Ein Nachtrag zur WORTSCHAU Nr. 43 | Mein kritischer Beitrag zur WORTSCHAU Nr. 43 hat auf Facebook eine bemerkenswert konstruktive Diskussion ausgelöst. Dass sich Herausgeber, Autorinnen und Autoren die Zeit genommen haben, auf meine Fragen einzugehen, freut mich sehr – und zeigt, dass die Spannung zwischen Hermetik und Zugänglichkeit keine einseitige Irritation ist, sondern ein produktives Spannungsfeld, über das es sich lohnt nachzudenken.
Die Ausgangsfrage
In meinem ursprünglichen Beitrag hatte ich gefragt: Für wen sind diese Texte eigentlich gedacht? Nicht aus Frust, sondern aus Neugier. Viele Gedichte der Ausgabe arbeiten in einer Dichte von Metaphern und intertextuellen Bezügen, die ohne Kontextualisierung – kein Vorwort, keine Anmerkungen – schwer zugänglich bleiben. Meine Befürchtung: Ohne Brückenangebote entsteht der Eindruck einer impliziten Prüfung: „Wer das nicht versteht, gehört nicht dazu.“
Die Reaktion der Herausgeber
Wolfgang Allinger, einer der beiden Herausgeber, nahm auf Facebook Stellung zu meinen Fragen. Seine Position ist klar: Die WORTSCHAU sei keineswegs unzugänglich. Gedichte würden sich manchmal verbergen, und gerade dadurch Denkräume eröffnen. Sprachspiele in jegliche Richtung seien erlaubt und eine Herausforderung an Leserinnen und Leser. Die Zielgruppe? „Alle, die Gedichte mögen.“
Entscheidend ist seine Haltung zum Thema Kontextualisierung: „Wir geben bewusst keine Erklärungen.“ Genau wie er Ausstellungen nicht mag, in denen Exponate „erklärt“ werden, möchte er Literatur nicht erklären. Die WORTSCHAU stelle Literatur vor, erkläre sie aber nicht.
Die Diskussion: Verstehen, Zugänglichkeit und die Conditio Humana
In den Kommentaren entspann sich eine differenzierte Auseinandersetzung mit meinen Fragen. Besonders aufschlussreich war der Beitrag von Jörn Peter Budesheim, dessen Illustrationen in der Ausgabe 43 erschienen sind.
Das Picasso-Argument: Kunstgeschichte als Dialog
Budesheim verwendet ein einleuchtendes Beispiel aus der bildenden Kunst: Wenn Picasso 1961 ein Bild mit dem Titel Le Déjeuner sur l’herbe malt, verweist er auf Manets gleichnamiges Werk von 1863. Hat er damit „bewusst Hürden aufgebaut“? Budesheims Antwort: Nein. Picasso bewegt sich einfach in seinem Feld, dem Feld der Kunst. Dieses Wissen ist Spezialwissen, gewiss, aber das macht die Kunst nicht elitär im negativen Sinn.
Vielmehr handelt es sich um einen Dialog in der Kunstgeschichte: Künstlerinnen und Künstler sprechen mit ihren Vorgängerinnen und zugleich mit ihrer eigenen Zeit. Das ist keine Abschottung oder Überheblichkeit, sondern nahezu unvermeidlich, weil man sich als Künstlerin oder Künstler immer in einer Geschichte bewegt, die einen geprägt hat – und die man selbst weiterschreibt.
Nichtverstehen als Einladung
Budesheim kennt auch „die andere Seite“: Als kein großer Kenner der Literatur macht er sich oft auf die Suche, wenn er Anspielungen nicht versteht. Und meist ist das bereichernd. „Manchmal ist Nichtverstehen kein Scheitern, sondern der Beginn einer neuen Spur.“ Nichtverstehen muss man nicht als Abschottung begreifen, man kann es auch als Einladung verstehen.
Wichtig ist ihm: Verstehen muss nicht heißen, alle intertextuellen Bezüge nachzuvollziehen. Manchmal reicht es, beim Klang, bei den Bildern, bei der Stimmung zu bleiben. Gedichte haben oft mehrere Schichten, und keine Leserin, kein Leser muss alle gleichzeitig „erfassen“. Auch ein „partielles Verstehen“ kann reich sein.
Unterschiedliches Weltwissen als Conditio Humana
Budesheims entscheidender Punkt: Unser „Weltwissen“ unterscheidet sich grundsätzlich sehr stark. Kommunikation funktioniert im Alltag nur deshalb, weil es genügend Überschneidungen gibt. Doch in Wahrheit hat jede und jeder sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht – und all das fließt in Kunstwerke ein. Deshalb sind Momente des Nichtverstehens auch exemplarisch: Sie zeigen einen Aspekt der conditio humana.
Einer seiner Lieblingsausstellungstitel lautet passenderweise: Dinge, die wir nicht verstehen!
Die Problematik des „Verstehens“
Elke Bludau griff den Begriff des „Verstehens“ kritisch auf. Sie benutzt ihn nicht gerne in Bezug auf Gedichte und Kunst im Allgemeinen, weil er oft missverstanden wird. „Verstehen“ scheint ihr sogar kontraproduktiv, um Menschen moderne Lyrik und Kunst näherzubringen.
Das Wort „Verstehen“ habe für Kunstschaffende und für Menschen, die mit und in Kunst leben, eine andere Bedeutung. Sie kennt viele Menschen, die mit moderner Lyrik und bildender Kunst nichts anfangen können und dann sagen: „Das verstehe ich nicht.“ Die Qualität eines Produkts werde viel zu oft an leichter Zugänglichkeit gemessen. Im Zuge eines Rollbacks gegen Intellektuelle und der Unlust, sich etwas erarbeiten zu müssen, werde es immer wichtiger, die Mehrdimensionalität des Wortes „Verstehen“ zu vermitteln.
Budesheim ergänzte: Den Begriff „verstehen“ müsste man eigentlich erst mal viel besser verstehen. Er ist sehr weit, wird aber oft viel zu eng genommen. Meist meint er: Was ich auch in anderen Worten sagen kann. Das mag für das alltägliche Verstehen zutreffen – für Gedichte oder Aquarelle aber wäre es eine Verarmung. Denn dort geht es oft gerade um das, was sich nicht anders sagen oder zeigen lässt.
Selbstbedienungslyrik ohne Zielgruppe
Weitere Stimmen brachten hilfreiche Perspektiven ein. Die Haltung ließe sich vielleicht so zusammenfassen: Die WORTSCHAU wird als Angebot verstanden, aus dem sich jede und jeder das mitnimmt, was berührt. Die Begriffe „Verstehen“ und „Zielgruppe“ passen aus dieser Perspektive nicht zur Rezeption von Gedichten. Die Mischung, die vorstellt und Einlassung anbietet, wird geschätzt. Kontextbedürfnisse entstehen individuell – aber die Auswahl der WORTSCHAU mache zusätzliche Kontextualisierung meist unnötig.
Die WORTSCHAU ermögliche den Zugang zu den Arbeiten der Schreibenden und damit die individuelle Auseinandersetzung mit den Texten. Sie zeige zeitgenössische Standpunkte.
Mein Dank und meine Reflexion
Ich bedanke mich herzlich für diese konstruktive Auseinandersetzung. Die Diskussion hat mir geholfen, meine eigene Position zu differenzieren:
Ja, Gedichte müssen sich nicht erklären. Und ja, das Fehlen von Kontextualisierung kann Teil des ästhetischen Programms sein. Die Vergleiche mit der bildenden Kunst sind erhellend: Auch dort gibt es Referenzsysteme, die nicht allen zugänglich sind – und das ist legitim.
Dennoch bleibt für mich die Frage: Gibt es nicht einen Unterschied zwischen dem bewussten Verzicht auf Erklärungen (was ich respektiere) und dem völligen Fehlen von Orientierungspunkten? Mein Vorschlag war nie, Gedichte zu „erklären“ im Sinne einer Auflösung. Sondern: Kontextualisierung als Einladung, nicht als Entschlüsselung.
Ein kurzes Nachwort, das Themen andeutet. Ein Gespräch mit Autorinnen und Autoren über ihre Quellen. Oder die Frage: Welche Traditionen werden hier aufgerufen? Das würde die Gedichte nicht banalisieren, sondern Türen öffnen, ohne den Zaun einzureißen.
Fazit: Produktive Spannung
Die Diskussion hat gezeigt: Die Spannung zwischen Hermetik und Zugänglichkeit ist keine einfache Opposition. Sie ist ein produktives Spannungsfeld, in dem sich unterschiedliche Haltungen zur Kunst, zum Verstehen und zur Rolle von Leserinnen und Lesern begegnen.
Die WORTSCHAU hat sich bewusst für eine Position entschieden: Sie stellt vor, erklärt nicht. Sie fordert heraus, ohne zu didaktisieren. Das ist eine legitime Haltung – und die Diskussion hat mir geholfen zu verstehen, warum diese Haltung für die Herausgeberinnen und Herausgeber so wichtig ist.
Für mich bleibt dennoch die Überzeugung: Brücken bauen bedeutet nicht, Kunst zu verraten. Im Gegenteil: Es bedeutet, mehr Menschen die Chance zu geben, sich auf den Weg zu machen. Auch wenn dieser Weg niemals ganz durchschaubar sein wird – und auch nicht sein sollte.
Danke an alle, die sich an diesem Dialog beteiligt haben. Solche Gespräche sind es, die Literatur lebendig halten.
Dieser Beitrag bezieht sich auf meinen ursprünglichen Artikel zur WORTSCHAU Nr. 43 und die anschließende Diskussion auf Facebook (nachlesbar via Account der WORTSCHAU).


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