Einen besonderen Blick habe ich auf die ambivalente Darstellung des Waldes bei Oskar Loerke geworfen: – zugleich Schutzraum und Ort der Vergänglichkeit. Er scheint mir die poetische Mehrdeutigkeit des Textes zu unterstreichen. Zudem möchte ich eine Einladung aussprechen – auch an mich selbst, daher das du – aufmerksam(er) durch die Wälder zu streifen (siehe: Beobachtungsideen für Waldgänge) Das Gedicht auf das ich mich beziehe:
Oskar Loerke – Im Silberdistelwald
Der Silberdistelwald
Mein Haus, es steht nun mitten
Im Silberdistelwald.
Pan ist vorbeigeschritten.
Was stritt, hat ausgestritten
In seiner Nachtgestalt.
Die bleichen Disteln starren
Im Schwarz, ein wilder Putz.
Verborgne Wurzeln knarren:
Wenn wir Pans Schlaf verscharren,
Nimmt niemand ihn in Schutz.
Vielleicht, dass eine Blüte
Zu tiefer Kommunion
Ihm nachfiel und verglühte:
Mein Vater du, ich hüte,
Ich hüte dich, mein Sohn.
Der Ort liegt waldinmitten,
Von stillstem Licht gefleckt.
Mein Herz – nichts kam geritten,
Kein Einhorn kam geschritten –
Mein Herz nur schlug erweckt.
Oskar Loerke | 1934
Natur als Spiegel innerer Zustände
Der Silberdistelwald ist kein idyllischer Zufluchtsort, sondern ein Raum der Gegensätze: Die Disteln „starren“ wie erstarrte Wächter, während „verborgne Wurzeln knarren“ – ein Zeichen verborgener, unruhiger Lebendigkeit. Die Natur spiegelt hier keine Harmonie, sondern die Spannung zwischen Schutz und Vergänglichkeit.
Beobachtungsidee für Waldgänge: Achte auf ähnliche Gegensätze in der Natur (z. B. hartes Gestrüpp vs. zarte Flechten, Lichtungen neben dichtem Unterholz). Notiere, welche Stimmungen diese Kontraste in dir auslösen: Fühlst du Geborgenheit oder Beklemmung? Wie verändern sich diese Eindrücke bei unterschiedlichem Licht oder Wetter?
Generationendialog: Zyklus von Schutz und Verantwortung
Die Zeilen „Mein Vater du, ich hüte, / Ich hüte dich, mein Sohn“ brechen lineare Zeitvorstellungen auf. Der Sprecher wird gleichzeitig zum Beschützer und Schutzbedürftigen – ein Kreislauf, der an generationenübergreifende Verantwortung oder das Bewahren von Erinnerungen denken lässt.
Beobachtungsidee für Waldgänge: Suche nach Spuren vergangener „Generationen“ im Wald (abgestorbene Bäume neben Jungpflanzen, verwitterte Pfade). Reflektiere: Was bedeutet Fürsorge oder Erbe für dich? Gibt es Orte oder Objekte, die dir als Vermittler zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem erscheinen?
Stille versus Mythos
Der Wald wird als Ort der „stillsten“ Innerlichkeit beschrieben, den selbst mythische Wesen (Pan, Einhorn) nicht stören. Das Herz erwacht nicht durch äußere Magie, sondern durch die Abwesenheit von Lärm – eine Poetik der leisen Selbstbegegnung.
Beobachtungsidee für Waldgänge: Gehe zu unterschiedlichen Tageszeiten in den Wald. Wo nimmst du Stille wahr? Wo entsteht durch sie eine eigene „Mythologie“ (z. B. Schatten, die Figuren ähneln, Wind, der wie Stimmen klingt)? Halte fest, wie sich deine Wahrnehmung des Alltagsmythischen in der Stille verändert.
Ambivalenz des Waldes: Schutzraum und Ort des Verlusts
Der Silberdistelwald ist zugleich Heimat und fragiler Schauplatz: Die Disteln sind „wilder Putz“, aber ihre Blüte „verglüht“. Pan, Symbol wilder Naturkraft, schläft schutzlos. Diese Ambivalenz lässt sich nur durch genaues Hinsehen erfassen.
Praktische Übung: Wanderungen mit Fokus
Schärfe den Blick für Vergänglichkeit: Sammle Fundstücke (vertrocknete Blüten, abgebrochene Dornen) und ordne sie Gegensatzpaaren zu (z. B. „schützend“ vs. „verletzlich“). Was fällt dir schwer einzuordnen?
Spurensuche nach dem „Unsichtbaren“: Wo im Wald spürst du Anwesenheit durch Abwesenheit (leere Nester, verlassene Tierbauten)? Wie reagierst du darauf – mit Melancholie oder Neugier?
Dialog mit dem Gedicht: Vergleiche Loerkes Bilder mit deinen Eindrücken. Siehst du die Disteln als Mahner oder Begleiter? Wo würdest du Pans „Schlaf“ in deinem Wald verorten?
Vom Beobachten zum Schreiben
Loerkes Gedicht lebt von verdichteten Sinneseindrücken („Wurzeln knarren“, „Licht gefleckt“). Nutze deine Notizen, um eigene Naturmetaphern zu entwickeln:
Klangprotokolle: Beschreibe Geräusche nicht nur als „Rauschen“, sondern als Handlung („Das Laub zischt im Wind wie ein zurückgehaltener Atem“).
Fotografische Skizzen: Mache (Handy)fotos von Details (Rindenrisse, Lichtreflexe) und schreibe dazu, welche Erinnerungen oder Fragen sie in dir wecken.
Aufgabe an mich: Eine Fotogalerie mit meinen Aufnahmen veröffentlichen.
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