Gebet zum Volk | Karl Bröger

Die alten Götter sind tot. 
In diesen Tagen 
haben wir ihre Bilder zerschlagen 
und künden laut ein neues Gebot.

Volk du bist groß 
und unbegreiflich in deinem Tun. 
Volk, dein Schoß 
läßt die Kinder der Zukunft los. 
Söhne der Lüge, Söhne der Wahrheit. 
Brüder im Irrtum, Brüder in Klarheit 
wirren um dich in buntem Schwarm. 
Alle liegen in deinem Arm 
und wollen an deinem Herzen ruhn, 
Mutter! 

Ewig junges Angesicht 
kehrst du nach der Erde hin. 
Große Allgebärerin, 
du stirbst nicht. 
Du bist unsres Lebens Leben, 
Volk, und unser tiefster Wurzelgrund. 
Jeder Hauch ist dir ergeben, 
jede Hand beschwöre neu den Bund. 

Tod ist Irrtum, Sterben Trug, 
was da lebt, ist schon gewesen. 
Immer hebt zu neuem Flug 
sich der Geist und will in Sternen lesen. 
Einmal müssen wir genesen, 
und aus aller Wirrnis uns befrein. 
Volk, dann wirst du erst geboren sein, 
wirst dein eignes Antlitz kennen 
und dich mit dem wahren Namen nennen. 

Mächtig schwillt das Beten, Rufen, Schrein: 
Geburt, Geburt 

Aus: Karl Bröger | Sturz und Erhebung
Gesamtausgabe der Gedichte
Eugen Diederichs Verlag Jena
1. bis 10. Tausend | 1943