Diese Zeile aus dem Buch Herz, stirb oder singe hat sich in meinem Gedächtnis festgesetzt. Insbesondere, wenn ich die Lyriksammlung von Juan Ramón Jiménez zur Hand nehme. Auf dem BuchCover passend dazu die rohe Skizze einer jungen Frau. Sie lächelt. (Gezeichnet übrigens von Henri Matisse.)
Die kleine Hinkende – so der Titel des Gedichts umschreibt die Pole des Nicht-dazu-gehörens und des Selbstverständlich-dazugehörens-aber-einseitigkeitswunderns-Gefühls. Unerschütterlich. Alles scheint zu eilen, einem Autopiloten übergeben, auch die Natur, niemand kommt auf die Idee zu warten, inne zu halten, um sich blicken. Nicht nur das Mädchen scheint Krücken für sein verdrehtes, wie fremd hängendes Bein zu benötigen; das Kind(?) ist eine Krücke für unsere unsteten Augen und eine als fremd abgehängte Achtsamkeit im Leben. So habe ich Jiménez Verse für mich verstanden.
Ein Himmel aus Traum und Seide
dringt bis ins Herz.
Die Kinder, in Weiß, kommen,
spielen, schwitzen, schreien:
„laaauf!“
Das Mädchen lächelt: Warte,
ich geh‘ die Krücke holen!
Aber niemand wartet. Weder der Frühling, noch die Vögel und schon gar nicht die Kinder. Das Fest gehört dem, der läuft und der fliegt.
Wie oft lese ich in letzter Zeit, alles würde lauter, hektischer, schneller. Und ich Trotzkopf werde immer langsamer. Als nähme ich mir freiwillig eine Krücke, um mich selbst daran zu erinnern inne zu halten. Alles überholt mich. Wirklich? Nein, da sehe ich nun Menschen, Vögel, die Jahreszeiten, die ich so vorher noch nicht wahrgenommen habe. Die gefühlt auch stehen bleiben. Ich möchte durch die Straßen schlendern und dabei marktschreierisch skandieren:
Krücken zu verschenken! Nehmen Sie! Versuchen Sie! Erleben Sie!
Und wenn ich meinen Vorrat abgegeben habe, werde ich lächeln und rufen:
Wartet, ich geh‘ neue Krücken holen!
Entnommen aus: Juan Ramón Jiménez | Herz, stirb oder singe
Gedichte | DIOGENES VERLAG | 2. Auflage 1969
Übersetzung aus dem Spanischen: Hans Leopold Davi