Ursprung der Visuellen Poesie
Die Visuelle Poesie entstand in den 1950er und 1960er Jahren in Deutschland als eine Gegenbewegung zur traditionellen, oft metaphernreichen Lyrik. Der Begriff der „Konkreten Poesie“ wurde von Eugen Gomringer geprägt und lehnte sich an den Begriff der „Konkreten Kunst“ an, den Max Bill und Theo van Doesburg in die Diskussion gebracht hatten. Konkrete Poesie setzt sich mit dem Material der Sprache auseinander, indem sie sich auf Wörter und Buchstaben reduziert. Diese Form des Schreibens ist auch eine bewusste Abkehr von der Lyrik der 1950er Jahre, die oft noch von Naturmotiven geprägt war, obwohl die Gesellschaft zunehmend in Großstädten lebte.
Timm Ulrichs beschreibt diesen Wandel so: „Eugen Gomringer erkannte, dass die großen Schilder an den Autobahnen mit ihrer verknappten Bildsprache und auch Sprach-Sprache eigentlich dem modernen Leben viel näher sind. Also einprägsame Formeln prägen. Man muss gar nicht viele Worte machen, aber man muss genau am Material arbeiten, um die richtigen, prägenden und zündenden, pointierten Formen und Formeln zu finden.“
„Ich bin ein Gedicht“ – Kunst als Selbstausstellung
Timm Ulrichs, der sich selbst als „Totalkünstler“ bezeichnet, ging noch einen Schritt weiter: 1968 erklärte er sich in einem „egozentrisch-monomanischen Manifest“ zu einem lebenden Gedicht. Dies führte zur Entstehung des Werks „Ich bin ein Gedicht“, das als Poster mit einem Selbstporträt von Ulrichs – aufgenommen vom Fotografen Heinrich Riebesehl – und einem dazugehörigen Text veröffentlicht wurde.
Ulrichs beschreibt die Idee dahinter folgendermaßen:
»Man muss wissen, wenn man den Text [Ich bin ein Gedicht] liest, dass ich mich Anfang der 1960er Jahre als erstes lebendes Kunstwerk tituliert habe. Es gab dann auch Selbstausstellungen im Glaskasten. Und da es ja nicht offensichtlich ist, dass eine Allerweltsperson den Anspruch erhebt, sich von der ganzen Menschheit dadurch zu unterscheiden, dass sie selber Kunstwerk zu sein behauptet, musste das natürlich theoretisch unterfüttert werden. Ich habe verschiedene Manifeste geschrieben und nicht nur theoretische Texte, sondern auch solche, die Poesie sein wollten. Also Literatur. Und dazu gehören verschiedene egozentrische Manifeste oder sogar egozentrisch-monomanische Manifeste. […] Und dann gibt es eben dieses sich noch mehr auf Poesie beziehende Manifest: Ich bin ein Gedicht. Und da habe ich dann ein geschöntes Foto von mir auf die eine Seite gebracht, das der mittlerweile verstorbene und bekannte Fotograf Heinrich Riebesehl aufgenommen hatte. Die andere Seite zeigt einen Text, der literarische Begriffe und Redewendungen zusammenführt. Sie sind immer Ich-bezogen und münden in dem Satz, dass ich mich trotz dieses Manifests für unbeschreiblich halte. Quintessenz dieser Manifeste ist, mich als Kunstwerk zu feiern, zu legitimieren, zu begründen. Und das benutzt dann auch Redewendungen, für die die Konkreten Poeten ja auch ein Faible hatten […].«
Bedeutung der Visuellen Poesie heute
Auch heute ist die Visuelle Poesie noch von Bedeutung, insbesondere im Bildungsbereich. Ulrichs‘ Werke, darunter sein berühmter Text „Ordnung-Unordnung“, sind in zahlreichen Schulbüchern enthalten und regen Schülerinnen und Schüler dazu an, sich selbst mit der kreativen Gestaltung von Sprache auseinanderzusetzen. Er selbst behauptet:
„Mein kleiner Text ‚Ordnung-Unordnung‘ ist ja, das behaupte ich jetzt mal, der meist gedruckte Nachkriegstext überhaupt. Also noch vor Eugen Gomringers Eigengedicht, was auch eine gute Konjunktur hatte Anfang der 1960er Jahre und heute auch immer noch erscheint. Aber mein ‚Ordnung-Unordnung‘ hat sich als besonders tragfähig und auch für schulische Interpretationen geeignet erwiesen. So ist das in hunderten von Schulbüchern erschienen, nicht nur in Deutschland, sondern auch im europäischen Ausland und auch in Übersee.“
Titelfoto Michael Raab (selfie)
Randbemerkung | Die Ausstellung „Ich bin ein Gedicht“ im Westfälischen Literaturmuseum Oelde widmete sich der Bewegung der Visuellen Poesie und zeigte Werke von drei renommierten westfälischen Künstler-Autoren: Timm Ulrichs, Reinhard Döhl und S. J. Schmidt. Die Ausstellung lief vom 31. Juli bis zum 3. Oktober 2016 und erstreckte sich sowohl über die Innenräume des Museums als auch über einen Kunstparcours im Außenbereich.
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