Blog

  • Wasserglaslesung

    Wasserglaslesung

    Ein Glas Wasser steht
    zwischen mir und dem Satz.
    Ich trinke –
    die Worte versickern in der Kehle,
    bevor sie sich formen.

    Sprechen ist Ausatmen,
    Trinken: Rückkehr.

    Der Text will klar sein
    wie Wasser im Glas,
    doch der Rand bricht das Licht,
    und zwischen Lippen und Ohr
    verwischt Bedeutung.

    Ich sehe dich
    durch die gewölbte Wand,
    du hörst mich
    durch den Dunst der Sprache.

    Wir trinken.
    Wir sprechen.
    Und manchmal,
    im Schweigen dazwischen,
    schimmert etwas Wahres auf.

  • Poetin #24

    Poetin #24

    Die Frühjahrsausgabe 2018 des im Poetenladen Verlags erschienenen Magazins poetin trägt die Nummer 24 und widmet sich auf ihren 216 Seiten dem Gesprächsthema „Literatur und Wasserglas“. Diese Themensetzung nimmt die klassische Autorenlesung in den Blick, bei der traditionell der Vorlesende mit seinem Text im Zentrum steht, oft schlicht begleitet von einem Wasserglas. Die Redaktion um Herausgeber Andreas Heidtmann stellt in dieser Ausgabe die Frage, inwieweit öffentliche Lesungen heutzutage auf eine reine „Produktpräsentation“ reduziert werden sollten, angesichts der Möglichkeit, Literatur auch individuell zu Hause oder unterwegs zu rezipieren.

    Neben dieser zentralen Auseinandersetzung mit der Form der Lesung präsentiert poetin Nr. 24 eine Auswahl neuer Werke in Prosa und Lyrik. Ein fester Bestandteil des Magazins sind zudem die Gedichtkommentare des Kritikerduos Michael Braun und Michael Buselmeier, die in dieser Ausgabe ein breites Spektrum von etablierten Stimmen wie Hilde Domin bis hin zu jüngeren Dichtern wie Tristan Marquardt und David Krause beleuchten. Ergänzt wird dieser literarische Reigen durch weitere Beiträge namhafter Autoren wie Nora Gomringer, Lydia Dimitrow, Daniel Zahno und vieler anderer. Auch visuelle Impulse finden ihren Platz in der Ausgabe, unter anderem durch Beiträge von Nicolas Mahler.

    Die Reflexion über „Literatur und Wasserglas“ in poetin Nr. 24 scheint dabei verschiedene Aspekte zu berühren: die Rolle des Autors bei der Präsentation seines Werkes, die Erwartungen des Publikums an eine Lesung, den Stellenwert von Inszenierung und Performance im Verhältnis zum reinen Text sowie die grundsätzliche Bedeutung des literarischen Werkes im Kontext öffentlicher Auftritte. Das Magazin, das halbjährlich erscheint und durch Förderungen wie den Deutschen Literaturfonds e.V. und die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen unterstützt wird, versteht sich somit als Plattform für aktuelle literarische Stimmen und zugleich als Raum für die kritische Auseinandersetzung mit den Bedingungen und Formen literarischer Vermittlung.

    Titelfoto: Kawita Chitprathak

  • Hilde Domin (Hrsg.) – DOPPELINTERPRETATIONEN

    Hilde Domin (Hrsg.) – DOPPELINTERPRETATIONEN

    Hilde Domins „Doppelinterpretationen“ eröffnet ein literarisches Experiment, das Lesenden die Vielschichtigkeit zeitgenössischer Lyrik in einem dreiteiligen Prozess zugänglich macht. Im Zentrum steht die Idee, Gedichte nicht nur als abgeschlossene Werke, sondern als Ausgangspunkte für vielfältige Deutungsperspektiven zu begreifen. Der Band versammelt 31 Gedichte namhafter Autor:innen wie Günter Eich, Peter Huchel oder Ernst Jandl, die ein breites Spektrum von Naturlyrik bis zu sprachexperimentellen Formen abdecken. Jeder Text steht zunächst unkommentiert, sodass die Lesenden die Möglichkeit haben, sich ein eigenes, unvoreingenommenes Bild zu machen.

    Direkt im Anschluss folgt die Selbstdeutung der Dichter:innen, die Einblicke in ihre Entstehungsprozesse geben – von Motiven über Bildwelten bis zu klanglichen Überlegungen. Dabei betont Domin, dass Autor:innen und Kritiker:innen ihre Interpretationen unabhängig voneinander verfassten, um eine möglichst unverfälschte Gegenüberstellung zu gewährleisten. Erst danach tritt die Fremdinterpretation durch Literaturkritiker:innen hinzu, die den Text aus analytischer Distanz betrachtet. Diese Dreiteilung schafft ein Spannungsfeld zwischen subjektivem Entstehungskontext und objektivierender Analyse.

    In ihrer Einleitung skizziert Domin das Ziel, das moderne Gedicht „von innen und von außen“ zu beleuchten und einen „Zirkel der Deutung“ zu initiieren, der Lesende aktiv einbindet. Sie versteht die Lektüre als kreativen Akt, bei dem die Balance zwischen dem „Augenzeugenbericht“ der Autor:innen und der „Historikerperspektive“ der Kritiker:innen entscheidend ist. Der Band versteht sich somit nicht nur als Sammlung, sondern als Anstoß, den eigenen Lesevorgang zu reflektieren.

    Die Lesenden werden vor die Aufgabe gestellt, die verschiedenen Ebenen – Original, Autorenkommentar, Kritikerstimme – zueinander in Beziehung zu setzen. Dabei entsteht ein Meta-Diskurs über das Interpretieren selbst: Wo überschneiden sich die Perspektiven, wo divergieren sie? Wie formt sich durch diese Gegenüberstellung ein Bewusstsein für die Vieldeutigkeit literarischer Texte? Indem der Band Brüche und Übereinstimmungen offenlegt, wird die Leserschaft dazu angeregt, eine eigene, dritte Deutungsebene zu entwickeln.

    Rezensionen und Klappentexte unterstreichen die Wirkung dieses Experiments. Hervorgehoben wird etwa, wie die Gegenüberstellung von Autor:innen- und Kritiker:innensicht nicht nur die Bandbreite möglicher Lesarten verdeutlicht, sondern auch überraschende Selbstwahrnehmungen der Schreibenden offenbart. Domins Konzept, Lesende zu Mitgestalter:innen des Deutungsprozesses zu machen, erweist sich dabei als zentraler Impuls. „Doppelinterpretationen“ wird so zu einem Laboratorium, in dem Lyrik nicht passiv konsumiert, sondern aktiv erforscht wird – ein Ansatz, der bis heute die Auseinandersetzung mit Literatur bereichert.

  • Die Geschichte von den drei Steinen (anders erzählt)

    Die Geschichte von den drei Steinen (anders erzählt)

    Diese kurze Geschichte ist ein tastender Gegenvorschlag. Wenn man den leisen Verlust am Ende von Peter Bichsels Erzählung umkehrt und stattdessen eine leise Bereicherung (klingt besser als Gewinn) imaginiert, ergibt sich eine alternative, aber im Geist verwandte Geschichte – sanft, zart, fast beiläufig, und dennoch mit existenzieller Tiefe.

    Ich versuche sie so zu erzählen, wie Peter Bichsel sie hätte erzählen können – lakonisch, klar, unaufgeregt:


    Die Geschichte von den drei Steinen (anders erzählt)

    Ich fand einmal drei Steine. Sie sahen fast gleich aus, aber ich wusste sofort, dass sie nicht gleich waren. Ich nannte den einen Herrn Babel, den zweiten Herrn Bohm, den dritten Herrn Buht. Ich legte sie nebeneinander auf mein Fensterbrett, wo die Morgensonne sie traf. Wenn ich Kaffee trank, schaute ich sie an. Ich wusste nicht genau, ob Herr Bohm wirklich klüger war als Herr Buht. Aber ich stellte es mir manchmal vor.

    Ich sprach mit ihnen, leise, und manchmal sprach ich für sie. Ich sagte: „Heute regnet es, Herr Babel.“ Und ich stellte mir vor, wie er das fand. Ich sagte: „Sie sehen müde aus, Herr Buht.“ Und dann legte ich sie ein Stück weiter nach hinten, ins Trockene.

    Einmal kam Besuch. Ich sagte nichts von den drei Steinen. Ich dachte, es wäre besser so. Man hätte es nicht verstanden. Man hätte gesagt: „Das sind ja nur Steine.“ Und dann hätte ich nichts mehr sagen können. Also sagte ich nichts.

    Aber manchmal, wenn niemand da war, holte ich Herrn Bohm in meine Jackentasche und nahm ihn mit auf einen Spaziergang. Er sagte nie etwas, aber es war angenehm, ihn dabei zu haben. Und ich dachte: Das ist vielleicht alles, was man braucht.

    Die Steine wurden nicht anders. Sie blieben Steine. Aber ich war ein anderer, seit ich sie kannte. Ich wusste nicht genau, was das bedeutete. Aber ich hatte drei Namen in meinem Leben, die vorher nicht da waren. Und ich glaube, das war genug.

  • Das sind ja nur drei Steine!

    Das sind ja nur drei Steine!

    In Peter Bichsels Kurzgeschichte „Die Geschichte von den drei Steinen“ steht die Bedeutung sprachlicher Benennung im Zentrum. Ein Mann findet drei gewöhnliche Steine, hebt sie auf und gibt ihnen Namen: „Ich nannte den einen Herrn Babel, den zweiten Herrn Bohm und den dritten Herrn Buht.“ Durch die Namensgebung unterscheidet er sie voneinander und verleiht ihnen Individualität. Die Steine verlieren für ihn ihren ursprünglichen, bloßen Objektcharakter. Sie werden durch Sprache zu etwas Besonderem.

    Der Erzähler berichtet, dass er mit den Steinen spricht, über sie nachdenkt und sich sogar über sie freut. „Ich dachte oft an die drei Steine, und ich hatte sie gerne.“ Ich verstehe es so: die Benennung stiftet eine Beziehung zwischen dem Mann und den Steinen. Sprache dient hier nicht nur der Beschreibung, sondern schafft Bedeutung. Die Steine werden durch die Namen zu Trägern von Eigenschaften, über die man nachdenken kann – etwa wenn er sagt: „Ich stellte mir vor, Herr Babel sei dick, Herr Bohm ein wenig dumm, Herr Buht traurig.“

    Auch ein Kind wird in diese Welt eingeführt. Der Erzähler zeigt ihm die Steine und bringt ihm bei, wie sie heißen. Das Kind akzeptiert die Namen und übernimmt die Perspektive des Mannes. Es spricht ebenfalls von Herrn Babel, Herrn Bohm und Herrn Buht, ohne zu hinterfragen, warum drei Steine plötzlich als Personen betrachtet werden. So entsteht zwischen den beiden eine geteilte Wirklichkeit, die auf sprachlicher Übereinkunft basiert. Die Steine sind für beide mehr als bloße Gegenstände – sie sind bedeutungsvoll, weil ihnen Bedeutung gegeben wurde.

    Diese geteilte Sichtweise wird jedoch durch einen dritten Erwachsenen gestört, der ebenfalls die Steine betrachtet, aber ihre Bedeutung nicht erkennt. „Er lachte und sagte: Das sind ja nur drei Steine!“ Der Mann weist den Einwand zurück und betont erneut, wie sie heißen. Doch der andere bleibt bei seiner objektiven Sichtweise und zerstört letztlich die Beziehung zu den Steinen, indem er sie fortwirft: „Er nahm sie und warf sie weit fort.“ Damit endet die Geschichte.

    Die Handlung zeigt exemplarisch, wie Sprache als Mittel der Welterschließung wirkt. Die drei Steine erhalten durch Namen Identität, über sie lässt sich nachdenken und sprechen. Dieses Sprachspiel wird von einem Kind mitgetragen, scheitert jedoch an einem Erwachsenen, der die zugrunde liegende sprachliche Konstruktion nicht akzeptiert. Die Geschichte verdeutlicht, wie Realität durch Sprache und Übereinkunft entsteht, aber auch, wie fragil diese Konstruktion ist, wenn sie nicht geteilt wird.

    Eigentlich eine Kindergeschichte, hat mich ein Aspekt besonders interessiert: eingefahrene Sprach- und Wahrnehmungsmuster bewusst zu unterlaufen und zu hinterfragen. Die Handlung verweist – für mich – auf ein verlorengegangenes Potenzial der Sprache zur Welterschließung, das bei Erwachsenen oft durch Routine, Funktionalität und Konvention verdrängt wird.

    Hier einige Ideen:

    Alltagsdeutung neu denken: „Ich nenne das anders“
    Wähle im Alltag 5–10 Dinge aus, die ich jeden Tag verwende (z. B. Handy, Zahnbürste, Kaffeetasse) und überlege mir für jedes einen neuen Namen, der nicht funktional, sondern emotional, poetisch oder assoziativ ist (z. B. „Herzfunke“ für das Handy, „Mundtänzerin“ für die Zahnbürste).
    Eine kleine Reflexion: Wie verändert sich mein Blick auf dieses Objekt?
    → Ziel: Verlangsamung der Wahrnehmung und Neuerschließung durch Sprache.

    Gespräch ohne Automatismen
    In Paaren oder Gruppen werden Gespräche über scheinbar banale Dinge geführt – aber ohne vorgefertigte Begriffe. Beispiel: Sprich über deinen Arbeitsplatz, aber du darfst das Wort „Arbeit“, „Kollege“, „Chef“ oder „Meeting“ nicht verwenden.
    → Das zwingt zu einer neuen sprachlichen Annäherung an die Realität, die kreativer und bewusster ist.

    Worttagebuch: Bedeutungen bewusst umformen
    Über einen Zeitraum von 5–7 Tagen wähle ich täglich ein „verbraucht wirkendes“ Wort (z. B. „Zeit“, „Stress“, „Erfolg“) und halte fest: Wie würde ich es umschreiben, wenn ich es neu erfinden müsste? Was bedeutet es für mich heute? Wie hat sich meine Beziehung zu diesem Wort verändert?
    → Dies fördert eine aktive Auseinandersetzung mit Sprache als kulturellem Filter.

    Sprachfasten / Wortvermeidung
    Ich wähle für einen Tag 1–2 Wörter, die ich ganz bewusst nicht verwenden dürfen (z. B. „müssen“, „Zeit“, „schnell“). Ziel ist nicht Vermeidung um der Vermeidung willen, sondern das bewusste Umgehen, Umkreisen und Ergründen des Begriffes durch Sprache.
    → Das erzeugt ein neues Verhältnis zu Gewohnheitssprache und meinen Denkmustern.

    Tascheninhalt erzählen – aber anders
    Ein Mitmensch nimmt ein beliebiges Objekt aus der Tasche oder Jacke und sagt:
    „Stell dir vor, das wäre kein Schlüssel, sondern …“
    Dann wird gemeinsam weitergesponnen: Wer benutzt das? Wozu? Hat es eine Geschichte? –
    → Das darf uns in einen assoziativen, humorvollen und offenen Modus versetzen. Stelle ich mir gut bei langen Autofahrten vor.

    Spazieren mit Bedeutungsumkehr
    Beim nächsten Spaziergang mit anderen sich gegenseitig Begriffe vorschlagen, die nicht für das stehen, was sie scheinbar bedeuten. Beispiel:
    „Stell dir vor, ‚Weg‘ bedeutet nicht, wohin man geht, sondern was man loslässt.“

    Gemeinsame Sammlung: „Die drei …“
    In einer Runde (z. B. beim Abend mit Freunden) stellt jemand die Frage:
    „Wenn du heute drei Dinge benennen dürftest, die für dich heute wichtig waren – egal wie klein – was wären das für Dinge, und wie würdest du sie nennen?“
    Beispiel: „Mein Kaffeeduft hieß heute ‚Stille zwischen den Stunden‘.“

    Gespräch mit Fragekarten à la Bichsel
    Bereite kleine Karten vor mit ungewöhnlichen Fragen wie:
    „Gibt es ein Wort, das du nie benutzt, obwohl du es eigentlich magst?“
    „Welcher Gegenstand in deinem Leben ist völlig bedeutungslos – und warum vielleicht doch nicht?“
    „Wenn du deinem Tag einen neuen Namen geben müsstest, wie würde er heißen?“
    → So entstehen möglicherweise Gespräche, in denen Sprache nicht nur Werkzeug, sondern Spiel- und Erkenntnisraum wird.

  • Peter Bichsel – Die Geschichte von den drei Steinen

    Peter Bichsel – Die Geschichte von den drei Steinen

    Ein Mann findet drei gewöhnliche Steine und beschließt, ihnen eigene Namen zu geben. Er nennt sie „Herr Babel, „Herr Bohm und „Herr Buht“. Für ihn sind diese Steine ab sofort nicht mehr bloß Steine, sondern Individuen mit bestimmten Eigenschaften, über die er nachdenkt, spricht und sich freut.

    Er zeigt sie auch einem Kind und bringt ihm bei, wie sie heißen. Das Kind übernimmt die Namen, behandelt die Steine ebenfalls individuell – sie bekommen also durch Sprache und Benennung eine Art Persönlichkeit und Bedeutung.

    Der Mann fühlt sich durch diese neue Sichtweise auf die Welt zufrieden. Doch als ein weiterer Erwachsener hinzukommt, findet dieser das Ganze lächerlich: Für ihn sind es eben nur drei Steine, und er kann nicht verstehen, warum man ihnen Namen gibt oder über sie spricht, als wären sie mehr als bloße Objekte.

    Am Ende nimmt der skeptische Erwachsene die Steine und wirft sie fort – die Geschichte endet mit einem leisen Verlust.

    Hier bin ich mit der Geschichte in den Dialog getreten.

  • Lithopoesie –  Steine, die Geschichten erzählen

    Lithopoesie – Steine, die Geschichten erzählen

    Steine sind keine stumme Zeugen der Zeit. Sie tragen Jahrtausende in ihren Adern, flüstern von vergangenen Welten und bergen Energien, die uns mit der Erde verbinden. In dieser Rubrik meines Literaturblogs möchte ich dem Konzept der Lithopoesie Leben einhauchen – einer Idee, die sich aus den griechischen Wörtern lithos (Stein) und poiesis (Dichtung) zusammensetzt. Hier geht es darum, Steine nicht nur als Fundstücke zu sammeln, sondern sie als Träger von Geschichten zu begreifen: durch literarische Verknüpfungen, eigene Texte und das bewusste Lesen ihrer Formen, Farben und Spuren.

    Meine Spaziergänge führen mich oft zu Hünengräbern, jenen uralten Steinen, die wie Tore zur Vergangenheit wirken. Jeder mitgebrachte Stein wird hier zum Protagonisten – mal inspiriert er ein Gedicht, mal verwebt er sich mit Zitaten aus meinen Büchern, mal erzählt er von mythischen Orten. Lithopoesie ist für mich ein Dialog zwischen Natur, Literatur und innerer Welt.

    Wie du Lithopoesie entdecken (und selbst gestalten) kannst:

    1. Dokumentiere deine Steine
      Fotografiere sie, notiere Fundort und -zeit. Diese Details werden später Teil der Erzählung – etwa wenn ein kantiger Kiesel vom Gletschervorfeld plötzlich in einem Nature-Gedicht von Wordsworth mitschwingt.
    2. Jagd nach literarischen Echos
      Durchstöbere deine Bücher nach Stein-Motiven: ob Thomas Manns beschriebener Bernsteinschmuck, die menhire in Celans Lyrik oder die mineralischen Metaphern bei Rilke. Selbst ein scheinbar beiläufiges Wort wie „Fels“ kann Funken schlagen.
    3. Freies Assoziieren – Schreiben ohne Filter
      Halte einen Stein in der Hand. Ist er glatt wie ein Flussmythos? Schimmert er wie die Scherbe aus Kafkas Der Bau? Oder erinnert seine Maserung an eine ungeschriebene Sage? Probiere Mini-Formate: Haiku, Kurzprosa, Dialoge zwischen Stein und Finder.
    4. Hünengräber als Resonanzräume
      Nutze deine Besuche an diesen Kraftorten, um Steine zu finden, die archaische Energien spiegeln. Vergleiche sie mit literarischen Megalithen – etwa den Symbolsteinen in T.S. Eliots The Waste Land.
    5. Präsentiere deine Lithopoesie
      • Ein Steintagebuch mit Fotos, Fundnotizen und Texten.
      • Eine literarische Landkarte, die Fundorte mit Zitaten verknüpft.
      • Stein-Lesungen – ob digital im Blog oder analog bei Spaziergängen mit Gleichgesinnten.

    Lithopoesie ist keine Methode, sondern eine Haltung: das Staunen über das Ungesehene im Alltäglichen. Hier geht es nicht um Gelehrsamkeit, sondern darum, Steine als Mittler zwischen Erdgeschichte und persönlicher Imagination zu begreifen. Vielleicht entsteht so etwas Neues – ein Gedicht, das wie ein Fossil aus der Tiefe bricht, oder eine Prosaskizze, die den Stein vom Wegrand mit dem Bücherregal verschmilzt.

  • Besiegt sein ist mein Erbteil – oder?

    Besiegt sein ist mein Erbteil – oder?

    My Portion is Defeat – today –
    A paler luck than Victory –
    Less Paeans – fewer Bells –
    The Drums dont follow Me –
    with tunes –
    Defeat – a +somewhat slower –
    means –
    More  +Arduous than Balls –

    Tis populous with Bone
    and stain –
    And Men too straight to
     + stoop again –
    And Piles of solid Moan –
    And Chips of Blank – in
    Boyish Eyes –
    And + scraps of Prayer –
    And Death’s surprise,
    Stamped visible – in stone –

    There’s +somewhat prouder,
    Over there –
    The Trumpets tell it to
    the Air –
    How different Victory
    To Him who has it – and
    the One
    Who to have had it,
    would have been
    Contenteder – to die –

    +something dumber   + difficult –

    +bend  +shreds  + something


    Das Gedicht setzt sich eindrücklich mit Niederlage, Tod und stillem Heldentum auseinander. Zu Beginn steht das persönliche Scheitern der lyrischen Ich-Figur: „Mein Anteil ist Niederlage – heute –“, ein Schicksal, das sie mit erloschenem Glück („blasseres Glück als der Sieg“) begründet. Mit jeder Zeile spitzt sich die Stimmung zu – erst dann wird klar, dass es sich hier nicht um eine gewöhnliche Enttäuschung, sondern um die Bildsprache des Krieges handelt. Die „Niederlage“ wird mit dem Horror des Schlachtfelds gleichgesetzt: Sie ist „bevölkert mit Knochen und Blut“​bloggingdickinson.blogspot.com, mit stummen Klagen der Verwundeten und verstümmelten „kindlichen Augen“, in denen nur „Splittern der Leere“ zurückbleiben. All dies verweist unmittelbar auf den Tod: Die Leichenhallen des Krieges sind voller „Gebetsfetzen“ und von des „Todes Überraschung“ gekennzeichnet. Die Grafiken dieser Zeilen – Gebein und Blut, eingefrorene Schrecken in Stein – symbolisieren das Ausgelöschtsein, aber auch eine ungebrochene Würde.

    Gegen Ende hebt Dickinson die Aufmerksamkeit auf den Stolz der Sieger: „Die Trompeten erzählen [den Sieg] der Luft“​bloggingdickinson.blogspot.com. Die Musik des Triumphs schallt jedoch ins Leere; die Lyrikerin merkt sarkastisch an, dass der Besiegte den Sieg „lieber gestorben“ als kampflos aufgegeben hätte​bloggingdickinson.blogspot.com. Hier erscheint stilles Heldentum – der einsame Mut, lieber sein Leben für eine gerechte Sache hinzugeben, als sie ohne Würde zu verlieren. Die Stimmung des Gedichts ist durchweg düster, melancholisch und zugleich trotzig: Trotz der Verzweiflung klingt ein Hauch von Würde an, indem der Kriegsopfer standhafte Opferbereitschaft hervorgehoben wird.

    Symbolik: Dickinson verwendet zahlreiche starke Symbole. Knochen und Blut stehen für die Grausamkeit des Krieges; sie signalisieren Lebensende und Opferbereitschaft​bloggingdickinson.blogspot.com. Leere in kindlichen Augen und Gebetsfetzen weisen auf die verlorene Unschuld und das gebrochene Gottvertrauen der Soldaten hin. Besonders eindrucksvoll ist das Bild der Trompeten, die den Sieg nur „der Luft“ verkünden​bloggingdickinson.blogspot.com – ein Symbol für die Eitelkeit des Triumphs und die Vergänglichkeit irdischer Ruhm. Am Schluss kontrastiert die Dichterin den Sieg mit dem stillen Mut der fast siegreichen „Contender“, für die lieber der Tod angestrebt wurde​bloggingdickinson.blogspot.com.

    Stimmung: Das Gedicht vermittelt eine Atmosphäre des gebrochenen Stolzes und der resignativen Ergebenheit. Die häufigen Gedankenstriche und die knappe, stakkatoartige Verszeile verstärken das Gefühl von Hast und erstarrtem Schrecken. Zugleich atmet jeder Vers Stolz: Trotz der Niederlage bleibt die Würde des Leids spürbar – der wahre Triumph gilt hier dem stillen Opfer.

    Botho Strauß in Herkunft

    Hier bin ich auf das Gedicht aufmerksam geworden: Botho Strauß nimmt den Satz „Besiegt sein ist mein Erbteil“ aus Dickinsons Gedicht auf und überträgt ihn auf die eigene Biografie. In Herkunft schildert er eindringlich das Kriegstrauma seines Vaters – etwa dass diesem 1916 „ein Loch in die Stirn gebohrt“ wurde und Blut „aus dem Auge“ trat​. Diese Schilderung zeigt, wie Krieg und Niederlage zum familiären Erbe werden. Strauß verknüpft Dickinsons Zeile mit der Vorstellung, dass ihm das Scheitern vererbt sei. Im Gegensatz zur flüchtigen „Niederlage“ Dicksons formuliert Strauß hier einen dauerhaften, geradezu genetischen Defätismus: Niederlage ist kein Zufall, sondern unverrückbarer Anteil der Herkunft.

    Strauß’ Lesart im Vergleich: Dickinson verwendet „My Portion is Defeat – today –“ vor allem als Momentaufnahme eines persönlichen Leids, das sie in Parabeln auf den Bürgerkrieg überträgt. Strauß dagegen liest die Zeile fatalistisch-biographisch: Niederlage und das Leiden der Kriegsgeneration werden Teil seiner Identität. Wo Dickinson durch ihre Metaphorik von der Personalisierung (Ich) zur Verallgemeinerung (man) übergeht, nutzt Strauß den Satz, um das eigene Ich in den Kontext kollektiven Leids zu stellen. Strauß erweitert die Bedeutung, indem er „Besiegt sein“ nicht nur als gegenwärtiges Gefühl, sondern als zum Dauerzustand und Erbe hochstilisiert.

    In dieser Umdeutung stimmen beide Autoren insofern überein, als sie das Leiden in eine gewisse Größe verwandeln. Während Dickinson aus dem Bild der besiegten Soldaten stillen Stolz ablesen lässt, nutzt Strauß den Gedanken, um das schwierige Erbe seiner Generation zu reflektieren. Allerdings verschiebt sich der Fokus: Bei Dickinson geht es um das unmittelbare Gefühl des Verlierens im Kontrast zum Triumph, bei Strauß um eine lebenslange Perspektive des Scheiterns als Existenzgrundlage.

    Quellen: Strauß’ Schilderung des väterlichen Kriegsunglücks​deutschlandfunk.de und Dickinsons Kriegsmetaphern​bloggingdickinson.blogspot.combloggingdickinson.blogspot.com geben die Textgrundlage für diese Interpretation.

  • Körper als Archiv

    Körper als Archiv

    In Annette Hagemanns „MEINE ERBSCHAFT IST DIESE“ offenbart sich der Körper als ein vielschichtiges Archiv, in dem die Spuren der Herkunft auf ebenso subtile wie prägnante Weise gespeichert sind. Vordergründig scheinen die Erbschaften des lyrischen Ichs in ihrer Konkretheit begrenzt: die spezifische „Form der Röte auf den Wangen“, ein genetisches Vermächtnis der Mutter, das den Körper zunächst als Träger biologischer Information ausweist. Doch diese Beobachtung allein greift zu kurz. Denn die Röte der Wangen ist nicht nur ein genetischer Code, sondern potenziell auch ein soziales Signal, aufgeladen mit erlernten Bedeutungen und kulturellen Interpretationen von Emotionen wie Scham oder Verlegenheit. So verschränkt sich das biologische Erbe unmerklich mit der sozialen Prägung.

    Ein weiterer Zugang zur Bedeutung des Körpers als Speicher des Erbes findet sich in der bewussten sensorischen Abgrenzung des lyrischen Ichs. Das nächtliche Verschließen der Ohren, um sich auf die „eigenen Körpergeräusche“ zu konzentrieren, ist ein aktiver Akt der Autonomiesuche. Durch die Reduktion äußerer Sinnesreize schafft das Ich einen inneren Raum, der frei von den potenziellen Einflüssen der Familie ist. Dieser Wunsch nach sensorischer Selbstbestimmung steht in einem bemerkenswerten Kontrast zur fragmentierten Erinnerung an die Mutter, deren Präsenz auf die „Beine unter den hellgilben Laken“ reduziert erscheint. Während das Ich aktiv seine Wahrnehmung gestaltet, wird die Mutter in einer distanzierten, fast körperlosen Weise erinnert, was die emotionale Distanz und die unterschiedlichen Modi der Selbstwahrnehmung zwischen den Generationen andeutet.

    Lyrische Tradition

    Diese Auseinandersetzung mit dem Körper als Träger und als Grenze des Erbes findet Resonanz in der lyrischen Tradition. Denken wir an Sylvia Plaths intensive Körpermetaphorik, in der das Physische oft zum Schauplatz innerer Zerrissenheit und gesellschaftlicher Zwänge wird. Obwohl Hagemanns Ton leiser ist, teilt sie mit Plath das Interesse daran, wie sich Erfahrungen und Prägungen im Körper einschreiben. Auch Durs Grünbeins anatomische Lyrik, die wissenschaftliche Präzision mit existentiellen Fragen verbindet, mag hier anklingen. Beide Dichter betrachten den Körper nicht nur als biologische Gegebenheit, sondern auch als ein Archiv der Geschichte und individuellen Erfahrung.

    Über die rein physischen Merkmale hinaus erweitert Hagemanns Gedicht das Konzept des „körperlichen“ Erbes subtil. Das vom Vater geerbte „Interesse an Zoologie“ und die „Bereitschaft, selbst in Tieren (wie meinem Vater) das Gute zu sehen“, verweisen auf die Weitergabe von Wahrnehmungsweisen und Verhaltensmustern, die durch Interaktion und Vorbild internalisiert werden. Selbst die ungewöhnlichen „Erbschaften“ wie die „verformte Jazzschallplatte“ und der „farblose, fast unsichtbare Koi-Fisch“ tragen auf ihre Weise zur Formung des lyrischen Ichs bei und sind über sinnliche Erfahrungen (Hören, Sehen) mit der elterlichen Welt verbunden.

    Am Ende bleibt das lyrische Ich als die eigentliche „Erbschaft“ zurück – ein Individuum, geformt durch genetische Anlagen, soziale Prägungen und bewusste Abgrenzungsversuche. Der Körper wird so zum zentralen Medium, durch das sich das Erbe manifestiert, transformiert und letztendlich in der Einzigartigkeit des Einzelnen neu konstituiert. Hagemanns Gedicht lädt dazu ein, die oft unbemerkten Wege zu erkunden, auf denen körperliche Merkmale und Sinneswahrnehmungen unsere Identität prägen und uns mit unserer Herkunft verbinden.

  • Annette Hagemann – MEINE ERBSCHAFT  IST  DIESE

    Annette Hagemann – MEINE ERBSCHAFT IST DIESE

    Annette Hagemanns Gedicht „MEINE ERBSCHAFT IST DIESE“ setzt sich behutsam mit dem ambivalenten Erbe familialer Prägung auseinander. Die scheinbar willkürlichen Relikte, die das lyrische Ich von den Eltern übernimmt – die spezifische Röte der Wangen der Mutter, eine deformierte Jazzplatte aus New York, ein unscheinbarer Koi des Vaters –, erscheinen zunächst als marginale Alltagsfragmente. Doch gerade in ihrer Banalität verdichten sie sich zu Metaphern für die unsichtbaren Übertragungen von Identität: die mütterliche Gabe, selbst in komplexen Beziehungen („wie meinem Vater“) das Verbindende zu bewahren, oder das väterliche Interesse an Zoologie als Brücke zur Welt des Lebendigen.

    Dem gegenüber steht ein drängendes Bedürfnis nach Abgrenzung. Das nächtliche Verschließen der Ohren, um nur den eigenen Körper zu hören, und der spätere Auszug ins Selbstbestimmte werden nicht als Bruch, sondern als notwendige Prozedur des Werdens inszeniert. Selbst die Mutter reduziert sich in der Rückschau auf Fragmente – Beine unter der Wäscheleine –, als ob die Distanzierung auch ein Verlust der Ganzheitlichkeit bedeute.

    Die Schlusszeile „und so bleibe am Ende / als Erbschaft nur ich“ fasst diesen Zwiespalt prägnant: Das Ich konstituiert sich zwar aus dem Erbe, doch im Akt der Selbstschöpfung wird dieses zugleich überschrieben. Die Melancholie liegt nicht im Fehlen der Elternspuren, sondern darin, dass ihre greifbaren Zeichen verblassen, sobald das Subjekt sich als eigenständige Summe begreift. Hagemann gelingt damit ein stilles Porträt der Reifung – als Balanceakt zwischen Annahme und Abschütteln, Erinnern und Entwachsen.

    Das Gedicht „MEINE ERBSCHAFT IST DIESE von Annette Hagemann aktiv gelesen:

  • Stimme und Widerhall

    Stimme und Widerhall

    Frauen in der Literatur | Lange Zeit waren Frauenfiguren in der Literatur oft auf bestimmte Rollen reduziert oder blieben im Schatten männlicher Erzählungen. Doch ihre Stimmen sind vielfältig, kraftvoll und prägend und warten darauf, gehört zu werden. Diese Rubrik widmet sich den Frauen in der Literatur in all ihren ungezählten Facetten. Wir hören ihren inneren Monologen aufmerksam zu, verfolgen ihre oft Kämpfe um Selbstbestimmung und ihre Triumphe über gesellschaftliche Beschränkungen, ihre komplexen Beziehungen und ihre stillen oder lauten Rebellionen gegen Konventionen. Wir erkunden den tiefgreifenden Widerhall ihrer Erfahrungen – wie sie andere Figuren in den Geschichten beeinflussen, festgefahrene gesellschaftliche Normen aufbrechen und bis heute in der Literatur nachwirken und neue Perspektiven eröffnen. Hier geht es um die ungezählten Stimmen, die die literarische Landschaft so reich und vielschichtig gestalten und deren Widerhall unser Verständnis der Welt und der menschlichen Erfahrung erweitert und nachhaltig prägt. Es geht darum, wie sie ihre Stimme finden und erheben, auch wenn Widerstand herrscht, und wie dieser Widerhall Generationen von Leserinnen und Lesern inspiriert.

    Illustration: Judith Horvath

error: Content is protected !!