Maria Arimanys Gedicht trägt einen vielversprechenden Titel: „In den Wald muss man gehen, wenn es noch dunkel ist“. Diese Idee birgt etwas Spannendes, fast Initiatisches – der Gang in die Dunkelheit als bewusste Entscheidung, als Schwelle zu einer anderen Wahrnehmung.
Das Gedicht | Das Werk besteht aus zwei Spalten mit teils verrückten Zeilenumbrüchen. Die Autorin zeichnet ein Bild ihres Inneren als Wald: umgestürzte und stehende Bäume, Äste zum Dranhängebleiben, wilde Blumen und Farben neben freudlosen Gebüschen mit Stacheln. Zeitlich spannt sich der Text über Gestern, Jetzt und Morgen. In diesem inneren Wald leben Bestien, Tiere und Tierchen – gehörnt, gepanzert, haarig, kahl, kräftig oder verhungert. Sie rennen, fliegen, kriechen, springen, jagen sich, verstecken sich und töten einander. Nachtaktiv sind sie alle.
Der Wald wird als „schaurig finster erbärmlich“ charakterisiert, „zeitweilig großzügig, oftmals öde“. Das Gedicht endet mit den Zeilen: „Ein Wald, manchmal sprießt er / und stirbt immer.“
Wo die Metapher bricht
Und genau hier offenbart sich das Problem: Arimany nutzt die Waldmetapher, bricht aber deren natürliche Logik. In einem echten Wald ist das Sterben gerade die Voraussetzung für neues Leben. Totholz wird zu Nährboden, aus Samen wachsen neue Bäume, der Kreislauf funktioniert. Das „stirbt immer“ wäre in der Natur kein pessimistisches Statement, sondern einfach Teil des Ganzen.
Bei Arimany jedoch werden Wachstum und Sterben nicht als Kreislauf dargestellt, sondern als Gegensatz. Es fehlt jede Andeutung von Regeneration, von neuem Wachstum aus dem Gestorbenen. Der Wald erscheint statisch in seinem Chaos, nicht dynamisch im natürlichen Sinne.
Die Autorin projiziert ihre innere Stagnation auf den Wald, statt die zyklische Kraft der Natur für ihre Metapher zu nutzen. Das macht das Bild inkonsistent – sie borgt sich die Bildwelt des Waldes, ignoriert aber dessen grundlegendes Prinzip.
Die natürliche Wahrheit
Wenn es wirklich nur ums Sterben ginge, wäre der Wald längst leer. Dass er noch da ist – „In mir ist ein Wald“ sagt sie mehrfach – ist bereits der Beweis, dass das Wachsen stärker ist. Die natürliche Perspektive wäre nicht „manchmal sprießt er und stirbt immer“, sondern: „immer wächst er und manchmal stirbt etwas“.
Arimany sieht in den Tieren nur Aggression und Bedrohung – „die sich töten / Gegenseitig“. Aber der echte nächtliche Wald ist vor allem ein Ort, wo Leben stattfindet: Tiere fressen, paaren sich, ziehen ihre Jungen auf, bewegen sich frei. Ja, es gibt Jäger und Gejagte, aber das ist Funktionieren, nicht Chaos. Es ist ein System, das arbeitet.
Der Wald am Rand der Nacht
Wer direkt am Wald lebt und nachts draußen ist, nimmt etwas anderes wahr: Es bebt und lebt durch die Tiere, den Wind. Die Nacht ist die Zeit, wo die Tiere ungestört sich bewegen können – endlich mal kein Mensch, weniger Gefahr. Der nächtliche Wald ist nicht „schaurig finster erbärmlich“, sondern einfach beschäftigt. Lebendig.
Das ist der Unterschied zwischen jemandem, der den Wald als eigenständiges Lebensystem respektiert, und jemandem, der ihn nur als psychologische Projektionsfläche nutzt. Arimany scheint in einem Tunnelblick gefangen, der das Sterben überbetont und das Wachstum zur Ausnahme macht. Dabei ist es genau umgekehrt – das Leben, das Wachsen ist die Regel, das Sterben nur der Übergang zum nächsten Wachsen.
Ein nicht geschriebener Brief
Man möchte ihr widersprechen, ihr zurufen, einen Brief schreiben: Schau doch mal genau hin. Es geht nie ums Sterben an sich – es geht immer ums Wachsen und Gedeihen. Denn sonst wäre irgendwann nicht mal mehr etwas da, was sterben könnte.
Vielleicht bräuchte sie tatsächlich jemanden, der ihr sagt: Geh wirklich in den Wald, wenn es noch dunkel ist. Und dann bleib bis zum Morgen. Schau zu, wie das Licht kommt, wie der Wald erwacht, wie überall Leben pulsiert. Der Wald in dir mag sich chaotisch anfühlen, aber er lebt. Und was lebt, wächst.
Manchmal braucht es diesen Blick von außen, der einem die eigene Metapher richtig erklärt. Und manchmal hinkt eine Metapher so stark, dass sie mehr über ihre Grenzen aussagt als über das, was sie eigentlich ausdrücken wollte.
Maria Arimany – „In den Wald muss man gehen, wenn es noch dunkel ist“
Aus: die horen – Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik – Ausgabe 298 – vom 09.10.20225
Wer sind wir, wer – Neue Stimmen aus Katalonien
Maria Arimany i Almirón (Llerona, 1990) ist eine Sozialpädagogin und katalanische Schriftstellerin. 2020 gewann sie den ersten Preis im Kurzgeschichtenwettbewerb von El 9 Nou Mit der Erzählung «Ameisenmeer» (Mar de formigues). Anschließend gewann er 2023 den 43. Platz Documenta Narrative Award mit ihrem späteren literarischen Debüt Du musst in den Wald, wenn es noch dunkel ist, eine Sammlung von Geschichten, mit einem Kurzroman im Zentrum.
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