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  • Fred Endrikat | Regeln mit Ausnahmen

    Fred Endrikat | Regeln mit Ausnahmen

    Nicht jeder ist ein Dichter, der Gedichte macht,
    nicht jeder ist ein Narr, den man belacht.
    Nicht jeder ist ein Streber, der sich irrt,
    nicht jeder, der sonst gar nichts wird, wird Wirt.
    Nicht alles ist Gewissen, was uns mahnt,
    nicht jeder ist ein Lohengrin, dem etwas schwant.
    Nicht jeder Armleuchter ist auch ein großes Licht,
    nicht alles, was zwei Wangen hat, ist ein Gesicht.

    ***

    Fred Endrikat (1890 – 1942) war ein deutscher Schriftsteller, Dichter und Kabarettist. Seine humoristischen Kabarett-Texte und -Lieder waren seinerzeit sehr erfolgreich. Zu Endrikats Lebzeiten waren seine Verse besonders beim Kleinbürgertum sehr beliebt. Später wurden einige seiner Gedichtzeilen zu geflügelten Worten: so stammt zum Beispiel der bekannte Ausspruch „Doof bleibt doof, da helfen keine Pillen“ ursprünglich aus einem Gedicht Endrikats. Heute ist der Kabarettist, der die Sünde einst mit rotem Mohn im Ährenfeld verglich („Man jätet ihn als Unkraut aus und windet ihn zum Blumenstrauß“) weit weniger bekannt als mancher seiner Aussprüche oder Kabarett-Songs.

  • Richard P. Feynman | Was soll das alles?

    Richard P. Feynman | Was soll das alles?

    Gedanken eines Physikers | Von einem großen Wissenschaftler kann man immer etwas lernen – und erst recht, wenn es sich dabei um den legendären Physiker und Nobelpreisträger Richard P. Feynman handelt. 1963 hielt er in Seattle drei Vorlesungen für ein allgemeines Publikum, in denen er sich Themen widmete, die alle Menschen etwas angehen. Diese Vorlesungen laden dazu ein, zusammen mit Feynman zu reflektieren und seine Denkanstöße aufzunehmen. Er wirbt um Verständnis dafür, dass wir nicht alles wissen werden, was wir wissen wollen, und diskutiert, wie Religion und Wissenschaft vereinbar sind. Außerdem hinterfragt er die beunruhigende Zunahme pseudowissenschaftlicher Ansätze und Dogmen in unserer Zeit und denkt über das gängige Misstrauen gegenüber Politikern nach. Das kluge Buch eines genialen Denkers.  

    Über das Buch || Feynmans Erkennungszeichen sind für viele eben nicht Kreide und Rechenschieber, sondern seine Bongotrommeln. Wahrscheinlich hat dieser Hauch des Unkonventionellen den Piper Verlag dazu bewogen, mit Was soll das alles? den Wortlaut dreier Vorträge, die Feynman im Jahre 1963 bestritten hat, nun auch in Deutsch zu veröffentlichen. Ich bin nicht sicher, ob man dem Vorzeigephysiker damit einen Gefallen getan hat.

    Feymann | Was soll das? Piper

    Die Themen, um die Feynman seine Gedanken kreisen lässt, wecken Neugierde: das Verhältnis von Physik und Religion, Ufos, die Wissenschaftsfeindlichkeit der Menschen & die Esoterik.
    In seinem ersten Vortrag bleibt Feynman auch dicht an seinem Thema (Was ist Wissenschaft, und wie wirkt sie sich auf den Alltag aus), hier macht er auf mitreißende Weise greifbar, was Forscher in ihre Laboratorien treibt. Dieses Niveau kann Feynman aber leider nicht halten. Im zweiten Kapitel wirbeln seine Ideen zunächst mit gewohnter Brillianz um den Zwiespalt zwischen Religion und Wissenschaft, bevor er beim Stichwort Ethik abschweift und leider allzu diffus wird: Er spricht lange über Moral und den Glauben, um dann festzustellen, dass sich ein Physiker hier mit einem Urteil zurückhält — und sich besser nur über Fragestellungen streitet, die man experimentell klären kann. Schade, dass hier nicht mehr herumkommt. Über die nachfolgende Kommunistenschelte sieht man gerne hinweg… immerhin war damals „kalter Krieg“.

    Der dritte Vortrag ist ein Potpourri von Ansichten zu diversen Themen: etwa Kritik an der NASA, Überlegungen zum Ursprung von Ideen, zu Risiken der Atomkraft, zum Humbug Psychoanalyse — leider oft nur angedacht und nicht zu Ende geführt. Vielleicht ist ja keine schlechte Idee, dies dem Leser zu überlassen – ein Anstoß quasi…
    Lohnt sich das Lesen nun?
    Was soll das alles? lässt sich mit Gewinn lesen, es sind immer noch viele wertvolle Denkanstöße darin. Letztlich aber machte sich Feynman hier zu Dingen Gedanken, von denen er wenig versteht. Was man aber von diesem sympathischen Ausnahmeforscher auf jeden Fall lernen kann, ist, „ich weiß es nicht“ zu sagen, wenn man sich mit einem Punkt nicht auskennt — vielleicht macht das manche seiner Ausführungen so unbestimmt. Also: Wer ergänzend mehr über Feynmans Gedankenwelt erfahren möchte, ist mit diesem Buch gut beraten, wer ihn aber erst kennen lernen will, sollte besser zu anderen Büchern des Autors greifen.

    Der Autor || Richard P. Feynman, geboren 1918 in New York, gestorben 1988 in Los Angeles, Studium der Physik am Massachusetts Institute of Technology, ab 1942 Mitarbeiter am ManhattanProjekt in Los Alamos, 1945 bis 1950 Professor für Theoretische Physik an der Cornell University/Ithaca, seit 1950 am California Institute of Technology in Pasadena. 1965 Nobelpreis für Physik.

    Richard P. Feynman | Was soll das alles?
    Originaltitel: The Meaning of it all
    Taschenbuch: 160 Seiten
    Verlag: Piper Taschenbuch; Auflage: 5., Aufl. (1. Mai 2001)
    ISBN-10: 3492233163
    ISBN-13: 978-3492233163

  • Chih-Yuan Chen | Gui-Gui das kleine Entodil

    Chih-Yuan Chen | Gui-Gui das kleine Entodil

    Ein Ei kullert in ein Nest mit Enteneiern. Obwohl dieses „verirrte“ Ei nicht nur viel größer ist als ihre eigenen ist, sondern auch noch ganz anders aussieht, nimmt die Entenmutter es als eines der ihren auf und brütet es aus. Was Chen übrigens wunderbar darstellt mit einer vorlesenden Entenmutter, die mit dem Buch auf dem übergroßen Ei tront.

    Als vier kleine Küken aus den Eiern schlüpfen, lässt uns Chih-Yuan Chen an der Vielfalt des Lebens teilhaben: Die Entschlüpften unterscheiden sich in ihrem Aussehen deutlich. Eines hat blaue Tupfen und bekommt den Namen Buntstift. Das zweite Küken hat Streifen und wird Zebra getauft. Dem dritten Ei entschlüpft ein gelbes Küken namens Mondschein. Und aus dem „KuckucksEi“ schlüpft ein kleines blaugraues Krokodil, das unaufhörlich „gui-gui“ spricht. Deshalb wird es auch einfach Gui-Gui gerufen.

    Chih-Yuan Chen – Gui-Gui

    Die Entenmama kümmert sich rührend um ihre Kleinen und macht keinen Unterschied im Hinblick auf Größe, Farbe oder sonstige Besonderheiten. Zusammen erkunden sie die Welt, haben Spaß und ergänzen sich wunderbar.

    Eines Tages wird diese Idylle dann doch empfindlich gestört; wie es sich für Gleichnisse gehört. Drei ausgewachsene Krokodile betreten die Bühne und reden auf Gui-Gui ein: er sei ein Krokodil und solle sich auch als solches verhalten. Daher verlangen sie von ihm, dass er ihnen hilft, die köstlich zarten, saftigen, fetten Enten zu ohne großen Aufwand fressen zu können. Die drei garstigen Krokodile schlagen also vor, dass Gui-Gui seine „Geschwister im Geiste“ am nächsten Tag zur Brück zu führen um dort „ins-Wasser-springen“ zu spielen. Nur dass die Enten statt des Wasser die offenen Mäuler der drei Garstigen erwartet.

    Gui-Gui ist verwirrt und sehr traurig, er fühlt sich nicht wie ein garstiges Krokodil; er muss sich aber auch eingestehen, dass er keine Ente ist. Doch beim Anblick seines Spiegelbildes auf der Wasseroberfläche eines kleinen Teiches findet Gui-Gui seinen Humor wieder: „;Ich bin gar kein Krokodil, aber ich bin auch keine Ente. Ich bin ein Entodil.“ Gui-Gui betrachtet laut lachend sein verzerrtes Spiegelbild und tatsächlich: Es sieht aus wie eine Mischung aus Krokodil und Ente.

    Nach langem hin und her kommt ihm schließlich eine gute Idee, wie er seine Entenfamilie retten kann. Die drei garstigen Krokodile lauern bereits unter der Brücke und warten darauf, dass ihnen die Enten in den Schlund springen, aber sie warten vergebens. Stattdessen wirft Gui-Gui ihnen riesige Steine ins Maul, an denen sie sich ihre Zähne abbrechen. Die Krokodile suchen das Weite und sind seither spurlos verschwunden. Er hat seine Familie gerettet und Gui-Gui, das Entodil, lebt mit ihnen glücklich und zufrieden.

    Der Autor und Illustrator Chih-Yuan Chen, geboren 1975, lebt und arbeitet in Taiwan. Er wurde mehrfach mit dem renommierten Hsin Yi Picture Book Award ausgezeichnet. Sein Bilderbuch über „;Gui-Gui, das kleine Entodil“ eroberte seit seinem Erscheinen 2003 die internationalen Bestsellerlisten.

    Inspiriert wurde der Künstler durch die Adoptionsgeschichte eines asiatischen Freundes, der von einer amerikanischen Familie adoptiert wurde.

    Chen’s Geschichte über Liebe, Akzeptanz und Selbstentdeckung hat alle Zutaten auch hier ein Lieblingsbuch zu werden.

    Die schlichte, kluge Geschichte ist illustratorisch, aussergewöhnlich umgesetzt – mit einer MischTechnik aus Tinte und Wasserfarbe – und überzeugt durch seine Originalität. Chen hat ein wunderbares Gespür für Farben und Formen. Selbst für Erwachsene eignet sich diese Lektüre wunderbar, denn es macht Spaß die Feinheiten und „versteckten“ Andeutungen, Zeichen zu erkunden. Dabei büßen die Hauptfiguren von Chih-Yuan Chen ihren „Niedlichkeitsfaktor“ ganz und gar nicht ein. Im Gegenteil: Irgendwie schafft er es, sie gerade wegen ihrer fein herausgearbeiten Eigenheiten so liebenswert erscheinen zu lassen. Besonders fällt die lebendige Mimik von dem kleinen Gui-Gui auf; durch seine kindliche Körpersprache noch unterstützt. Seine kleine beräderte Holzente ist bei seinen Abenteuern immer dabei – niedlich. Als Gui-Guis Stimmung auf dem Tiefpunkt ist, wirkt auch die kleine Holzente mit ihrem abgefallenen Holzrädchen ein wenig derangiert. Eine stimmig dargestellte Atmosphäre.

    Seine Farbwahl wirkt ruhig und vermittelt Ausgeglichenheit. Überwiegend benutzt Chen gedämpfte Farben wie grün, braun, und unterschiedliche Grautöne, die mit blauen, orangen und roten Details hervorgehoben werden. Die Hintergründe sind abwechselnd in weiß, schwarz und grau gehalten, was den wechselnden Rhythmus in der Geschichte fein widerspiegelt. Dabei fällt auf: wann immer die garstigen Krokodile auftauchen, wird der Hintergrund matt-dunkel und schwarze Vögel tauchen auf. So verdeutlicht Chen das bedrohliche Szenario so, dass die garstigen Krokodile über ihr Aussehen hinaus, den Stempel des Bösen bekommen.

    Dass der Grundtenor der Geschichte jedoch so humorvoll ist, ist dem vordergründig so leichtgängigen,lebensklugen Erzählbogen zu verdanken, sowie den humorvollen, vielschichtigen Illustrationen.

    Besonders schön ist auch die Illustration, wo die Mutter ihren Sprösslingen im Schwimmen, Tauchen und Watschelgang unterrichtet. Alle Enten halten ihre Schnäbel stolz in die Luft, während Gui-Gui größer und stärker als seine Geschwister, die ganze Entenfamilie mit dem Fahrrad heimfährt.

    Mein Fazit || Gui-Gui das kleine Entodil ist ein wunderschönes Bilderbuch über das Anderssein, Liebe und Toleranz. Es ist ausdrucksstark, mitreißend und funktioniert für Eltern und Kinder. Dieses Bildwerk kann man x mal zur Hand nehmen und entdeckt immer wieder neue Kleinigkeiten.

    Der Autor || Chih-Yuan Chen wurde 1975 geboren und ist freischaffender Kinderbuchillustrator. Er hat in seiner Heimat Taiwan zahlreiche Bilderbücher veröffentlicht und ist dreimaliger Gewinner des begehrten Hsin Yi Picture Book Award. Viele seiner Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Chih-Yuan Chen lebt mit seiner Frau und Zwillingskindern im Süden Taiwans. Er liebt es, spazieren zu gehen, mag keine Anzüge, ist groß und dünn.

  • Serhij Zhadan || Anarchy in the UKR

    Serhij Zhadan || Anarchy in the UKR

    »Vergiss die Politik, lies keine Zeitung, geh nicht ins Netz, verweigere deine Stimme«

    So beginnt der »Linke Marsch«, ein Kapitel aus Serhij Zhadans zweitem Prosaband, dem ein Song der Sex Pistols, Anarchy in the UKR, als Motto dient. Zhadan ist dabei, sich zur stärksten Stimme der jungen ukrainischen Literatur zu entwickeln – und zum Antipoden von Juri Andruchowytsch. Auch Zhadans Ich-Erzähler ist ständig im Zug oder in bizarren Landschaften unterwegs. Doch es zieht ihn nicht zu den Ruinen der habsburgischen Vergangenheit, sondern in die Industriebrachen des Donbass im Südosten des Landes – an die Orte des von den Sowjets zerschlagenen Anarchokommunismus. Niemand scheint sich an Nestor Machno zu erinnern. Anarchismus, das gab es nie. Bis er im November 2004 in Charkiw, zu Füßen des »Fuck-Lenin-Denkmals«, wiederaufersteht.

    Das Buch || Serhij Zhadan gilt als der populärste ukrainische Lyriker seiner Generation. Im Jahr 2006 erschien im Suhrkamp-Verlag der Gedichtband „Die Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts“. Seitdem wird Serhij Zhadan gern mit Rimbaud verglichen. Bekannt wurde er mit den Prosawerken Depeche Mode und dem von den Sex Pistols inspirierten Anarchy in the UKR. Ein postproletarischer Postpunk, der mit Rausch und Rockmusik zu den ukrainischen Industrieruinen reist, um dort die Orte des Anarchokommunismus eines Nestor Machno zu finden. 
    „Intim, brutal und lyrisch“, so charakterisiert Serhij Zhadan seinen Prosatext Anarchy in the UKR in eigenen Worten. Nach Juri Andruchowytsch ist der 33-Jährige der nächste ukrainische Autor, der mit seinen Texten auch im deutschsprachigen Raum für Aufsehen sorgt. Warum die Literatur seiner Heimat in Europas Westen seit einigen Jahren gefragt ist, beantwortet er ironisch: „Vielleicht geht es den Autoren in der Schengenzone nicht besonders gut?“

    Er selbst ist bei Erscheinen des Buches offiziell arbeitslos gemeldet und lebt zeitweise von der Hand in den Mund. Beklagen will Zhadan sich nicht: „Ich habe kein Auto, kein Haus mit Swimmingpool und kaufe kein Kokain. Ich habe jedoch ein Fahrrad und ganz gute Honorare bei meinen Verlagen.“

    Seine ersten Lyrikbände veröffentlichte der im ostukrainischen Charkiw lebende Autor bereits als Teenager. Vor ein paar Jahren ist er zur Prosa übergewechselt. Ein Glücksfall, kombinieren seine Texte doch in bestechender Weise Belesenheit und Literarizität mit einem scharfen Bewusstsein für Popkultur, Rausch und Exzess, wie es sich höchst selten findet.

    In seinem letzten Roman „Depeche Mode“ lässt Zhadan die Bilder der postkommunistischen Umbruchsphase Anfang der neunziger Jahre aufleben und zieht durch die verlassenen Industrieruinen, die an die russische Herrschaft im Osten der Ukraine erinnern. In „Anarchy in the UKR“ geht er noch ein Stück weiter zurück und sucht die Orte des von den Sowjets zerschlagenen Anarchokommunismus auf, die auch die Orte seiner Kindheit sind.

    Auf seinen sentimentalen Reisen ist der Weg das Ziel. Die Figuren nehmen mit Vorliebe den langsamsten Zug und steigen möglichst oft um. Wer die Direktverbindung wählt, verpasst alles. Seine Schilderungen handeln von liebevoll  beschriebenen Zugbekanntschaften, die teils recht skurril sind, von endzeitlichen Nebenstrecken, von Schnapsleichen auf Bahnhöfen und gähnend leeren Wartesälen. Zitat:

     „Alles, was spannend ist, spielt sich auf Bahnhöfen ab, und je kleiner der Bahnhof, um so mehr Spannendes. Es ist ein großer Fehler zu glauben, der Staat hätte Einfluss, Einfluss hat der Bahnhofsvorsteher, der in seinem Büro sitzt und den nächsten Güterzug von West nach Ost passieren lässt.“

    Doch was passiert eigentlich? Zhadans Prosa lädt sich an der Sehnsucht nach Erlebnissen, nach Inhalten und Sinn auf, die ihre melancholischen Helden in sich tragen. Eine Sehnsucht, die nicht erfüllt wird. Bilder sind wichtiger als Ideologie. Sie waren es vermutlich immer schon. Der Held von Anarchy stellt wenig verblüfft fest, „dass die Farbwahl und Komposition von ,Ehre und Ruhm der Partei‘ aus den Achtzigern dem ,Always Coca Cola‘ der Neunziger gleicht.“

    Und der Wandel in der Ukraine, bläst der keinen frischen Wind in den Osten des Landes? „In Charkiw sprechen die Leute auf der Straße alle noch russisch“, sagt Zhadan. Allerdings: „Wenn man sie ukrainisch anspricht, antworten sie sehr oft auch ukrainisch. Die meisten verstehen sich heute durchaus als ukrainische Bürger und arbeiten für unsere Wirtschaft.“

    Dem Autor Zhadan ist die heutige Ukraine – noch – uninteressant. Bald könnte das freilich anders aussehen: „Schon entwickeln sich die ersten Ruinen des Kapitalismus“, schmunzelt er. Vielleicht streifen seine Helden irgendwann durch die Ruinen hastig aufgezogener Flagship-Stores und Fastfood-Lokale. Big Mäc ist ein noch nicht ins Deutsche übersetztes Buch betitelt. Oder sie handeln von den aktuellen Konflikten mit Putins Schergen.

    Vielleicht bleibt Zhadan dem schönen Urbild seines Schreibens treu: einem verlassenen Bahnhof. „Denn es hängt doch so wenig von uns ab“, heißt es in einem Gedicht, „das Leben hat ja weder Ende noch Anfang / und nach jeder großen Liebe / bleiben leere / Wartesäle zurück.“

    Der Autor || Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört seit 1991 zu den prägenden Figuren der jungen Szene in Charkiw.  Er ist Schriftsteller, Lyriker und Übersetzer. (Quellen: suhrkamp/wikipedia)

    Randbemerkungen || Serhij Schadan wurde 2006 mit dem Hubert Burda Preis für junge Lyrik ausgezeichnet.
    Der Schriftsteller war Aktivist der Orangen Revolution.
    Er tritt als Organisator von Literatur- und Musik-Festivals in Erscheinung und verfasst MusikTexte, die er selbst zur Musik der Band Sobaky w kosmossi (übersetzt: Hunde im Kosmos) spricht.

    Serhij Zhadan | Anarchy in the UKR
    Erschienen: 26.11.2007
    edition suhrkamp 2522, Broschur, 216 Seiten
    ISBN: 978-3-518-12522-9
    Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe

  • Jürgen Brater | Lexikon der rätselhaften Körpervorgänge  

    Jürgen Brater | Lexikon der rätselhaften Körpervorgänge  

    Warum wir rot werden, wissen wir ja meist. Aber was genau geht da vor sich? Unser Körper gibt uns täglich viele solcher kleinen und großen Rätsel auf: Morgens haben wir »Sand in den Augen«, vormittags knurrt uns vor Hunger der Magen, nach dem Mittagessen leiden wir unter bleierner Müdigkeit, nachmittags macht uns ein Kaffee plötzlich wieder putzmunter, abends im Konzert müssen wir zwanghaft an der leisesten Stelle husten, beim Einschlafen bemerken wir ein unkontrolliertes Muskelzucken und kaum schlafen wir endlich, beschwert sich der Partner über unser Schnarchen. Das Lexikon der rätselhaften Körpervorgänge erklärt in verständlicher und lockerer Weise, aber mit medizinischer Kompetenz, was hinter den ganzen Rätseln steckt – vom peinlichen Furz bis zum angenehmen Geschmackserlebnis und vom bedrohlichen Ohnmachtsanfall bis zum aufregenden Verliebtheitsgefühl.

    Rezension || Manches, was in diesem Buch aufgeführt ist, wäre genauso gut im „Buch des nutzlosen Wissens“ besser aufgehoben. Dazu zählt die z.B. die Angabe, dass wir beim Atmen nicht beide Nasenlöcher gleichzeitig benutzen, sondern mal das linke und mal das rechte – und das ganz unbewusst. Eine solche Information ist entbehrlich, dafür wenigstens amüsant und überraschend – oder?

    Jürgen Brater – Lexikon der rätselhaften Körpervorgänge

    In seiner unterhaltsamen Mischung liegt die Stärke des Buches. Mal erklärt Autor Dr. Jürgen Brater sachlich, kurz und verständlich medizinisches Grundwissen: Was beim passiert Asthma? – oder – Haben sterilisierte Männer noch einen Samenerguss? Andere Lemma nutzt der studierte Mediziner und Zahnmediziner, um offene Rätsel aufzuzeigen: So konnte trotz umfangreicher Forschung bis heute nicht geklärt werden, warum manche Menschen bei Zugluft einen steifen Hals bekommen. Nebenbei werden Ergebnisse aktueller medizinischer Studien vorgestellt: Danach haben Ärzte einer amerikanischen Augenklinik herausgefunden, dass Babys, die nachts im Hellen schlafen, später besonders häufig kurzsichtig werden. Und: ein Team Hawaiianischen Medizinern, das 20 Jahre lang rund 3500 Männer zwischen 71 und 93 Jahren untersuchte, stellte überraschend fest: Männer mit hohem Cholesterinspiegel leben am längsten. Leider vermeidet es der Autor darauf einzugehen, wie umstritten diese Resultate sind.
    Dr. Jürgen Brater klärt uns auch über folgende Fakten auf: Wir erfahren dass Bier nicht dick macht – sondern die Brezel dazu. Dass es keinen bösen Blick gibt und warum man immer denkt, man stünde in der langsameren Schlange beim Einkauf. Dass man im Konzert nur hustet, wenn es nicht gut ist, und dass Naseputzen bei Schnupfen sehr ungesund ist. Oder auch, dass weder Masturbieren noch zu nah vor dem Fernseher Sitzen schädlich ist.

    Mein Fazit || Das Buch ist kein Lexikon zum Nachschlagen, dafür fehlt es an Systematik und Vollständigkeit- es fehlt z.B. ein Schlagwortregister. Aber zum vergnüglichen Konsum zwischendurch eignet es sich vorzüglich.

    Der Autor || Dr. Jürgen Brater, 1948 in Ostfriesland geboren, schloss 1972 das Studium der Medizin und Zahnmedizin an der Universität Erlangen mit Promotion ab. 1976 ließ er sich in eigener Zahnarztpraxis in Aalen nieder. Seit 2003 ist er darüber hinaus als Biologielehrer an einem Abend-Gymnasium und erfolgreicher Autor zahlreicher Bücher tätig. Er lebt mit seiner Familie in Aalen.

    Dr. Jürgen Brater || Lexikon der rätselhaften Körpervorgänge
    Von Alkoholrausch bis Zähneknirschen
    Eichborn Verlag 2002
    ISBN: 3821839163
    497 Seiten

  • Yael Dayan || Ich schlafe mit meinem Gewehr

    Yael Dayan || Ich schlafe mit meinem Gewehr

    Obwohl es sich zweifellos um einen autobiografischen Bericht handelt, heißt die Hauptperson des Romans Ariel Ron. Sie erinnert sich in Frankreich an die Zeit, in der sie (unter anderem) auch ihren Wehrdienst  in der israelischen Armee geleistet hat. Als Tochter aus guten Hause, dazu eigenwillig und begabt, hat sie den Armee-Massenbetrieb als übel empfunden. Aber Selbstdisziplin, gestützt durch persönlichen Stolz und eine, allerdings jugendlich etwas verfrühten Menschenverachtung, lässt sie mit Demütigungen und körperlichen Strapazen gut fertig werden. Sie avanciert schließlich zum Leutnant und wird Beste des Offizierslehrgangs. Als Truppenführerin bewährt sie sich erneut.Außerhalb ihres knappen Eigenlebens im Rahmen des militärischen Reglements entfaltet Ariel Ron auf Urlaub eine rührige Tätigkeit als Männerfängerin. Sie, die an der Unnahbarkeit ihres bewunderten Vaters überaus leidet, versucht (halb und halb ersatzweise) mit weiblichen Listen wenigstens andere Männer als Liebhaber zu gewinnen und auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege auch kleinzukriegen.

    Nach anfänglichen Teilerfolgen misslingt  ihr der kühl gefasste Plan, die Brüder Ned und Bill gegeneinander auszuspielen, woran ihr ganz besonders gelegen gewesen ist. Sie erleidet eine peinliche Niederlage und findet sich daraufhin erst recht allein und unglücklich.

    Aus ihrer Niedergeschlagenheit und ihrem Trotz-Bedürfnis, noch finsterer als bisher die Rolle der Menschenverächterin und jugendlichen Bösen darzustellen, wird sie schließlich von einem älteren Mann namens Peter Brend befreit. Brend liebt sie mit überlegener Uneigennützigkeit. Weder ihre eigenen Versuche, ihn menschlich zu enttäuschen, noch die üble (wenn auch wahrheitsgemäße) Nachrede Neds und Bills können ihn beirren.
    Dadurch  wird schließlich dem Mädchen Ariel Ron die Einsicht zuteil, dass es statt auf die Menschenverachtung eher auf die Menschenliebe ankomme. Insofern blickt ein neues Gesicht sie aus dem Spiegel an.

    Yael Dayan | Ich schlafe mit meinem Gewehr | BuchCover

    Leider wurde der Titel bei der Übersetzung stark verfälscht, denn Ariel Ron zieht ihrem Gewehr durchaus junge Männer vor.. Es ist ein elektrisierendes, aber völlig sauberes Buch.
    Ihren Roman „Neues Gesicht im Spiegel“ hat Yael Dayan ihren Eltern gewidmet.  Die Widmung entspricht diesem neuen Gesicht, mit dem ausgestattet die blutjunge Autorin ihre Mädchenbekenntnisse niederschrieben hat. Die Handlung ist recht dürftig, nämlich kaum verknüpft, eher hintereinanderweg erzählt. Trotzdem zieht den Leser eine angenehme Spannung rasch durch den Roman.

    Die innere Handlung ergibt sich aus den seelischen Schwierigkeiten Ariel Rons. Es sind keine mitleiderregenden Schwierigkeiten , weil die kleine Persönlichkeit dieses Mädchen dank praller Lebenskraft und ruheloser Intelligenz ihre Probleme sozusagen verlebt, statt sie zu bejammern.
    Letztlich geht es ihr im ihren Vater. Nichts erstrebt sie mehr als seine Anerkennung, allerdings vergebens. Er bleibt unzugänglich in der bekannten rauhen Schale und unglaublich bedeutend – eine denkmalartige Sagenfigur, der man nicht einmal mit Anbetung oder Hass beikommt.
    Einen weiteren Supermann bietet die junge Dayan in Peter Brend, dem älteren Herrn, der sie von ihren Jugenmädchenwirren erlöst. Er ist die Güte selbst, die Väterlichkeit in Person. Im Grunde ist er der kindlich erträumte Vater, den sie im leiblichen Vater schmerzlich vermisst. Auf der weiblichen Personenseite kann nicht eine den dargestellten Männern das Wasser reichen. Es geht – vermutlich auch wegen dieser Fixierung auf den Vater – vorwiegend um Männer, aber alles jugendlich aufrecht und straff und dabei weiblich zurückhaltend.

    Das Ganze hat eine Jugend, eine Frische und Ehrlichkeit, wie sie in der neuabendländischen Jugendliteratur so gut wie unbekannt ist. Deutlich sind die Naivität, die unerfahrene Schwarz-Weiß-Malerei, die anfängerische Erzähltechnik; ebenso deutlich die junge Begabung.

    Das Besondere: das Mädchen hat ausnahmsweise über seine Entwicklungserlebnisse so geschrieben, wie Mädchen dergleichen wirklich durchmachen. Die Autorin hat dabei sowohl auf konventionelle Vertuschungen wie auf ebenso konventionelle Enthüllungen verzichtet. 

  • Armin Honkô Kaiser | Das Leiden beenden

    Wenn wir an Leiden denken, dann meist zuerst an das, worunter wir selbst leiden oder worunter jemand leidet, der uns nahe steht.

    Als Nächstes denken wir wahrscheinlich an andere, von denen wir gehört haben, dass sie leiden, an Fernsehbilder oder Zeitungsartikel über Menschen – oder Tiere – in Not. Manch eine/r nimmt auch eine andere Art von Leiden wahr, ein grundsätzliches Leiden, dass sie/er nicht benennen kann, das aber immer da zu sein scheint…
    Doch machen wir uns auch Gedanken darüber, was das mit uns zu tun hat? Was unser Anteil daran ist, dass andere Wesen oder wir selbst leiden und was wir tun können um das zu verhindern?

    Armin Honkô Kaiser / Annette Oswald – BuchCover

    Zen-Mönch Armin Honkô Kaiser nutzt konkrete Lebenssituationen um das Entstehen von Leid, dessen Entwicklungsprozesse und Möglichkeiten dieses zu beenden aufzuzeigen. Dazu hat er Geschichten, Gedichte und Anmerkungen zusammengestellt und diese mit vielen eigenen Illustrationen bebildert. In einfacher Sprache und dem Menschen freundlich zugewandt nimmt Honkô Kaiser den Leser mit auf eine Gedankenreise. der buddhistische Hintergrund scheint deutlich hindurch; man muss aber kein Zen-Anhänger sein um einen Zugang zu finden.

    Foto: Privat
    Foto: Privat

    Der Autor ||  „Schon als Jugendlicher hatte ich das Gefühl, dass es so etwas wie eine kosmische Ordnung, einen Sinn geben müsste“ sagt Zen-Mönch und Autor Armin Honkô Kaiser.
    Der Zen-Mönch, 1960 in Lüneburg geboren, machte nach Abitur und verschiedenen kaufmännischen Tätigkeiten, seine erste Bekanntschaft mit dem Zen-Buddhismus in Lübeck, im dortigen Zen – Dôjô. Später wurde er Schüler des Zen-Meisters Ludger Tenryu Tenbreul. Seit 2005 gibt er Kurse an der VHS Lüneburg und gründete 2007 das Zen-Dôjô in der Hansestadt.


    Mein Fazit || Ein schönes Buch, dass ich immer wieder gern zur Hand nehme. Armin Honkô Kaiser übernimmt mit seinen Hilfestellungen die Funktion eines Mentors. Und das macht er auf angenehme Weise.

    Das Leiden beenden – Armin Honkô Kaiser
    Books on Demand GmbH, Norderstedt – 2011
    Paperback – 140 Seiten
    ISBN: 978-3-8423-7139-2

    Das Buch kann direkt bei Books on Demand bestellt werden; alternativ bei amazon.de oder in jeder Buchhandlung.

  • Regina Scheer | AHAWAH Das vergessene Haus

    Regina Scheer | AHAWAH Das vergessene Haus

    AHAWAH bedeutet im Hebräischen Liebe. || AHAWAH stand bis in die dreißiger Jahre über der Tür des Hauses in der Berliner Auguststraße 14/16, am Rande von Berlin, im s.g. Scheunenviertel. Erbaut durch den Architekten Eduard Knoblauch. Von 1861-914 diente es als Krankenhaus der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Danach war es das Kinderheim „Beit Ahawah“ (Haus der Liebe) für Kinder jüdischer Flüchtlinge aus Osteuropa, die sich in den Slums des Scheunenviertels niedergelassen hatten. Von 1941-1943 war dieses Haus Sammelstelle für den Abtransport jüdischer Menschen in Konzentrationslager. Später schien es keine Vergangenheit mehr zu haben.
    Ab 1947 wurde daraus die Max-Planck-Oberschule, die Regina Scheer als Schülerin in den 1960er Jahre besuchte.

    Bettina Scheer – Ahawah | Aufbau Verlag

    Schon damals,so schreibt sie, spürte sie die besondere Geschichte des Gebäudes und begann zu recherchieren. In den nachfolgenden 25 Jahren, in denen sie Karriere als Journalistin machte, heiratete und eine Familie gründete, Zeitzeugin des Zusammenbruchs der DDR mit den sich anschließenden gesellschaftlichen kommunalen Veränderungen wurde, behielt sie die Auguststraße 14/16 immer in ihrem Hinterkopf; und das Entdecken – oder besser: aufdecken seiner Vergangenheit wurde ein wichtiger Teil ihres Lebens. Die Journalistin spürte Menschen auf, die vor dem Krieg in diesem Haus gelebt hatten, einschließlich Kinder aus dem Haus selbst, durchforstete alte Zeitungen und suchte relevante Dokumente in verschiedenen Archiven, wie dem Archiv des Oberfinanzpräsidenten in West-Berlin. Dort fand sie Listen von Juden, die in Lager im Osten des Landes deportiert wurden.

    Regina Scheer fügt so ein detailliertes Mosaik des jüdischen Lebens in der Auguststraße von den 1860er Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, insbesondere von 1914 bis 1945, zusammen.
    Einerseits bestimmt von der jüdischen Religion und kulturellen Konzepts Zedakah, „Gerechtigkeit, die natürliches und soziales Unrecht ausgleicht „(36 et passim): der Hilfe weniger privilegierter Mitbürger; der Unterstützung und Motivation mittels Krankenhäusern, Schulen, Altenheimen, Suppenküchen, Kinderbetreuungseinrichtungen, etc..
    Und andererseits durch den umgreifenden Antisemitismus, die Beschlagnahme in den 1930er und 40er Jahren des Vermögens der Jüdischen Gemeinde, die Schließung der gemeinnützigen Einrichtungen auf Auguststraße und die Deportation der Juden  von dort.

    Tzədāqā oder Ṣ’daqah (hebräisch צְדָקָה), häufig auch Tzedaka oder Zedaka, ist ein jüdisches Gebot. Tzedaqa spielt in der jüdischen Tradition eine wichtige Rolle, dem sowohl jüdische Männer als auch Frauen gleichermaßen verpflichtet sind. Tzedaka leitet sich vom hebräischen Wort für Gerechtigkeit ab. Meist wird Tzedaka jedoch mit Wohltätigkeit (bzw. Charity) übersetzt.

    Nach Maimonides gibt es acht Stufen der Tzedaqa:

    • Höchste Stufe: Dem Bedürftigen die Möglichkeit zu geben, sich selbständig zu ernähren (Hilfe zur Selbsthilfe)
    • Wohltätig sein in einer Weise, dass der Spender und der Bedürftige nicht voneinander wissen.
    • Der Wohltäter weiß, wem er gibt, aber der Arme erfährt nicht von der Identität des Spenders.
    • Der Gebende kennt nicht die Identität des Bedürftigen, aber dieser kennt den Spender.
    • Geben, bevor man gebeten wird.
    • Geben, nachdem man gebeten wird.
    • Zwar nicht ausreichend, aber mit Freundlichkeit geben.
    • Mit Unfreundlichkeit geben.

    Diese Vergangenheit wurde nach dem Krieg unter den Teppich gekehrt. Nirgendwo in der Schule war ein Hinweis auf die jüdischen Ursprünge des Gebäudes oder seiner Funktion während des Faschismus zu sehen. Die Bewohner in der Nachbarschaft mit denen Regina Scheer hatte schon längst verdrängt, was mit den jüdischen Einwohnern passiert war. Als sie diese Vergangenheit rekonstruierte, wurde das Versagen des DDR-Staates bewusst, der u.a. auf dem Grundsatz des Antifaschismus gegründet worden war.
    Die Autorin zieht Parallelen zur heutigen Situation und der Rolle der Juden in Deutschland und bezieht kritisch Stellung zum wiederkehrenden Antisemitismus.

    „Regina Scheer fand viele Lebensläufe und teilte sie mit. Sie schrieb ein Buch zur Geschichte und gleichzeitig ein Buch über Regina Scheer.“ | Vera Friedländer, Die Weltbühne

    Durch das Buch hindurch zieht sich als roter Faden der Abgleich des „Deutschen Verhaltens“ mit dem jüdischen Gesetz der Zedakah.
    Regina Scheers Text ist eine intensive Darstellung von Errungenschaften, Konflikten und dem Leiden der jüdischen Bevölkerung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es enthält Dokumente, Gespräche und unzählige persönliche Geschichten – Scheer hilft dadurch in gelungener Weise, die Erinnerung an die wechselvolle Geschichte und jenen ehemaligen Bewohnern der Auguststraße 14/16 zu bewahren.

    In seiner Anschaulichkeit, seiner Wärme und dem Sinn für Menschenwürde, ist das Buch auch eine Würdigung der Arbeit von Heinz Knobloch. Nach dem Lesen des Buches, man geht man durch die Auguststraße mit anderen Augen.

    Die Autorin || Regina Scheer (* 1950 in Ost-Berlin) ist eine deutsche Autorin. | Scheer veröffentlichte mehrere Bücher zur deutsch-jüdischen Geschichte und hat 2014 ihren ersten Roman Machandel  [Knaus] vorgelegt, für den sie den Mara-Cassens-Preis erhielt.

    Regina Scheer | AHAWAH. Das vergessene Haus
    Spurensuche in der Berliner Auguststraße
    Broschur, 320 Seiten
    Aufbau Taschenbuch
    ISBN: 978-3-7466-1008-5

  • Franz Kafka || Gemeinschaft

    Franz Kafka || Gemeinschaft

    Wir sind fünf Freunde, wir sind einmal hintereinander aus einem Haus gekommen, zuerst kam der eine und stellte sich neben das Tor, dann kam oder vielmehr glitt so leicht, wie ein Quecksilberkügelchen gleitet, der zweite aus dem Tor und stellte sich unweit vom ersten auf, dann der dritte, dann der vierte, dann der fünfte. Schließlich standen wir alle in einer Reihe. Die Leute wurden auf uns aufmerksam, zeigten auf uns und sagten: »Die fünf sind jetzt aus diesem Haus gekommen.« Seitdem leben wir zusammen, es wäre ein friedliches Leben, wenn sich nicht immerfort ein sechster einmischen würde. Er tut uns nichts, aber er ist uns lästig, das ist genug getan; warum drängt er sich ein, wo man ihn nicht haben will. Wir kennen ihn nicht und wollen ihn nicht bei uns aufnehmen. Wir fünf haben zwar früher einander auch nicht gekannt, und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht, aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird, ist bei jenem sechsten nicht möglich und wird nicht geduldet. Außerdem sind wir fünf und wir wollen nicht sechs sein. Und was soll überhaupt dieses fortwährende Beisammensein für einen Sinn haben, auch bei uns fünf hat es keinen Sinn, aber nun sind wir schon beisammen und bleiben es, aber eine neue Vereinigung wollen wir nicht, eben auf Grund unserer Erfahrungen. Wie soll man aber das alles dem sechsten beibringen, lange Erklärungen würden schon fast eine Aufnahme in unsern Kreis bedeuten, wir erklären lieber nichts und nehmen ihn nicht auf. Mag er noch so sehr die Lippen aufwerfen, wir stoßen ihn mit dem Ellbogen weg, aber mögen wir ihn noch so sehr wegstoßen, er kommt wieder.


    Kurzprosa (vermutlich unvollendet) || Der Titel der Parabel stammt von Max Brod. Entstanden: Anfang September 1920.

    Erstmals veröffentlicht: 1936 in Band V der Gesammelten Schriften, hrsg. von Max Brod mit Heinz Politzer, Prag, Verlag Heinrich Mercy Sohn (Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß).

  • Tayyib Salih | Die Hochzeit des Zain

    Tayyib Salih | Die Hochzeit des Zain

    Die Geschichte beginnt damit, dass verschiedene Leute im Dorf erfahren, dass ein Mann namens Zein verheiratet werden soll. Zein ist nicht, was die meisten als attraktiv bezeichnen würden, ist er dürr wie eine knorrige Ziege, haarlos und durch den Akt der Geister hat er bis auf zwei vordere Zähne alle anderen verloren. Trotz seiner skurrilen Art und seinen unersättlichen Appetit, ist Zein beliebt im Dorf. Immer wieder verliebt er sich in die schönsten Frauen des Dorfes; ist er dann mit dieser Liebe erfüllt, lässt er dies alle Welt wissen. Es vergeht dann kaum Zeit und die ersten „edlen Freier“ buhlen um diese Frauen.

    Cover Unionsverlag mit Kinderhand
    Cover Unionsverlag mit Kinderhand

    Kein Wunder also, dass sich die Mütter sehr um Zains Gunst bemühen, um ihre Töchter durch diesen erfolgreichen Liebesboten an die besten Männer der Gegend zu vermitteln. Niemand scheint es aber wirklich wahr zu nehmen, dass Zain sich zwar ständig verliebt aber am Ende doch allein bleibt. Zu wichtig ist die „gute Partie“ für die Familien, denn die bringt reiche Mitgift.

    Der Zain ist aber nicht nur ein erfolgreicher Kuppler, er ist Bindeglied für alle Gruppen im Dorf, welches in drei große Lager gespalten ist: den Anhängern des Imam und dessen Gegners, die zum größten Teil aus jungen Männern besteht.  Die einflussreichste Gruppe besaß alle Felder des Dorfes, die Männer waren alle verheiratet, hatten Kinder und trieben Handel. Sie kümmerten sich um alle offiziellen Feierlichkeiten und sorgten für den reibungslosen Ablauf. Der Zain stand ganz für sich; er schlichtet Streit, führt mit seiner fröhlichen Art immer wieder zusammen und spricht mit den Randgruppen des Ortes, denen eher aus dem Weg gegangen wird.  So hält er eine Gemeinschaft zusammen, die immer wieder auseinander zu brechen droht.

    Eines Tages nun prophezeit im sein Freund Hanin, dass auch er sein Glück findet und das beste Mädchen im Dorfe heiraten wird. Diese Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer im Dorf und sorgt und scheucht alles Leben auf. Diese Hochzeit würde alle boshaften Stimmen verstummen lassen und Zain zum Manne werden lassen.

    Die Hochzeit von Zain ist eine reizvolle, gut zu lesende Erzählung über eine bunte Gemeinschaft und den sehr liebenswerten Mann in ihrer Mitte. Es ist das Buch für Leser, die fernab des Mainstreams Literatur und fremde Kulturen entdecken wollen. Die Szenerie einer traditionellen, muslimischen Stadt im Sudan an der Schwelle zu Wachstum und Modernisierung, ist gelungen umgesetzt. Die Kultur wird mit Liebe, Zuneigung und Kenntnis porträtiert.
    Die Hochzeitsfeier selbst ist so rührig und anschaulich beschrieben, dass ich meinen könnte unter den Feiernden zu sein. Und am Ende feiert man Zains Hochzeit mit, aus Freude, dass es dieser Zausel geschafft hat, das Glück zu finden.

    Die Erzählung „Die Hochzeit des Zain“ gilt als die berühmteste des Sudan und wurde 1976 verfilmt.

    Die arabische Erstausgabe erschien 1966 unter den Titel „Urs-az-Zain“.
    Trivia zur Verfilmung: Der Film wurde in Kuweit produziert. 1978 wurde er zu den „Oscars“ für die Rubrik „Bester ausländischer Film“ eingereicht. Das Werk scheiterte bereits bei der Nominierung. Dies war der letzte Beitrag, den Kuweit seitdem eingereicht hat.

    Die Übersetzung stammt von Stafan Reichmuth, aktuell Professor für Orientalistik und Islamwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum.

    Der Autor | Foto: Unionsverlag

    Der Autor |At-Tayyib Salih [arabisch الطيب صالح] wurde 1929 in der Nordprovinz des Sudan geboren und verstarb 2009 in London. Er war mit einer Engländerin verheiratet und stammte aus bäuerlichen Verhältnissen. Er studierte in Khartoum und arbeitet eine Zeitlang als  Lehrer, bevor er seine Ausbildung in England fortsetzte. Er arbeitet für der BBC und bekleidete verschiedene Posten bei der UNESCO.

    Ein zentrales Thema seines Werkes ist die Überschreitung kultureller Grenzen zwischen traditioneller sudanesischer und westlicher Kultur.

    Werke auf Deutsch

    Die Hochzeit des Zain. Roman. Unionsverlag, Zürich 1992; Originalausgabe ʿUrs al-Zain. 1966 Neuauflage als: Sains Hochzeit. Lenos, Basel 2004, ISBN 3-85787-350-7

    Zeit der Nordwanderung. Roman. Lenos, Basel 1998, ISBN 3-85787-267-5 (gebunden); ISBN 3-85787-662-X (Taschenbuch)

    Eine Handvoll Datteln. Erzählungen. Lenos, Basel 2000, ISBN 3-85787-295-0

    Taschenbuchausgabe, zusammen mit Zains Hochzeit, als: So, meine Herren. Sämtliche Erzählungen. Lenos, Basel 2009, ISBN 978-3-85787-725-4

    Bandarschâh. Roman.Lenos, Basel 2001, ISBN 3-85787-322-1

  • Hartwig Rademacher | Akute Literatur

    Hartwig Rademacher | Akute Literatur

    » Ich habe keine Bücher, die Bücher haben mich. «

    Mitbegründer und langjähriger Geschäftsführer des Merve Verlags Peter Gente

    Buchvorstellung: „Akute Literatur“ von Hartwig Rademacher

    „Ich habe keine Bücher, die Bücher haben mich.“ – Peter Gente, Mitbegründer des Merve Verlags

    Dieser Satz kam mir in den Sinn, als ich auf das Buch „Akute Literatur“ stieß. Es war kein Zufall, dass dieses Werk in meine Hände fiel – vielmehr schien es, als ob es genau den richtigen Moment für sich gewählt hätte.

    „Akute Literatur“ ist ein bibliographischer Zeilenwurf, den Hartwig Rademacher als „Bibliografie von Titeln, in denen ich etwas Akutes entdeckt habe“ bezeichnet. Der Autor führt uns durch eine Sammlung von Hunderten fiktiver Literaturangaben aus verschiedenen Bereichen wie Psychologie, Soziologie, Ästhetik und Religion. Die angeführten Titel existieren mutmaßlich nicht, und laden die Lesenden ein, sich eine eigene Realität daraus zu erschaffen. Einige dieser Titel sind von solch anziehender Präsenz, dass sie Fragen aufwerfen, zum Schmunzeln anregen oder einfach den Gedankenfluss in Gang setzen. Beim Lesen wird man immer wieder in den Bann dieser Titel gezogen und entdeckt – mit einem Moment des Staunens – die „Akutheit“, die in jedem von uns steckt.

    Der Akut stammt aus dem Lateinischen (acutus) und bedeutet „scharf, schneidend“. Gebildet zu acuere „schärfen, spitzen“  fordert es nahezu auf, diesen Titeln eine persönliche Form zu verleihen. Es ist ein subtiler Appell, der Lektüre mit einer eigenen Perspektive zu begegnen. -> Angeregte Dialoge.

    Die Sammlung umfasst ausschließlich Sachliteratur, aber während des Lesens fragt man sich oft, ob nicht doch auch aus einigen dieser Titel Prosa, Lyrik oder etwas Bildhaftes (Zeichnung, Graphic Novel)  entstehen könnte. 

    „Rademachers Werk ist in seiner Form bestechend. Ich ziehe den Hut vor  seiner assoziativen Kreativität. Ich greife die Vorlage auf, das Akute in mir zum Ausdruck zu bringen. Allerdings fern einer übermäßigen Ich-Bezogenheit. Die kann ich in dieser Bibliografie nirgends finden. 

    Hartwig Rademacher wurde 1969 in Paderborn geboren und hat Psychologie in Bielefeld und Boca Raton studiert. Er lebt und arbeitet in Bielefeld. Das Werk „Akute Literatur“ ist Elisabeth gewidmet. Laut seinem linked.in Profil bietet der Diplom-Psychologe Psychologisches Lektorat und Kurse in kreativem Schreiben an.

    LektüreNotizen

  • Bettina Schnerr-Laube

    Bettina Schnerr-Laube

    Ob Papier, Reader oder Tablet, Bücher vertrage ich in jeder Form und habe eigentlich immer eines dabei. Denn Bücher sind für mich Expeditionen, ein Aufeinandertreffen mit Charakteren und Orten und jedes Buch verlasse ich um einige Erfahrungen und Eindrücke reicher.

    Meiner Leselust verdanke ich einen persönlichen Rekord von zwischenzeitlich vier Bibliotheksausweisen gleichzeitig. Wie man sieht, bin ich Vielleserin, aber nicht unbedingt Allesleserin: Meine Schwäche gilt nach wie vor den Kriminalromanen. Damit hatte ich als Kind schon angefangen und dieses vielfältige Genre hat mich nie losgelassen.

     

    Nach einem inspirierenden Expat-Aufenthalt in Japan wünsche ich mir selbstredend mehr Übersetzungen japanischer Titel. Auch sonst suche ich gerne Autoren außerhalb der gängigen Pfade.

    Ihre Artikel finden Sie hier.

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