Eine Ergänzung zur literarischen Analyse – von der Theorie zur Praxis des aktiven Lesens
Was geschieht, wenn wir einen Text wie „Sandrine“ nicht nur lesen, sondern ihm antworten? Wenn wir die fragmentarischen Erinnerungen nicht als abgeschlossenes Kunstwerk betrachten, sondern als Einladung zu einem Dialog verstehen?
Diese Frage entstand aus einem intensiven Gespräch über Jane Wels‘ Text und führte zu einer grundlegenden Überlegung: Literatur ist nichts Feststehendes, sondern dem Prozess des Lesens und Reflektierens ausgesetzt.
Die Einladung annehmen
„Sandrine könnte eine jede sein“ – dieser Satz aus dem Text ist mehr als nur eine Beobachtung. Er ist eine explizite Öffnung, eine Aufforderung an uns Lesende: Du könntest Sandrine sein. Du könntest ihre Erinnerungen mit deinen eigenen füllen.
Die bewusst gesetzten Leerstellen im Text – die Sprünge zwischen Paris und Germersheim, die unvollständigen Dialogfetzen („You are so funny! Stay like this.“), die körperlichen Metaphern ohne eindeutige Zuordnung – sind nicht Schwächen, sondern designierte Plätze für unsere eigene Interpretation.
Was bedeutet „aktives Lesen“ konkret?
1. Die innere Resonanz zulassen
Statt nach der „richtigen“ Bedeutung zu suchen, können wir fragen: Welche eigenen Erinnerungen werden durch „Zeit ist ein Hüpfspiel“ wach? Was löst „feucht vermalte Erstarrung“ in mir aus?
Der Text wird dadurch nicht beliebig interpretierbar, sondern individuell vervollständigt.
2. Den Assoziationsraum erkunden
Die geografischen Sprünge (Paris – London – Germersheim) laden dazu ein, die emotionale Landkarte nachzuzeichnen. Sind das Orte der Liebe? Des Verlustes? Der Transformation? Jede Leserin bringt ihre eigene Erfahrung mit Orten mit und erschafft damit ihre Version von Sandrines Erinnerungsraum.
3. Die Körperlichkeit ernst nehmen
„Wie ein Fresko legt es sich auf ihre Haut. Schicht um Schicht…“ – hier spricht nicht nur ein Bewusstsein über Erinnerung, sondern ein Körper erinnert sich. Diese somatische Dimension können wir nur verstehen, wenn wir unsere eigenen körperlichen Erinnerungen aktivieren.
Der Text in der Öffentlichkeit: Warum die WORTSCHAU wichtig ist
Dass „Sandrine“ in einem Literaturmagazin erscheint, verändert den Charakter der Einladung fundamental. Es ist nicht mehr nur Jane Wels, die uns zum Dialog einlädt – die Redaktion der WORTSCHAU tut es mit.
Das bedeutet: Dieser Text ist es wert, dass wir uns die Mühe machen. Er ist Teil eines größeren kulturellen Gesprächs über zeitgenössische Literatur, über neue Formen des Erzählens, über weibliche Stimmen in der Gegenwartsliteratur.
Möglichkeiten der Antwort
Die Einladung zum Dialog kann auf verschiedenen Ebenen angenommen werden:
Interpretativ: Wir können die Fragmentkarten zu einem eigenen Bild zusammenlegen und diese Deutung teilen – in Gesprächen, in Rezensionen, in Diskussionen.
Kreativ: Wir können auf den Text mit eigenen Fragmenten antworten, seine Struktur übernehmen und mit unserem Material füllen. (Wie bereits in der Fortsetzung „Er“ geschehen.)
Kuratorisch: Wir können den Text weiterempfehlen, auf ihn aufmerksam machen, ihn in neue Kontexte stellen.
Kritisch: Wir können ihn in die literarischen Diskurse unserer Zeit einordnen und seine Bedeutung für die Entwicklung experimenteller Prosa diskutieren.
Die Furcht vor dem „Entwerten“
Oft zögern wir, einen poetischen Text zu analysieren oder zu interpretieren, aus Angst, ihn dadurch zu „zerstören“. Doch das Gegenteil ist der Fall: Nur durch aktive Auseinandersetzung wird ein Text lebendig.
„Sandrine“ einfach nur „schön zu finden“ und dabei zu belassen, wäre die eigentliche Entwertung. Es würde bedeuten, die sorgfältig konstruierte Einladung der Autorin zu ignorieren und den Text als passiv zu konsumierendes Objekt zu behandeln.
Ein praktischer Vorschlag
Wer mit „Sandrine“ weiterarbeiten möchte, könnte zum Beispiel:
- Die eigenen Assoziationsketten zu den Orten und Bildern im Text aufschreiben
- Eigene fragmentarische Erinnerungen in ähnlicher Struktur verfassen
- Die Körpermetaphern sammeln und mit eigenen ergänzen
- Den Text mit anderen lesen und die verschiedenen Interpretationen vergleichen
Jede dieser Aktivitäten ist eine Form des Respekts vor dem Kunstwerk – und eine Art, die Einladung anzunehmen, die Jane Wels uns mit „Sandrine“ ausgesprochen hat.
Literatur entsteht nicht nur beim Schreiben, sondern auch beim Lesen. Texte wie „Sandrine“ erinnern uns daran, dass wir als Lesende nicht passive Konsumenten, sondern aktive Teilnehmer an einem kulturellen Dialog sind.
-
Über die Kunst des dialogischen Lesens mit Jane Wels‘ „Sandrine“
3 MinutenEine Ergänzung zur literarischen Analyse – von der Theorie zur Praxis des aktiven Lesens Was geschieht, wenn wir einen Text wie „Sandrine“ nicht nur lesen, sondern ihm antworten? Wenn wir die fragmentarischen Erinnerungen nicht als abgeschlossenes Kunstwerk betrachten, sondern als Einladung zu einem Dialog verstehen? Diese Frage entstand aus einem intensiven Gespräch über Jane Wels‘…
-
Jane Wels‘ Sandrine
4 MinutenErinnerungen sind selten linear. Sie flackern, tauchen auf, verschwimmen, brechen ab – und genau dieses Flirren liegt im Text über Sandrine. Ein weibliches Ich spricht, nicht in klaren Linien, sondern in Schichten und Sprüngen. „Ihr Atem ist so leise wie ein Hauch Gänsedaunen.“ Zeit scheint stillzustehen, nur um im nächsten Moment „ein Hüpfspiel“ zu werden.…
-
Er im Dialog mit Sandrines fragmentarischen Erinnerungen
2 MinutenSandrine, dein Atem ist Gänsedaunen. Meiner stockt beim Lesen, wird zu Stein in der Brust. Während du die kommenden Verheerungen spürst, taste ich mich an bereits vergangene heran. Deine Zeit friert in stehenden Gewässern – meine fließt linear fort, Datum für Datum, wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht. Vielleicht ist das der Unterschied. Du schreibst…
-
Jane Wels
3 MinutenKeiner meiner Tage läuft ab. […] lasse ich Strukturen einfach ineinander verlaufen. Schaue ihnen zu, wie einem Aquarell, welches seinen Goldenen Schnitt selbst formt. Jane Wels beschreibt ihr Leben nach dem Ende ihrer therapeutischen Praxis als bewusste Entscheidung für das Fließende, das Unstrukturierte. 1955 in Mannheim geboren, lebt und schreibt die Lyrikerin heute im Nordschwarzwald…
Schreibe einen Kommentar