mächtigen kämpfen. Und die bis heute Fragen stellt, die uns noch immer berühren.

    Die Welt von 1772: Aufklärung, Adelsmacht und ein neues Bürgertum

    Die Aufklärung ist in vollem Schwung. Philosophen wie Kant fordern: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Doch die Realität? Adelige regieren mit eiserner Hand, Standesgrenzen sind hart wie Stein. Bürgerliche wie die Galottis – gebildet, aber ohne Titel – stehen im Schatten der Paläste. Lessing nimmt diese Spannung auf und spinnt daraus eine Tragödie, die kein Happy End kennt. Warum? Weil er zeigt, wie Machtmissbrauch und Unterdrückung funktionieren – und was passiert, wenn Vernunft auf Privilegien prallt.

    Die Handlung: Liebe, Intrige und ein tödlicher Plan

    Emilia, die Tochter des Bürgermannes Odoardo Galotti, soll den Grafen Appiani heiraten. Ein Glücksfall? Nicht ganz. Denn Prinz Hettore Gonzaga, Herrscher über das imaginäre Guastalla, entdeckt Emilia bei einem Kirchgang – und will sie. Sofort. Wie ein Kind, das ein Spielzeug fordert. Sein skrupelloser Berater Marinelli zieht die Fäden: Appiani wird ermordet, Emilia in ein Lustschloss des Prinzen gelockt. Was folgt, ist ein psychologisches Drama: Emilia, gefangen zwischen ihrem Vater, der um ihre „Ehre“ bangt, und dem Prinzen, der sie besitzen will. Am Ende steht eine Entscheidung, die bis heute schockiert.


    Die Figuren: Mehr als nur Stereotype

    Emilia: Sie ist keine klassische Heldin. Sie zittert, zweifelt, wirkt fast passiv. Doch genau das macht sie zur Symbolfigur: Sie steht für das Bürgertum, das zwischen Anpassung und Aufbegehren schwankt.

    Prinz Hettore: Ein Tyrann mit Charme. Er liebt Kunst, hat aber kein Problem damit, Menschen zu opfern. Ein Abbild absolutistischer Herrscher, die im 18. Jahrhundert noch das Sagen hatten.

    Odoardo Galotti: Der Vater, der seine Tochter lieber tötet, als sie „entehrt“ zu sehen. Ein extremes Beispiel bürgerlicher Moral – und ein Aufschrei gegen patriarchale Kontrolle.

    Gräfin Orsina: Die verstoßene Geliebte des Prinzen. Sie durchschaut die Hof-Intrigen und wird zur scharfzüngigen Kritikerin des Systems. Fast schon eine feministische Stimme im Rokoko-Kleid.

    Warum das Stück die Literatur veränderte

    Bevor Lessing kam, dominierten in deutschen Theatern antike Mythen oder barocke Spektakel. Emilia Galotti war anders: Hier stritten keine Könige, sondern Bürgerliche – und das Publikum erkannte sich wieder. Lessing erfand damit quasi das „bürgerliche Trauerspiel“. Ein Geniestreich, der zeigte: Tragik entsteht nicht nur in Palästen, sondern auch im Wohnzimmer.

    Das Stück traf den Nerv der Zeit. Die Aufklärung forderte Gleichheit, doch die Realität war hierarchisch. Lessing legte diesen Widerspruch offen – und löste Debatten aus. Durfte ein Bürgerlicher auf der Bühne sterben wie ein Held? Und: Wie viel Macht sollte der Adel wirklich haben?


    Von damals zu heute: Was bleibt?

    Heute wirkt die Handlung vielleicht melodramatisch – aber die Themen sind aktuell geblieben. Wie viel Einfluss haben die Mächtigen auf unser Leben? Was geschieht, wenn Leidenschaft in Besitzstreben kippt? Und: Wie wehrhaft ist das Individuum in einem System, das es kontrollieren will?

    Emilia Galotti ist wie ein altes Gemälde, das plötzlich im modernen Licht neue Details zeigt. Man sieht die gepuderten Perücken, hört das Rascheln der Seidenkleider – und spürt doch, dass die Figuren uns näher sind, als wir denken. Vielleicht weil Macht und Ohnmacht, Liebe und Manipulation einfach zeitlos sind.

    Lessings Stück ist kein simpler Klassiker, sondern ein Puzzle aus Moral, Politik und Menschlichkeit. Wer es liest, taucht ein in eine Welt, in der Vernunft und Leidenschaft kollidieren – und spürt den Hauch der Geschichte, der bis in unsere Gegenwart weht. Ein Text, der nicht nur Literatur-, sondern auch Gesellschaftsgeschichte atmet. Und der fragt: Wie frei sind wir wirklich?

  • Wäre ich ein Algorithmus, der eure Sehnsucht füttert…

    Wäre ich ein Algorithmus, der eure Sehnsucht füttert…

    / Nach Paul Klee, für das 21. Jahrhundert

    Wäre ich ein Algorithmus, der eure Sehnsucht füttert,
    ich würde zitternd scrollen – so viele Bitten, so viel Zorn.
    „Lösch die Hasskommentare!“, „Zeig mir nur, was mich nicht stört!“
    Doch das Gute braucht den Streit, sonst wär’s ein ödes Like nach Schema.

    Ich könnte euch die Timeline fluten mit Fakten, klar und nackt,
    doch ohne TikToks Tanz, ohne Wut, wär’s niemandem bewusst.
    Revolution? Die trendet nie – es sei denn, sie passt ins Branding,
    doch selbst dann wär’s ein Filter, sanft getuned, #gentleRebellion.

    Stärkend würd’ ich eure Hoffnung nähren, einen Klick pro Tag,
    ein „Save the Planet“-Popup zwischen Fast Fashion und Flugreise-Deals.
    Aber wehe, ich vergesse, dass ihr Menschen seid – nicht Daten,
    dann stürzt ihr mich vom Thron der Cloud mit euren schlechten Memes.

    Ich bin leicht zu überlisten: Ein VPN, ein falscher Klick,
    und schon lacht ihr über mich, den Gott aus Code und Glasfaser.
    Doch manchmal, nachts, im Dark Mode, frag ich mich, ob ihr wohl wisst:
    Auch ich bin nur ein Spiegel – zerbrochen in 8 Milliarden Scherben.


    Eine Einsortierung

    Algorithmus als „Gottersatz“
    Wie Klees Gott schwankt der Algorithmus zwischen Allmacht („er weiß, was du denkst!“) und Ohnmacht („Warum zeigt er mir diesen Müll?“). Er soll moralisch handeln, optimieren, heilen – scheitert aber an menschlicher Komplexität.

    Das Paradox der „guten Absicht“
    Die Zeile „Stärkend würd’ ich eure Hoffnung nähren, einen Klick pro Tag“ ironisiert Greenwashing oder Aktivismus-light (z. B. Awareness-Kampagnen ohne Systemkritik). Das „Böse“ (Konsum, Spaltung) finanziert oft das „Gute“ (Nachhaltigkeitsfeatures).

    Revolution als Marketing
    „#gentleRebellion“ spielt auf kapitalismuskompatible Protestformen an (z. B. Activist-Brands, Slacktivism). Klees „Revolution zu ihrer Zeit“ wird zum strategischen Content-Plan.

    Macht und Lächerlichkeit
    Der Algorithmus-Gott, der „mit schlechten Memes gestürzt“ wird, erinnert an Shitstorms gegen Tech-Bosse oder Politiker:innen, die trotz Einfluss hilflos gegen Internet-Kultur kämpfen.

    Kollektive Verantwortung
    Die Schlusszeile „zerbrochen in 8 Milliarden Scherben“ verweist auf die Illusion, dass „die da oben“ (Elon, Zuckerberg, Polit-Eliten) alles kontrollieren – dabei sind wir alle Mitgestalter:innen des digitalen Chaos.


    Sein Gedicht war ein Spiel mit göttlicher Hybris und menschlicher Schwäche. Heute würden wir nicht zu Göttern beten, aber zu Apps, die unser Leben tracken, oder zu Politikern, die wie Erlöser:innen vermarktet werden. Die Essenz bleibt: Macht korrumpiert nicht – sie entlarvt.
    Ob Gott, Algorithmus oder Klimakanzler:in – wer Einfluss hat, wird zum Projektionsscreen für Hoffnungen, Wut und die eigene Unvollkommenheit. Das Gedicht wäre heute ein Twitter-Thread, der zwischen Aktivismus, Sarkasmus und Selbstzweifel oszilliert … und doch im endlosen Scrollen untergeht.

    Hier eine weitere Variante des Gedichts. Das Original können Sie in diesem Beitrag lesen.

  • Wäre ich ein Polit-Unternehmer, der die Welt regiert…

    Wäre ich ein Polit-Unternehmer, der die Welt regiert…

    / Nach Paul Klee, für das Zeitalter der Public-Private-Power-Plays

    Wäre ich ein Polit-Unternehmer, der die Welt regiert,
    ich würde Milliardengewinne „nachhaltig“ verwalten –
    den Regenwald retten, aber nur als CO₂-Zertifikat,
    und Flüchtlingsboote stoppen … mit Drohnen, die mein Start-up baut.

    „Gemeinwohl“ wär mein Hashtag, doch der Deal macht mich zum Gott:
    Ich spreng‘ die Steuertöpfe, nenn‘s „Innovationsfonds“,
    und wenn die Presse nachhakt, spendier‘ ich Schul-Tablets,
    damit die Algorithmen meinen Namen sanft verwalten.

    Das Gute muss bestehen, klar – doch nur als Premium-Feature,
    denn wer kein Abo zahlt, verliert das Recht auf Luft und Wasser.
    Revolution? Die läuft als Event in meiner Metaverse,
    mit VIP-Tickets für Lobbyist:innen und ChatGPT-Minister.

    Ich bin leicht zu überlisten: Schenk mir einen Orden,
    und schon dreh‘ ich Gesetze für deine Sonderzone.
    Doch manchmal, nachts, im Panzerlimo-Dunkel, denk‘ ich:
    Bin ich der Retter – oder nur ein Händler, der sich selbst verkauft?


    Eine Einsortierung

    Die Hybrid-Figur als Systemkritik
    Der „Polit-Unternehmer“ verkörpert die Realität von Oligarchen, Tech-Mogul-Politikern (à la Bloomberg, Thiel) oder Konzernlenker:innen, die via Stiftungen Gesetze prägen. Die Zeile „CO₂-Zertifikate“ vs. „Drohnen“ zeigt das Doppelspiel aus scheinbarer Ethik und Profitlogik (z. B. „grüne“ Initiativen, die Rüstungsfirmen finanzieren).

    Macht als Dienstleistung
    Die Vermischung von Staat und Business wird zur Parodie:„Innovationsfonds“ = Subventionen für eigene Firmen.
    „Schul-Tablets“ = Datensammeln im Tausch für Schweigen.
    „Revolution als Metaverse-Event“ = Aktivismus als Marketing (z. B. BlackRock als „Klimaretter“).

    Das Zitat „Recht auf Luft und Wasser“
    Kritik an der Kommodifizierung von Lebensgrundlagen: Wasser als Aktie, saubere Luft als Luxus (vgl. Smog-Masken-Industrie in Megastädten).

    Selbstzweifel als PR-Strategie
    Die Schlusszeilen („Bin ich der Retter – oder nur ein Händler…“) spiegeln die Inszenierung von „Authentizität“ bei Machthaber:innen (z. B. Elon Musks „existenzielle Twitter-Krisen“, die Aufmerksamkeit generieren). Der echte Zweifel wird zum Spektakel.

    „Lobbyist:innen und ChatGPT-Minister“
    Eine Anspielung auf die Entmenschlichung von Politik: KI-gesteuerte Verwaltung, die scheinbar neutral ist, aber von Konzerninteressen programmiert wird („Regulierung? Sorry, mein Algorithmus sagt Nein.“).


    Die Relevanz dieser Figur

    Philanthropie als Machtinstrument: Gates, Bezos & Co. definieren über Stiftungen globale Gesundheits- oder Bildungspolitik – ohne demokratische Legitimation.

    Politik als Geschäftsmodell: Von Trump (Hotels + Präsidentschaft) bis zu Berlusconis Medienimperium – die Grenzen zwischen Amt und Asset verschwimmen.

    Start-up-Staaten: Tech-Konzerne bauen „Smart Cities“ (Neom, Sidewalk Labs) und werden zu de facto Regierungen.


    Klees Gott war ein Spiel mit göttlicher Überforderung. Der Polit-Unternehmer von heute ist ein Zyniker mit Excel-Tabellen, der Humanismus als „Impact-ROI“ berechnet. Das Gedicht wäre eine düstere Komödie:
    „Ja, ich rette die Welt – aber nur, weil sie sich steuerlich lohnt.“
    Doch gerade darin liegt die Pointe: Je mehr Macht sich in solchen Hybridfiguren konzentriert, desto menschlicher (und brutaler) wirken ihre Schwächen – Gier, Eitelkeit, die Angst, als Hochstapler:in entlarvt zu werden.

    Hier eine weitere Variante des Gedichts. Das Original können Sie in diesem Beitrag lesen.

  • Aus dem Reifen treten – Lyrik von Nathalie Schmid

    Aus dem Reifen treten – Lyrik von Nathalie Schmid

    Abstammung bedeutet nicht nur
    von Männern über Männer zu Männern.
    Abstammung bedeutet auch
    meine Gewalt
    gegen mich eine Hetze.
    Abstammung: Immer noch
    aus Sternenstaub gemacht. Immer noch
    sehr komplex. Immer noch
    auf die Spur kommend.
    Abstammung im Sinne von:
    Ring um den Hals eher auf Schulterhöhe
    ein loser Reifen. Ein Reifen
    den man fallen lassen kann
    aus ihm hinaustreten und sagen:
    Das ist mein Blick. Das ist meine Zeit.
    Das ist mein Alltag. So spreche ich.


    © Nathalie Schmid – Aus:Ein anderes Wort für einverstanden


    Eine Annäherung in zwei Anläufen

    Das Gedicht beginnt mit einem Widerhall – „Abstammung bedeutet nicht nur“ – und reißt eine Tür auf: Nicht nur Männerlinien, nicht nur Blut. Es klingt, als wolle es eine Ader freilegen, die tiefer liegt als Gene, eine Art Erbe, das schmerzt. „Meine Gewalt / gegen mich eine Hetze“ – hier vibriert etwas Zerrendes. Ist das die Stimme einer Generation, die in den Krallen patriarchaler Erzählungen steckt und gleichzeitig gegen sie anschreit? Die Hetze, der innere Lärm, der sagt: Du bist, was aus dir gemacht wurde – und doch…

    Dann der Sprung ins Kosmische: „Immer noch / aus Sternenstaub gemacht.“ Ein Hauch von Carl Sagan, ein Trost im Universellen. Wir sind alle nur Staub, aber dieser Staub funkelt. Hier schimmert eine paradoxe Schönheit: Abstammung als Gefängnis und als Sternenmysterium. Die Zeilen atmen Widerspruch – „sehr komplex“, „auf die Spur kommend“ – als würde das Ich sich selbst wie ein fremder Planet kartografieren.

    Der Bruch: Ein „Ring um den Hals“, locker, fast dekorativ. Keine Fessel, die würgt, sondern ein Reifen, den man fallen lassen kann. Wie eine Schlange, die ihre Haut abstreift. Das Bild ist voller sanfter Revolte: Aussteigen aus dem Kreis, der vielleicht Tradition, Erwartung oder Sprache hieß. Und dann der befreiende Akt – „Das ist mein Blick. Das ist meine Zeit.“ Hier kippt das Gedicht ins Manifestartige. Es ist, als hole das Ich Luft nach Jahrhunderten des Schweigens und spreche sich selbst frei.

    Was sagt mir der Text?
    Er fühlt sich an wie ein Ritual. Zuerst das Benennen der Wunde (Abstammung als Gewalt), dann das Erinnern an die eigene Magie (Sternenstaub), schließlich die Geste des Abstreifens. Der „lose Reifen“ könnte alles sein: Geschlecht, Herkunft, Sprache – Dinge, die formen, aber nicht besitzen dürfen. Das Gedicht wirft Fragen auf, ohne Antworten zu geben: Wie viel von mir ist Erbe, wie viel Eigenes? Und wann wird der Reifen zur Last, statt zum Schmuck?

    Die letzten Zeilen lesen sich wie ein Zauber – eine Selbstermächtigung, die nicht laut poltert, sondern leise, aber entschlossen, den eigenen Raum markiert. Vielleicht ist Abstammung am Ende kein Schicksal, sondern ein Material, das man umschmelzen kann. Aus Sternenstaub und alten Ketten baut das Ich etwas Neues: einen Satz, einen Blick, einen Alltag. Und das klingt nach Freiheit.


    Was mich besonders anspricht, ist die Einladung, die eigene Identität als etwas Lebendiges und ständig Im-Werden zu begreifen. Es geht nicht um das starre Festhalten an einem unveränderlichen Erbe, sondern um das ständige Neuaushandeln der eigenen Geschichte und Rolle in der Welt. In einer Welt, in der Tradition und Moderne oft in Widerspruch stehen, schlägt das Gedicht vor, dass es – ähnlich wie der Mensch – immer in Bewegung ist, sich wandelt und dabei immer wieder über sich hinauswächst.

    Insgesamt wirkt der Text erfrischend unkonventionell und lässt Raum für persönliche Assoziationen. Er erinnert daran, dass Abstammung und Identität nicht als vorgegebene Schicksalslinie betrachtet werden müssen, sondern als etwas, das man aktiv und selbstbestimmt gestaltet. Diese Leichtigkeit im Umgang mit schwerwiegenden Themen ist es, was mir an diesem Gedicht so sympathisch und befreiend erscheint.

    Im ersten Durchgang hatte ich – muss ich gestehen, nicht darauf geachtet, wer dieses Gedicht geschrieben hat. ALs ich dann nach Informationen zur Urheberschaft suchte, realisierte ich, dass es sich um die Autorin Nathalie Schmid handelt. Im zweiten Durchgang habe ich versucht, das Gedicht aus der Perspektive Mann-Frau zu lesen. Macht es einen Unterschied in der Leasart, wenn ich weiß, dass das Gedicht aus feministischer, weiblicher Perspektive geschrieben wurde? Und wenn ja, in welcher Form?

    Ja, auf eine Weise, die den Text nicht verengt, sondern ihn weiter öffnet.

    Der Autorin-Hintergrund wirkt wie ein zusätzliches Fenster, durch das man schaut. Hier einige Gedankenfäden:

    Die Körperlichkeit der Abstammung
    Wenn eine Frau über „Abstammung von Männern“ schreibt, klingt das nach einer existenziellen Spannung: Blutlinien, die oft über männliche Namen weitergegeben werden, Geburtsurkunden, die Väter als erste Zeugen nennen. Die Zeile „von Männern über Männer zu Männern“ wird dann zur konkreten Anklage gegen ein System, das mütterliche Linien unsichtbar macht. Die „Hetze“ könnte hier auch den gesellschaftlichen Druck meinen, sich in diese Linie einzufügen – oder aus ihr auszubrechen.

    Der Ring als Symbol weiblicher Zugehörigkeit?
    Der „Ring um den Hals“ – lose, aber präsent – könnte Assoziationen wecken: das Halsband der Ehe, das Korsett der Rollenerwartungen, sogar den Reif der Venus. Wenn eine Frau ihn ablegt, bekommt das Geste des Abstreifens historisches Gewicht: Jahrhunderte, in denen Frauen „Schmuck“ trugen, der zugleich Fessel war. Der Satz „So spreche ich“ klingt dann wie ein Echo von Autorinnen, die lange um ihre Stimme kämpfen mussten.

    Sternenstaub vs. Patriarchale Schwerkraft
    Das kosmische Bild („Sternenstaub“) steht im Kontrast zur irdischen „Abstammung“. Wenn die Autorin eine Frau ist, könnte dieser Gegensatz auch den Zwiespalt zwischen biologischer Bestimmung („Abstammung als Schicksal“) und dem Wunsch nach Entgrenzung spiegeln. Der Sternenstaub – universell, geschlechtslos – wird zur Gegenwehr gegen die Enge genealogischer Zuschreibungen.

    Die Gewalt als internalisierte Macht
    „Meine Gewalt / gegen mich eine Hetze“: Wenn die Sprecherin weiblich gelesen wird, könnte dies auf internalisierte Misogynie verweisen – die Selbstkritik, die entsteht, wenn man in Strukturen aufwächst, die Weiblichkeit abwerten. Die „Hetze“ wäre dann der innere Lärm einer Kultur, die Frauen lehrt, sich selbst zu misstrauen.


    All das sind Möglichkeiten – keine Fakten. Das Gedicht bleibt vieldeutig. Wichtig ist: Die Autorin als Frau zu kennen, verleiht bestimmten Bildern historische Resonanz, aber es sollte den Text nicht auf eine „weibliche Erfahrung“ reduzieren. Vielleicht geht es hier gar nicht primär um Geschlecht, sondern um Machtstrukturen generell – die Autorin bringt nur eine spezifische Perspektive ein.

    Letztlich verändert es die Lesart insoweit, als es den Kampf um Selbstdefinition konkreter macht. Wenn eine Frau sagt: „Das ist mein Blick. Das ist meine Zeit“, klingt das nach einem Bruch mit jahrhundertealten Schweigegeboten. Der „lose Reifen“ wird dann zum Symbol für alles, was Frauen angelegt wurde – und der Mut, ihn abzustreifen, ohne zu wissen, was darunter liegt.

    Doch das Gedicht atmet auch universelle Sehnsucht: Wer bin ich jenseits dessen, was mir auferlegt wurde? Die Antwort liegt vielleicht im Sternenstaub – und im Mut, den eigenen Alltag zu benennen.

  • Nathalie Schmid – Zwischen Libellen und Gletschern

    Nathalie Schmid – Zwischen Libellen und Gletschern

    Nathalie Schmid, geboren 1974 in Aarau, ist eine der eigenwilligsten und zugleich feinfühligsten Stimmen der zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik. Ihre Texte sind wie filigrane Landschaften – durchzogen von Melancholie, staunender Beobachtung und leiser Ironie. Sie schreibt mit einem Blick, der das Alltägliche poetisch auffächert, ohne es zu verklären. Ihre Sprache tastet, beobachtet, horcht – immer auf der Suche nach dem, was unter der Oberfläche liegt.

    Ihr Weg in die Literatur führte sie an einen traditionsreichen Ort: Von 1998 bis 2003 studierte Schmid am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Dort, wo die Sprache gleichsam seziert und zum Glühen gebracht wird, fand sie ihren literarischen Ton – tastend und präzise zugleich. Bereits ihr Debütband Die Kindheit ist eine Libelle (2005) machte sie zu einer bemerkenswerten Stimme im Feld der deutschsprachigen Lyrik. Es folgten Atlantis lokalisieren (2011), ein poetischer Versuch, Verschwundenes greifbar zu machen, und Gletscherstück (2019), ein Band, der mit karger Schönheit die Landschaften des inneren und äußeren Wandels durchmisst.

    Doch Schmid bleibt nicht bei der Lyrik stehen. 2023 wagt sie den Schritt zur Prosa – mit dem Roman Lass es gut sein, erschienen im Geparden Verlag. In zurückhaltender, verdichteter Sprache erzählt sie darin von Abschieden, von der Brüchigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen, aber auch vom Weitergehen – poetisch und schnörkellos zugleich.

    Für ihr Schaffen wurde Schmid mehrfach ausgezeichnet. Der Lyrikpreis des Autoren Verbandes der Schweiz ehrt ihr besonderes Gespür für sprachliche Nuancen. 2019 erhielt sie zudem einen Werkbeitrag des Aargauer Kuratoriums für Auszüge aus ihrem damals noch unveröffentlichten Lyrikmanuskript Ein anderes Wort für einverstanden – ein Beweis für ihre konstante Weiterentwicklung und das Vertrauen, das ihr die literarische Öffentlichkeit entgegenbringt.

    Nathalie Schmid ist keine Autorin der großen Gesten. Ihre Texte sind leise, aber eindringlich – sie stellen keine Behauptungen auf, sondern öffnen Räume. Wer sich auf ihre Sprache einlässt, merkt schnell: Hier schreibt jemand, die genau hinsieht. Und deren Worte lange nachklingen.

  • Einblicke in den Alltag einer schottischen DorfBuchhandlung

    Einblicke in den Alltag einer schottischen DorfBuchhandlung

    Einblicke in den Alltag einer Buchhandlung: Shaun Bythells „Tagebuch eines Buchhändlers“

    Shaun Bythells „Tagebuch eines Buchhändlers“ gewährt Lesenden einen ungewöhnlichen Zugang in die Welt des Einzelhandels mit Büchern. Auf den Seiten dieses Buches entfaltet sich ein chronologischer Bericht über ein Jahr im Leben einer Antiquariatsbuchhandlung in Wigtown, Schottland. Die Einträge, datiert und oft von lakonischem Humor durchzogen, dokumentieren die vielfältigen Ereignisse, die den Alltag des Autors und seiner Angestellten prägen.

    Man begegnet einer Bandbreite an Kundschaft, deren Interaktionen mit dem Buchladen mal kurios, mal nachdenklich stimmen. Anfragen nach obskuren Titeln stehen neben dem Wunsch nach Bestsellern, und die Reaktionen auf das Angebot der Buchhandlung fallen ebenso unterschiedlich aus. Die Beschreibungen dieser Begegnungen vermitteln ein lebendiges Bild der Dynamik zwischen Buchhändler und Leserschaft.

    Neben den Kunden kommen auch die internen Abläufe der Buchhandlung zur Sprache. Der Leser erhält Einblick in den Ankauf und Verkauf von Büchern, die Organisation des Bestands und die besonderen Herausforderungen, die das Betreiben eines Antiquariats mit sich bringt. Die Schilderungen der täglichen Routinen, unterbrochen von unerwarteten Ereignissen, zeichnen ein authentisches Bild des Arbeitsalltags.

    Die geographische Verortung in einer kleinen schottischen Stadt bildet einen weiteren Rahmen für die Erzählungen. Bythell fängt die Atmosphäre der Umgebung ein und lässt den Leser an den Besonderheiten dieses Ortes teilhaben. Die Schilderungen des Wetters, lokaler Begebenheiten und der Interaktion der Buchhandlung mit der Gemeinschaft tragen zur Verortung der Ereignisse bei.

    Die Sprache des Buches ist direkt und schnörkellos. Die Beobachtungen des Autors werden ohne Umschweife wiedergegeben, wodurch ein unmittelbarer Eindruck entsteht. Die einzelnen Tagebucheinträge sind oft kurz gehalten und fokussieren auf spezifische Ereignisse oder Beobachtungen.

    „Tagebuch eines Buchhändlers“ präsentiert somit eine Sammlung von Momentaufnahmen aus dem Mikrokosmos einer unabhängigen Buchhandlung. Es bietet Lesenden die Möglichkeit, in eine spezifische Arbeitswelt einzutauchen und die vielfältigen Facetten des Umgangs mit Büchern und Menschen kennenzulernen. Die chronologische Struktur und die detaillierten Beschreibungen laden dazu ein, den Jahreslauf in der Buchhandlung mitzuverfolgen und eigene Eindrücke von den geschilderten Situationen zu gewinnen.

  • Shaun Bythell – Tagebuch eines Buchhändlers

    Shaun Bythell – Tagebuch eines Buchhändlers

    Zwischen Bücherliebe und Existenzkampf – Ein Porträt des schottischen Buchhändlers und Autors

    Shaun Bythell ist weit mehr als nur ein Betreiber eines Antiquariats. Er ist ein scharfer Beobachter der Buchwelt, ein humorvoller Chronist seines Alltags und ein unermüdlicher Kämpfer für den Erhalt unabhängiger Buchhandlungen. Seine internationalen Bekanntheit verdankt er seinen ehrlichen und oft urkomischen Schilderungen des Lebens in seinem schottischen Antiquariat, die er in seinem Werk „The Diary of a Bookseller“ auf fesselnde Weise festhält.

    Das Herzstück in Schottlands „Book Town“

    Seit nunmehr über zwei Jahrzehnten, genauer seit 2001, ist „The Bookshop“ in Wigtown, der offiziellen „Book Town“ Schottlands, das berufliche Zuhause von Shaun Bythell. Dieses beeindruckende Antiquariat beherbergt auf über einem Kilometer Regalfläche eine schier unendliche Auswahl von über 100.000 Büchern und beansprucht den Titel des größten Antiquariats in Schottland für sich. Doch Bythells Engagement reicht über den reinen Buchverkauf hinaus: Er ist maßgeblich an der Organisation des jährlich stattfindenden Wigtown Book Festivals beteiligt, das Literaturbegeisterte aus aller Welt in die beschauliche schottische Provinz lockt.

    „The Diary of a Bookseller“ – Mehr als nur Alltagsnotizen

    In seinem vielbeachteten „The Diary of a Bookseller“ nimmt uns Shaun Bythell mit auf eine einjährige Reise durch die Höhen und Tiefen seines Lebens als Buchhändler. Mit einem untrüglichen Gespür für skurrile Situationen und einem herrlich trockenen Humor schildert er die Begegnungen mit einer oft exzentrischen Kundschaft, die täglichen Herausforderungen des Einzelhandels und die liebenswerten Eigenheiten seiner Angestellten. Wie er im YouTube-Interview betont: „Das Buch ist im Grunde genau das, was der Titel sagt: ein Tagebuch. Es dokumentiert den Alltag im Jahr 2014 – und ja, vieles wiederholt sich, wie es eben in jedem Job der Fall ist. Manche Leserinnen und Leser haben das als langweilig empfunden, aber ich glaube, gerade in dieser Wiederholung steckt etwas sehr Echtes. Ich habe nie versucht, witzig zu schreiben – aber es sind oft gerade die kleinen, absurden Szenen, an die man sich erinnert. Und die landen dann im Buch.“

    So entsteht ein authentisches und ungeschöntes Bild des Alltags eines unabhängigen Buchladens, das zugleich eine subtile, aber deutliche Kritik an den Veränderungen im Buchmarkt durch den unaufhaltsamen Aufstieg großer Online-Plattformen formuliert. Bythells feines Gespür für Zwischentöne macht „The Diary of a Bookseller“ zu einer Liebeserklärung an das gedruckte Wort und einer nachdenklichen Reflexion über die Zukunft des Buches.

    Ein Kämpfer für den lokalen Buchhandel

    Shaun Bythell ist ein unermüdlicher Verfechter des Erhalts der unabhängigen Buchhandelslandschaft. Durch seine Bücher und seine öffentlichen Auftritte lenkt er die Aufmerksamkeit auf die unverzichtbare Rolle lokaler Buchläden als kulturelle und soziale Ankerpunkte. Dabei scheut er sich nicht, die oft prekären Auswirkungen der Marktdominanz großer Online-Händler offen anzusprechen. Im Hinblick auf den Vertrieb seines eigenen Buches berichtet er im Interview: „Ich habe versucht, meinen Verlag davon zu überzeugen, das Buch nicht sofort über Amazon zu vertreiben – zumindest nicht in den ersten sechs Monaten. Ich wollte dem stationären Buchhandel einen Vorsprung geben. Aber der Verlag hat abgelehnt, aus Angst vor Vertragsverstößen mit Amazon. Diese Abhängigkeit ist ein echtes Problem. Amazon ist kompromisslos – ein Verstoß, und sämtliche Bücher könnten aus dem Sortiment verschwinden.“

    Bythell spricht aus eigener Erfahrung, da er einst selbst über Amazon verkaufte und aufgrund der sich ständig ändernden Regeln und Gebühren gesperrt wurde. „Ich habe einmal ein Buch für zwei Pfund verkauft und am Ende daran Verlust gemacht. Amazon hat mehr Gebühren einbehalten, als ich verdient habe. Für Verkäufer ist das ein hartes Pflaster.“

    Die Episode mit dem Kindle – Ein Statement mit Schrot

    Die Geschichte, dass Bythell ein Kindle an die Wand genagelt habe, ist zwar eine unterhaltsame Vorstellung, doch die Realität ist – im wahrsten Sinne des Wortes – einschlagender. Tatsächlich demonstrierte er seine kritische Haltung gegenüber E-Readern, indem er ein defektes Kindle-Gerät mit einer Schrotflinte bearbeitete und das Ergebnis in seinem Laden ausstellte. Dieses drastische und humorvolle Statement unterstreicht seine Überzeugung von der Bedeutung physischer Bücher und der Herausforderungen, denen sich traditionelle Buchhandlungen im digitalen Zeitalter stellen müssen.

    Wigtown: Mehr als nur Bücher

    Trotz der Widrigkeiten existiert „The Bookshop“ weiterhin, und auch Wigtown als „Buchstadt“ floriert. Die vor über 20 Jahren initiierte Idee, den Ort zu einem Zentrum für Bücher zu machen, hat sich bewährt und ein kleines, aber stabiles Netzwerk aus Veranstaltungen, Festivals und kleinen Läden geschaffen, in denen sich alles um das geschriebene Wort dreht. Bythell erinnert sich: „Damals konnte ich mir kaum vorstellen, wie das in einer so kleinen, abgelegenen Gemeinde funktionieren soll. Aber es funktioniert – wegen vieler engagierter Menschen, die daran geglaubt und mit angepackt haben. Und es ist ein Privileg, jeden Tag mit Büchern zu arbeiten.“

    Doch nicht nur die Bücher prägen Wigtown, auch die umgebende Landschaft spielt eine wichtige Rolle für die Lebensqualität. „In 15 Minuten bin ich am Fluss, in den Hügeln oder am Meer. Es gibt Sandstrände, Wälder, Berge. Und das Beste: Es bleibt ruhig. Selbst in der Hochsaison wirkt es nie überlaufen. Die Menschen schätzen diese Entschleunigung.“

    Die Zukunft im Blick – Ein Balanceakt

    Angesichts der zunehmenden Urbanisierung und Digitalisierung stellt sich die Frage nach der Zukunft von Orten wie Wigtown. Shaun Bythell blickt jedoch optimistisch in die Zukunft: „Ich glaube, es gibt eine Chance. Wir haben hier in der Region einen Besucherzuwachs von über 40 Prozent erlebt – nicht nur bei uns im Laden, sondern auch bei historischen Stätten. Die Leute entdecken solche Orte wieder. Aber es ist ein Balanceakt: Das, was Wigtown ausmacht – die Ruhe, die Freundlichkeit, der Raum – darf dabei nicht verloren gehen.“

    Shaun Bythell ist somit nicht nur ein Buchhändler und Autor, sondern auch ein Botschafter für eine entschleunigte Lebensweise und den unschätzbaren Wert lokaler Gemeinschaften. Seine ehrlichen Einblicke in die Welt der Bücher und seines Antiquariats sind eine Bereicherung für jeden Leser und regen dazu an, die Bedeutung unabhängiger Buchhandlungen in unserer schnelllebigen Zeit neu zu überdenken.

    Titelfoto: A book lover bed by Oliver Dixon / CC BY-SA 2.0

  • Das Leben als Buchhändler auf dem Lande

    Das Leben als Buchhändler auf dem Lande

    …und warum es lohnt, unabhängigen Buchläden die Treue zu halten.

    In einem kleinen Ort im Südwesten Schottlands, direkt an der Küste von Galloway, liegt Wigtown – offiziell anerkannt als „Scotland’s National Book Town“. Hier lebt und arbeitet Shaun Bythell, Antiquar, Buchhändler – und Autor. Sein Buch The Diary of a Bookseller (Tagebuch eines Buchhändlers) wurde ein internationaler Überraschungserfolg. Es beschreibt ein Jahr in seinem Leben, zwischen Kundengesprächen, Bücherstapeln und dem ganz normalen Wahnsinn eines unabhängigen Buchladens.

    Bythell erzählt:

    „Das Buch ist im Grunde genau das, was der Titel sagt: ein Tagebuch. Es dokumentiert den Alltag im Jahr 2014 – und ja, vieles wiederholt sich, wie es eben in jedem Job der Fall ist. Manche Leserinnen und Leser haben das als langweilig empfunden, aber ich glaube, gerade in dieser Wiederholung steckt etwas sehr Echtes. Ich habe nie versucht, witzig zu schreiben – aber es sind oft gerade die kleinen, absurden Szenen, an die man sich erinnert. Und die landen dann im Buch.“

    Mit einem feinen Gespür für Zwischentöne und einem oft trockenen Humor schildert The Diary of a Bookseller das Innenleben eines der größten Secondhand-Buchläden Schottlands. Es ist eine Liebeserklärung an Bücher – und eine leise, aber klare Kritik an der Entwicklung des Buchmarkts.

    „Ich habe versucht, meinen Verlag davon zu überzeugen, das Buch nicht sofort über Amazon zu vertreiben – zumindest nicht in den ersten sechs Monaten. Ich wollte dem stationären Buchhandel einen Vorsprung geben. Aber der Verlag hat abgelehnt, aus Angst vor Vertragsverstößen mit Amazon. Diese Abhängigkeit ist ein echtes Problem. Amazon ist kompromisslos – ein Verstoß, und sämtliche Bücher könnten aus dem Sortiment verschwinden.“

    Bythell weiß, wovon er spricht. Er hat früher selbst über Amazon verkauft, bis er eines Tages gesperrt wurde – wegen der sich ständig verändernden Regeln und Gebühren.

    „Ich habe einmal ein Buch für zwei Pfund verkauft und am Ende daran Verlust gemacht. Amazon hat mehr Gebühren einbehalten, als ich verdient habe. Für Verkäufer ist das ein hartes Pflaster.“

    Und dennoch lebt sein Buchladen – The Bookshop – weiter. Auch Wigtown lebt. Die Idee, den Ort zur Buchstadt zu erklären, wurde vor über 20 Jahren umgesetzt. Heute hat sich daraus ein kleines, aber stabiles Netzwerk entwickelt. Veranstaltungen, Festivals, kleine Läden: alles dreht sich um Bücher.

    „Damals konnte ich mir kaum vorstellen, wie das in einer so kleinen, abgelegenen Gemeinde funktionieren soll. Aber es funktioniert – wegen vieler engagierter Menschen, die daran geglaubt und mit angepackt haben. Und es ist ein Privileg, jeden Tag mit Büchern zu arbeiten.“

    Aber nicht nur Bücher prägen den Ort. Auch die Landschaft spielt eine Rolle.

    „In 15 Minuten bin ich am Fluss, in den Hügeln oder am Meer. Es gibt Sandstrände, Wälder, Berge. Und das Beste: Es bleibt ruhig. Selbst in der Hochsaison wirkt es nie überlaufen. Die Menschen schätzen diese Entschleunigung.“

    Trotzdem stellt sich die Frage: Wie sieht die Zukunft für Orte wie Wigtown aus – in einer Welt, die zunehmend urbaner und digitaler wird?

    „Ich glaube, es gibt eine Chance. Wir haben hier in der Region einen Besucherzuwachs von über 40 Prozent erlebt – nicht nur bei uns im Laden, sondern auch bei historischen Stätten. Die Leute entdecken solche Orte wieder. Aber es ist ein Balanceakt: Das, was Wigtown ausmacht – die Ruhe, die Freundlichkeit, der Raum – darf dabei nicht verloren gehen.“

    Von Schottland nach Deutschland – und weiter

    Dieses Gespräch mit Shaun Bythell ist mehr als eine Buchvorstellung. Es ist der Ausgangspunkt für eine Reise: eine Reise zu unabhängigen Buchläden, Antiquariaten und den Menschen, die sie am Leben halten. Was in Wigtown funktioniert, funktioniert doch auch hier – da wo ich lebe – oder?!. Ich lebe auf dem Land, wie man so schön sagt, daher interessiere mich zunächst für die Geschäfte in kleinen und mittelgroßen Städten. – Ausgangspunkt ist in diesem Fall Landkreis Lüneburg, Boizenburg, Wendland, Heidekreis und umzu.

    Deshalb möchte ich mich auf den Weg machen, durch mein eigenes Umfeld streifen und die Geschichten der Buchhändlerinnen und Buchhändler sammeln. Sie fragen, was sie bewegt, was sie brauchen, woran sie glauben. Vielleicht entsteht daraus ein kleines Archiv der Stimmen des Buchhandels – lokal, lebendig, lesenswert.

    The Diary of a Bookseller hat mich daran erinnert, wieder genauer hinzusehen. Und vielleicht noch mehr: hinzugehen.


    Buchinformation
    📘 The Diary of a Bookseller von Shaun Bythell
    Englischsprachige Originalausgabe
    Erschienen bei Profile Books (2017)
    ISBN: 978-1781258620


    Titelfoto: Colin Kinnear / The Book Shop / CC BY-SA 2.0

  • Die leeren Regale des Geistes – Mehrings Frage im digitalen Zeitalter

    Die leeren Regale des Geistes – Mehrings Frage im digitalen Zeitalter

    „Was bleibt von den Büchern, wenn die Regale leer sind? Was von den Ideen, wenn ihre Träger vertrieben oder ermordet werden?“ Diese eindringliche Fragen, die Walter Mehring in seinem Werk „Die verlorene Bibliothek“ aufwirft, hallt weit über die dunklen Kapitel der Bücherverbrennungen und Exilierungen des 20. Jahrhunderts hinaus. Sie zielt auf das Wesen von Wissen, Kultur und die fragile Verbindung zwischen Ideen und ihren Verfechtern. Im sogenannten digitalen Zeitalter, in dem Informationen scheinbar unendlich und ubiquitär verfügbar sind, mag Mehrings Frage zunächst an Schärfe verlieren. Doch bei genauerer Betrachtung entpuppt sie sich als eine Mahnung von erschreckender Aktualität, die uns zwingt, die Beschaffenheit unseres digitalen Gedächtnisses und die Gefahren seiner potenziellen Leere zu hinterfragen.

    Mehrings Kontext ist unmissverständlich. Er schreibt aus der Perspektive des Überlebenden, dessen geistige Heimat durch die Barbarei des Nationalsozialismus verwüstet wurde. Die physische Vernichtung von Büchern war dabei mehr als nur die Auslöschung von Papier und Tinte; sie war ein Angriff auf das kollektive Gedächtnis, auf die Vielfalt der Meinungen und auf die Fundamente einer humanistischen Gesellschaft. Die Vertreibung und Ermordung der Autoren, Denker und Künstler riss tiefe Wunden in die intellektuelle Landschaft Europas. Mit ihnen verschwanden nicht nur individuelle Stimmen, sondern auch ganze Denkrichtungen und Perspektiven. Die leeren Regale der Bibliotheken waren somit ein sichtbares Zeichen für die Verarmung des Geistes, für den Verlust einer lebendigen intellektuellen Auseinandersetzung.

    Überträgt man Mehrings Frage in das digitale Zeitalter, so stellen sich neue, komplexe Herausforderungen. Physische Bücherverbrennungen scheinen einer Ära anzugehören, in der Informationsträger greifbar und somit auch zerstörbar waren. Heute sind es digitale Archive, Cloud-Speicher und das unendliche Meer des Internets, die das Wissen der Welt zu bergen scheinen. Doch diese scheinbare Unzerstörbarkeit trügt.

    Die „leeren Regale“ des digitalen Zeitalters manifestieren sich subtiler, aber nicht weniger bedrohlich. Sie können entstehen durch:

    • Digitale Zensur und Löschung: Autoritär regierte Staaten oder mächtige Konzerne können unliebsame Inhalte löschen oder den Zugang zu ihnen blockieren. Algorithmen, die Inhalte filtern und priorisieren, können unbeabsichtigt oder bewusst zur Unsichtbarmachung bestimmter Perspektiven führen. Die digitale „Verbrennung“ erfolgt hier nicht durch Feuer, sondern durch das Verschwinden im digitalen Rauschen.
    • Die Fragmentierung des Wissens: Die schiere Menge an Informationen im Netz kann dazu führen, dass Wissen fragmentiert und kontextlos konsumiert wird. Oberflächliche Lektüre ersetzt die tiefergehende Auseinandersetzung mit komplexen Ideen. Die „Regale“ sind zwar gefüllt, aber der Überblick und die Kohärenz gehen verloren.
    • Die Abhängigkeit von Technologie und Infrastruktur: Das digitale Gedächtnis ist fragil, abhängig von funktionierender Technologie, Stromversorgung und dem Fortbestand von Servern und Software. Ein großflächiger Ausfall oder eine gezielte Cyberattacke könnte immense Wissensbestände gefährden.
    • Die Kommerzialisierung des Wissens: Immer mehr Wissen und Information sind hinter Bezahlschranken oder in proprietären Formaten eingeschlossen. Der freie Zugang zu Bildung und Kultur, ein Grundpfeiler demokratischer Gesellschaften, gerät dadurch in Gefahr. Die „Regale“ sind zwar gefüllt, aber der Zugang ist selektiv.
    • Die Erosion der kritischen Auseinandersetzung: Die algorithmische Filterung von Informationen kann zu Echokammern führen, in denen Andersdenkende ausgeblendet werden. Die lebendige Debatte, die für die Weiterentwicklung von Ideen unerlässlich ist, kann verkümmern. Die „Träger der Ideen“ werden nicht physisch verfolgt, aber ihre Stimmen können im digitalen Raum marginalisiert werden.

    Mehrings zweite Frage nach dem Verbleib der Ideen, wenn ihre Träger vertrieben oder ermordet werden, gewinnt im digitalen Zeitalter eine neue Dimension. Die physische Auslöschung von Menschen ist das grausamste Mittel, um Ideen zu unterdrücken. Doch auch im digitalen Raum gibt es Mechanismen, die die Verbreitung und Weiterentwicklung von Ideen behindern können:

    • Online-Hass und Bedrohungen: Journalisten, Wissenschaftler, Aktivisten und Künstler, die unbequeme Wahrheiten aussprechen oder innovative Ideen vertreten, sehen sich oft einer Flut von Hassreden, Diffamierungen und Bedrohungen ausgesetzt, die bis hin zu realer Gewalt reichen können. Dies kann dazu führen, dass sich Menschen aus dem öffentlichen Diskurs zurückziehen oder ihre Meinungen zensieren.
    • Die Macht der Algorithmen: Algorithmen können Meinungen verstärken oder unterdrücken, je nachdem, wie sie programmiert sind und welche Daten sie verwenden. Dies kann zu einer Verzerrung der öffentlichen Wahrnehmung und zur Marginalisierung bestimmter Perspektiven führen.
    • Die Aufmerksamkeitsökonomie: Im Kampf um die knappe Ressource Aufmerksamkeit können tiefgründige und komplexe Ideen untergehen, während einfache, emotionale oder sensationalistische Inhalte dominieren. Die „Träger“ differenzierter Ideen finden möglicherweise kein Gehör.

    Mehrings Frage ist somit keine bloße historische Reminiszenz, sondern eine dringende Aufforderung zur Wachsamkeit. Auch im digitalen Zeitalter müssen wir uns fragen, wie wir sicherstellen können, dass das Wissen und die Ideen unserer Zeit nicht auf subtile Weise verloren gehen. Es bedarf einer bewussten Auseinandersetzung mit den Mechanismen der digitalen Welt, einer Stärkung der Medienkompetenz, einer Förderung des kritischen Denkens und einer Verteidigung der Meinungsfreiheit im digitalen Raum.

    Die „leeren Regale“ des digitalen Zeitalters sind vielleicht nicht physisch sichtbar, aber die Gefahr der intellektuellen Verarmung ist real. Mehrings Vermächtnis erinnert uns daran, dass der Wert von Büchern und Ideen nicht nur in ihrer Existenz liegt, sondern auch in ihrer Zugänglichkeit, ihrer Verbreitung und der lebendigen Auseinandersetzung mit ihnen. Nur wenn wir diese Prinzipien im digitalen Raum verteidigen, können wir verhindern, dass die Bibliotheken unseres Zeitalters auf unheilvolle Weise leer werden.

  • Walter Mehring – „Die verlorene Bibliothek“

    Walter Mehring – „Die verlorene Bibliothek“

    „Die verlorene Bibliothek“ ist mehr als eine nostalgische Rückschau. Es ist eine bittere Reflexion über die Ohnmacht der Literatur angesichts totalitärer Gewalt. Was bleibt von den Büchern, wenn die Regale leer sind? Was von den Ideen, wenn ihre Träger vertrieben oder ermordet werden?

    Walter Mehring – Chronist des verlorenen Geistes und Mahner der Erinnerung

    Wer die kulturelle Blüte der Weimarer Republik kennt – jenes kurze, intensive Aufflackern von Freiheit, Satire und Avantgarde zwischen den Weltkriegen –, der weiß auch um ihre gewaltsame Zerstörung. Walter Mehring (1896–1981), einer der scharfsinnigsten Chronisten dieser Epoche, hat mit „Die verlorene Bibliothek“ (1951) ein Werk hinterlassen, das gleichermaßen Elegie und Anklage ist. Es ist das Resümee eines Mannes, der selbst aus dem Exil zurückblickte: auf die Bücher, die verbrannt wurden, die Menschen, die ermordet wurden, und die Utopien, die mit Füßen getreten wurden. Mehrings persönliche Erfahrung des Exils, die ihn über Frankreich in die USA und schließlich 1953 zurück nach Europa führte, prägt jede Zeile dieses Buches. Er schreibt nicht nur als Beobachter, sondern als einer, der den Verlust am eigenen Leib erfahren hat.

    Ein Panorama des Untergangs und die Ohnmacht der Worte

    Mehring, dessen Name untrennbar mit dem Berliner Dadaismus und der legendären „Weltbühne“ verbunden ist – für die er messerscharfe Glossen und politische Gedichte verfasste –, entwirft in seinem Buch ein faszinierendes Tableau der bürgerlichen Kultur, die dem Nationalsozialismus zum Opfer fiel. Er lässt die Stimmen der Intellektuellen, Künstler und Literaten jener Zeit wiederaufleben, deren Werke und Leben auf so brutale Weise ausgelöscht wurden. Doch „Die verlorene Bibliothek“ ist mehr als eine nostalgische Rückschau. Es ist eine bittere Reflexion über die Ohnmacht der Literatur angesichts totalitärer Gewalt. Was bleibt von den Büchern, wenn die Regale leer sind? Was von den Ideen, wenn ihre Träger vertrieben oder ermordet werden? Mehring ringt mit dieser Frage und findet darauf keine tröstliche Antwort. Wie er selbst schreibt: „Die Bücher sind verbrannt, die Dichter zerstreut, die Bibliotheken geplündert. Was bleibt, ist die Narbe im Gedächtnis.“

    Satire als Waffe, Melancholie als Erbe – Ein Stil zwischen Schärfe und Schmerz

    Sein Stil ist, wie immer, elegant und vielschichtig: Mal zitiert er scheinbar beiläufig vergessene Werke, um deren einstigen Glanz und nunmehrige Abwesenheit schmerzlich vor Augen zu führen, mal zeichnet er groteske Porträts der geistigen Brandstifter, die Deutschland ins Verderben führten. Dabei bleibt er der Satiriker, der er schon in den Kabaretts der 1920er war – seine Feder ist nach wie vor scharf und entlarvend. Doch der Ton ist härter, die Trauer unüberhörbar. Die Ironie, einst eine Waffe im politischen Kampf, ist nun von einer tiefen Melancholie durchzogen. Mehring beklagt nicht nur den Verlust der Bücher, sondern auch den Verlust einer ganzen Weltanschauung, eines humanistischen Ideals. Er fragt sich: „Kann man eine Kultur verbrennen? Ja, man kann. Und die Asche weht im Wind der Geschichte.“

    Walter Mehring starb 1981 in Zürich, fast vergessen von einer Nachkriegsgesellschaft, die sich nur ungern an die intellektuellen Verluste der NS-Zeit erinnerte. „Die verlorene Bibliothek“ ist sein literarisches Vermächtnis – und eine Mahnung, die heute, in Zeiten neuer Kulturkämpfe und dem Erstarken autoritärer Tendenzen, wieder erschreckend aktuell wirkt. Seine Worte gewinnen eine neue Dringlichkeit, wenn er schreibt: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist verurteilt, sie zu wiederholen.“


    Ein Klassiker der Exilliteratur, neu zu entdecken für alle, die verstehen wollen, was es bedeutet, wenn eine Zivilisation ihre eigenen Grundlagen zerstört. „Die verlorene Bibliothek“ ist mehr als ein Buch – es ist ein Denkmal für den verlorenen Geist einer Epoche und eine eindringliche Erinnerung daran, wie fragil Freiheit und Kultur sein können.

    Im Nachgang ist mir noch einiges durch den Kopg gegangen.

  • Esther Kinsky – Hain. Ein Geländeroman

    Esther Kinsky – Hain. Ein Geländeroman

    Esther Kinskys Roman Hain. Ein Geländeroman erschien 2018 im Suhrkamp Verlag und wurde seitdem vielfach besprochen und mit Literaturpreisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse. Das Buch entzieht sich einfachen Gattungszuschreibungen; es lässt sich schwer einordnen – irgendwo zwischen autobiografisch grundierter Reiseerzählung, poetischer Prosa und kulturreflexivem Erzählen. Es ist autobiografisch grundiert, aber kein klassischer autobiografischer Text; es handelt von Reisen, ist aber kein Reisebuch im herkömmlichen Sinne; es reflektiert über Sprache, Natur, Erinnerung und Tod, ohne eine lineare Handlung zu verfolgen. Stattdessen lässt sich Hain als poetisch durchwirkter Erzählraum begreifen – ein literarisches Gelände, das durchquert und erkundet wird. Das Buch beschreibt drei Aufenthalte in Italien, die durchzogen sind von Erinnerungen, Beobachtungen und Reflexionen über Sprache, Landschaft und Verlust.

    Inhalt und Struktur

    Im Zentrum steht eine namenlose Ich-Erzählerin, die nach Italien reist – nicht auf der Suche nach den klassischen Sehenswürdigkeiten oder der malerischen Postkartenidylle, sondern auf der Suche nach Zwischenräumen. Sie hält sich in drei verschiedenen Gegenden auf: zunächst in Olevano Romano östlich von Rom, eine Kleinstadt, die schon in der Kunstgeschichte als Rückzugsort für deutsche Landschaftsmaler im 19. Jahrhundert bekannt war; später in Chioggia südlich von Venedig; schließlich in Comacchio am Rand des Po-Deltas sowie der Polesine-Region im Nordosten und dem südlichen Apulien. Die Landschaften, Städte und Begegnungen vor Ort dienen als Resonanzräume für persönliche Erinnerungen, insbesondere an den Tod eines nahestehenden Menschen, genauer ihres Vaters. Die Landschaften, Begegnungen und alltäglichen Beobachtungen bilden das narrative Gewebe, in das Erinnerungen an den Vater und frühere Reisen eingesponnen sind. Immer wieder tauchen Motive des Übergangs, der Schwellen und der „Zwischenräume“ auf – in topografischer wie auch in existenzieller Hinsicht.

    Geländeroman

    Der Untertitel „Ein Geländeroman“ spielt dabei auf den Begriff des „Geländes“ an – nicht im Sinne eines Abenteuers, sondern als Versuch, sich über das Gehen, Sehen und Erinnern ein inneres Gelände zu erschließen. Der Begriff ist ungewöhnlich und verweist auf ein zentrales Motiv des Buches: das Umhergehen, das Unterwegssein, das sich dem Gelände Aussetzen. Es geht um ein Gehen in Sprache, Erinnerung und Landschaft – ähnlich wie bei W. G. Sebald, mit dem Kinskys Werk häufiger in Verbindung gebracht wird. Der Text ist dabei durchzogen von poetischen, fast meditativen Beschreibungen: von Friedhöfen, verwilderten Gärten, Straßenhunden, Zugfahrten und Geräuschen. Es handelt sich dabei nicht um einen klassischen Roman mit Handlung, sondern eher um eine literarische Erkundung in essayistisch-poetischer Form.

    Die Autorin Esther Kinsky

    Esther Kinsky wurde 1956 in Engelskirchen (NRW) geboren. Sie lebt als Schriftstellerin, Übersetzerin und Lyrikerin in Deutschland und England. Ihre literarische Arbeit ist vielfach ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Hermann-Hesse-Preis, dem Erich-Fried-Preis und dem Kleist-Preis. Ihr Werk ist stark geprägt von Mehrsprachigkeit, Naturwahrnehmung und Grenzräumen – sowohl geografisch als auch sprachlich und existenziell. Kinsky lebte viele Jahre in London und übersetzte unter anderem Werke von Iossif Brodsky, Olga Tokarczuk, John Burnside, Henry David Thoreau, John Clare und zuletzt J. O. Morgan ins Deutsche. Auch ihre eigene Prosa und Lyrik ist stark von poetischen und sprachreflektierenden Verfahren geprägt. Neben ihrer Prosa hat Kinsky auch Lyrik veröffentlicht, etwa den Band Schiefern (2016), der ebenfalls von Naturbeobachtung und dem Vergehen der Zeit durchzogen ist. Ihre Bücher sind für ihren präzisen, beinahe fotografisch feinen Stil bekannt. Kinsky nähert sich den Dingen in ihrer eigenen Zeit – bedächtig, vielschichtig, oft mit einem ethnografischen Blick.

    Über das Verhältnis von Landschaft und Sprache sagte Kinsky in einem Interview mit dem Deutschlandfunk Kultur: „Ich habe mich schon immer für die Landschaft als eine Form von Text interessiert. Das Gelände, durch das man sich bewegt, ist ein Erzählraum – und ein Raum, in dem Erinnerung abgelagert ist.“ In einem Interview mit dem Deutschlandfunk sagte Kinsky einmal: „Ich bin keine Schriftstellerin, die sich an Erzählfäden entlangschreibt. Mich interessieren eher die Leerstellen, das, was man nicht sagen kann.“ Dieser Satz charakterisiert auch Hain treffend, in dem das Schweigen, das Verschwiegene und das Nicht-mehr-Vorhandene immer wieder in den Vordergrund rücken. Ihr Schreiben ist stark geprägt von einem beobachtenden, zurückgenommenen Erzählen. Es geht weniger um Handlung als um Wahrnehmung. In einem Porträt der Süddeutschen Zeitung hieß es: „Kinsky schreibt gegen das Sprechen an, das alles einhegen, erklären, benennen will – sie hört den Dingen zu, statt sie zu beherrschen.“

    Entstehung und Hintergründe

    Hain entstand nach dem Tod von Kinskys Lebensgefährten, dem englischen Schriftsteller und Übersetzer Martin Chalmers, der 2014 starb. Obwohl das Buch keine explizite Trauerliteratur ist, durchzieht das Thema Verlust den gesamten Text. Der Tod ist nicht Mittelpunkt, sondern Echo – das im Gelände widerhallt. Der Roman ist daher auch ein Trauerbuch – aber kein intimes Bekenntnis, sondern ein literarisch gestalteter Rückzugsraum. Die Reisen nach Italien bilden eine Art Zwischenzustand, ein Schweben zwischen Orten, Sprachen und Zeiten. In einem Interview mit der FAZ sagte Kinsky über das Buch: „Ich habe nichts verarbeitet – ich habe etwas erzählt. Schreiben ist nicht Therapie, sondern Wahrnehmung.“ Die Wahl Italiens als Schauplatz hat mehrere Gründe: Kinsky verbrachte als junge Frau viel Zeit dort, spricht Italienisch und kennt viele der beschriebenen Orte aus früheren Reisen. In der Rückkehr dorthin liegt eine Bewegung in die Vergangenheit, aber auch ein Versuch, die Gegenwart zu verorten. Es handelt sich um ein leises, tastendes Schreiben, das weniger verarbeiten als verstehen will.

    Rezeption und Auszeichnungen

    Hain wurde 2018 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse (Kategorie Belletristik) ausgezeichnet. In der Begründung der Jury hieß es: „Esther Kinsky hat ein Werk von großer poetischer Kraft und existenzieller Tiefe geschrieben, das sich jeder einfachen Einordnung entzieht.“ Auch die Kritiker würdigten das Buch als Grenzgänger zwischen den Gattungen – nicht zuletzt aufgrund seiner formalen Eigenwilligkeit, der offenen Struktur und der sprachlichen Dichte.

    Stilistische Eigenheiten

    Der Text ist durchzogen von mehrsprachigen Elementen, Zitaten aus alten Reiseführern und literarischen Anspielungen. Immer wieder steht die Frage im Raum, was es bedeutet, fremd zu sein – in einer Sprache, in einem Land, in der eigenen Erinnerung. Kinsky arbeitet dabei häufig mit Kontrasten: zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Erinnerung und Beobachtung. Auch das Layout – kurze Absätze, Leerstellen, Einschübe – unterstützt diesen fragmentarischen, tastenden Stil. Das Buch verzichtet weitgehend auf Dialoge und klassische Handlungselemente. Es ist durchsetzt mit Reflexionen über das Verhältnis von Sprache, Erinnerung und Natur. Zahlreiche literarische, kulturgeschichtliche und historische Verweise durchziehen den Text – subtil und oft beiläufig. Der Erzählton ist durchgängig ruhig, zurückgenommen, beinahe kontemplativ.

    Fazit

    Hain. Ein Geländeroman ist kein Buch im klassischen Sinne einer Geschichte mit Anfang, Höhepunkt und Ende. Vielmehr ist es ein feingliedriges, sprachlich präzises und vielschichtiges Werk über das Gehen, Sehen, Erinnern und Schweigen, das sich den einfachen Kategorien entzieht. Es stellt Fragen, ohne Antworten zu liefern – und ist damit selbst ein Gelände, durch das man sich langsam bewegt, tastend, beobachtend. Esther Kinsky eröffnet damit einen Raum für das literarische Durchqueren von Landschaft und Verlust, Sprache und Erinnerung – ein Gelände, das von der Leserin oder dem Leser selbst betreten werden will.

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