Renatus Deckert - Plötzensee - Anthologie Es gibt eine andere Welt - Poetenladen Verlag

Renatus Deckert – Plötzensee

Das Gedicht beschreibt den Besuch eines Ortes, der als Hinrichtungsstätte diente. Der Raum wird sachlich geschildert: Unter der Decke sind Haken und ein schwarzer Balken sichtbar. Die kahlen, grauen Wände umschließen eine leere Stille, in die man vorsichtig hineintritt. Diese Stille wird als drückend beschrieben – wie Steine auf der Zunge oder ein einhüllender Rauch. An den Wänden finden sich keine direkten Spuren der Vergangenheit oder der letzten Blicke der Hingerichteten. Das einzige Zeugnis der Geschehnisse sind schriftliche Dokumente: Mit Schreibmaschine getipptes Papier, auf dem die Namen der Hingerichteten verzeichnet sind. Hinter jedem Namen steht ein Haken, und die Punkte der Schreibmaschine sind wie Einschlagkrater ins Papier gedrückt.

Von Peter H. Feist - Feist collection of slides, resource ID 12554, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=85599676
Von Peter H. Feist – Feist collection of slides, resource ID 12554, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=85599676

Historische Einordnung:
Das Gedicht bezieht sich auf die Hinrichtungsstätte im Gefängnis Berlin-Plötzensee während der nationalsozialistischen Diktatur (1933-1945). Hier wurden zwischen 1933 und 1945 tausende Menschen durch den Fallbeil oder den Strang hingerichtet, darunter politische Gegner des NS-Regimes, Widerstandskämpfer (wie viele aus dem Umfeld des Attentats vom 20. Juli 1944) und Opfer der NS-Militärjustiz. Die beschriebenen Haken und der schwarze Balken verweisen auf die Galgen, die für Massenhinrichtungen genutzt wurden. Die erwähnten Dokumente mit den Haken hinter den Namen entsprechen den geführten Hinrichtungslisten. Das Gedicht entstand vermutlich in der Nachkriegszeit als Auseinandersetzung mit diesem Ort des NS-Terrors.

Renatus Deckert arbeitet hier implizit mit Gefühlen, sowohl durch die Darstellung der Wirkung des Ortes auf den Besucher als auch durch die Lenkung der Leserwahrnehmung:

Körperliche und sensorische Wirkung:

Die Befehlsform („Senkst du die Lider“) und die direkte Ansprache („so siehst du„, „in die du behutsam die Schritte setzt“) ziehen den Leser in die Perspektive des Besuchers hinein.

Körperliche Reaktionen werden beschrieben: Die Stille legt sich wie „Steine auf deine Zunge“ und „hüllt dich ein wie Rauch“. Diese Metaphern evozieren direkt das Gefühl von Erstickung, Schwere, Lähmung und einem undurchdringlichen, bedrückenden Schleier.

Atmosphärische Verdichtung:

Begriffe wie „Stille“, „Leere“, „Grau“ und „behutsam“ erzeugen eine Atmosphäre der Beklemmung, Ehrfurcht und Bedrohung. Die Stille ist nicht friedlich, sondern aktiv und drückend („legt Steine“, „einhüllt“).

Der Kontrast zwischen der scheinbaren Leere („Kein Fleck an der Mauer erzählt…“) und dem einzigen, umso schrecklicheren Zeugnis (das Dokument mit den „Kratern“ und „Haken“) steigert die Düsterkeit.

Lenkung der Aufmerksamkeit auf das Unsagbare:

Das Schweigen der Mauern („erzählt nicht von dem letzten Blick“) und die Betonung der Stille lenken den Fokus auf das Abwesende – das Grauen, das hier stattfand und das sich der direkten Darstellung entzieht. Diese Leere erzeugt beim Leser das Gefühl des Unfassbaren und Entsetzens.

Gewalt in der Sprache:

Die Beschreibung des Dokuments ist emotional aufgeladen: Die Punkte sind „wie Krater ins Blatt geschlagen“, die Feder ist „kratzend“, die Haken hinter den Namen wirken wie brutale Abhakvorgänge. Dies überträgt die Gewalt der Vergangenheit auf das materielle Zeugnis.

Der Autor benennt keine Gefühle direkt (wie „Angst“, „Trauer“ oder „Abscheu“). Stattdessen erzeugt er emotionale Wirkungen:

Durch die Identifikation mit der Besucherperspektive („du“).
Durch die Schilderung körperlicher Empfindungen (Steine auf der Zunge, einhüllender Rauch).
Durch die Verdichtung einer bedrückenden, gewaltvollen Atmosphäre (Stille, Leere, Grau, das gewaltsame Dokument).
Durch das Aufzeigen der Abwesenheit von Spuren, was das Grauen nur umso präsenter macht.

Lesende werden also nicht über ihre Gefühle informiert, sondern durch Sprache und Bildlichkeit unmittelbar in einen Zustand der Beklemmung, des Unbehagens und der Trauer über das Unsagbare versetzt. Die Gefühle entstehen aus der Wahrnehmung des Ortes und seiner Zeugnisse, die der Autor sprachlich vermittelt.

Das Gedicht erschien 2011 in der Anthologie Es gibt eine andere Welt – erschienen im Poetenladen. Der Internetauftritt der Gedenkstätter Plötzensee.

  • Wenn die Hände denken.

    Wenn die Hände denken.

    Du musst deinem Leben Hände geben. Das Gedicht „RATLOS„von Jürgen Völkert-Marten schlägt mir entgegen wie eine kalte Wand. Eine Litanei des Erstickens: Strick. Pistole. Schlaftabletten. Eine Aufzählung von Auswegen, die keine sind, sondern Sackgassen, Abgründe. Ausreißen. Neu anfangen. Schluß machen. Leben fortwerfen. Die Verzweiflung ist greifbar in ihrer sprachlichen Kargheit. Keine Bilder, nur nackte Substantive, Verben des Endens oder…

  • Dies Sirren – Adolf Endler im Gespräch mit Renatus Deckert

    Dies Sirren – Adolf Endler im Gespräch mit Renatus Deckert

    LektüreNotizen | Eingeleitet ist dieser Gesprächsband mit dem Abdruck einer handschriftlichen Version seines titelgebenden Gedichts aus dem Jahre 1971: Dies SirrenUnd wieder dies Sirren am Abend. Es gilt ihnen scheint es für SingenIch boxe den Fensterladen auf und rufe He laßt mich nicht ratenIhr seid es Liliputaner das greise Zwergenpaar van der KlompenCui bono ihr…

  • Kurt Schumacher – Fallender

    Kurt Schumacher – Fallender

    Der Bildhauer Kurt Schumacher (1905-1942) schuf eine männliche Figur im Moment des Falls. (Im Stil des Expressionismus?) aufgerichtet und die Arme emporreißend, zeigt die Skulptur eine tiefe Wunde in Herzhöhe. Aus ihr strömt Blut, das sich wie ein stilisiertes Gewand um die Hüften legt, die Scham des nackten Körpers bedeckt und an den Beinen hinunterfließt.…

  • Widerstand als ethische Grammatik

    Widerstand als ethische Grammatik

    2 Minuten

    in

    Ergänzung zu Kurt Schumachers Fallender | Einige zeitgenössische Texte und künstlerische Positionen, die Kurt Schumachers Skulptur und den Widerstandsgedanken neu reflektieren. Hier eine Auswahl mit Schwerpunkt auf jüngeren Werken (ab 2000): Widerstand als ethische Grammatik Uwe Kolbe: „Der Gott der Frechheit“ (2021)Kolbes Gedichtzyklus verbindet historische Widerstandsfiguren mit aktuellen Protestformen. Die Zeile „Die aufrechte Krümmung des…

  • Fast verlorene Stimmen

    Fast verlorene Stimmen

    3 Minuten

    in

    Immer wieder beschäftigt mich: Wie kann ich als Blogger einen wirklich essenziellen Beitrag zur Erinnerungskultur leisten? Mein Weg führt mich dahin, das künstlerische Potential der Ermordeten sichtbar zu machen. Kurt Schumacher ist für mich dabei mehr als ein Beispiel – er ist ein Schlüssel. Ich möchte verlorene Kunstwerke als kulturelle Leerstellen begreifbar machen. Nehmen wir Schumachers „Der Stürzende“ (1935).…

  • Im Gedenken auf Distanz

    Im Gedenken auf Distanz

    2 Minuten

    in

    Gedenkstätten für Opfer des Nationalsozialismus und anderer Verbrechen verwenden vielfältige, oft mehrschichtige Methoden des Erinnerns, die sich aus ihrer Funktion als Orte der Trauer, Bildung und historischen Dokumentation ergeben. Die folgenden Ansätze basieren auf aktuellen Konzepten der Gedenkkultur und dienen mir als Orientierung, mich mit diesem komplexen Materielle Spuren und bauliche Zeugnisse Authentische Relikte: Konservierte…

  • Bodenhaftung

    Bodenhaftung

    In dieser Rubrik meiner LeseProjekte habe ich Texte versammelt, die sich direkt oder indirekt mit unserer s.g. Erinnerungskultur beschäftigen. Da ich zu diesem Begriff keinen Zugang finde, habe ich Bodenhaftung ausgesucht. Bodenhaftung im Sinne von „geerdet sein“, sich der Realität stellen, nicht abheben. Außerdem: Wir haften auch für die Folgen unseres Verhaltens. Das erscheint mir…

  • Renatus Deckert – Plötzensee

    Renatus Deckert – Plötzensee

    Das Gedicht beschreibt den Besuch eines Ortes, der als Hinrichtungsstätte diente. Der Raum wird sachlich geschildert: Unter der Decke sind Haken und ein schwarzer Balken sichtbar. Die kahlen, grauen Wände umschließen eine leere Stille, in die man vorsichtig hineintritt. Diese Stille wird als drückend beschrieben – wie Steine auf der Zunge oder ein einhüllender Rauch.…

  • Renatus Deckert

    Renatus Deckert

    Renatus Deckert (*1. Mai 1977 in Dresden) ist ein deutscher Autor, Herausgeber und Literaturwissenschaftler. Er studierte Literatur und Philosophie in Hamburg, Berlin und Paris. 2009 promovierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit über das Motiv des zerstörten Dresden im Werk der Dichter Volker Braun, Heinz Czechowski und Durs Grünbein. Von 1997 bis…


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

error: Content is protected !!