Die Lyrikreihe „Poesiealbum“ wurde 1967 in der DDR vom Dichter und Lektor Bernd Jentzsch im Verlag Neues Leben gegründet. Dieser Verlag gehörte zur FDJ (Freie Deutsche Jugend) und unterstand deren politischer Aufsicht. Die Idee war, Lyrik einem breiten Publikum zugänglich zu machen und sie „unters Volk“ zu bringen. Die Hefte kosteten sehr günstige 90 DDR-Pfennig – etwa der Preis eines Brotes – und waren praktisch im Format, um bequem in eine Jacken- oder Handtasche zu passen.
Bis 1990 erschienen insgesamt 275 Ausgaben (monatlich ein Heft) und 15 Sonderausgaben, oft zu den jährlichen Poetenseminaren der FDJ. Damit gilt die Reihe als die umfangreichste Lyrikreihe in Deutschland. Jedes Heft umfasste 32 Seiten, hatte eine farbige Umschlagvignette und eine doppelseitige Grafik in der Mitte, oft von zeitgenössischen Künstlern. Sie waren jeweils einem Lyriker gewidmet, mit biografischen Angaben und Zitaten. Gedichte wurden oft in deutscher und der Originalsprache abgedruckt.
Die Hefte waren in Buchhandlungen und an Zeitungskiosken erhältlich. Obwohl die durchschnittliche Auflage bei 12.000 Exemplaren lag, waren einige Ausgaben sehr begehrt und wurden zur „Bückware“, da die Nachfrage das Angebot überstieg.
Im Bestand habe ich:
Øyvind Berg | 258
Udo Degener | 244
Christoph Kuhn | 348
Georg Maurer | 43
Friederike Kempner | 239
Axel Schulze| 68
Günter Weisenborn 196
Elisabeth Wesuls 216
Friedrich Wolf 254
Birgitt Lieberwirth 255
Herausforderungen und Zensur in der DDR
Obwohl die Reihe der Gründungskonzeption nach dem sozialistischen Realismus verpflichtet war, versuchten die Herausgeber stets, die Vielfalt der Lyrik abzubilden. Das führte immer wieder zu Konflikten und Auseinandersetzungen mit der Zensur und der politischen Führung. Bernd Jentzsch musste „manche Kröte schlucken“, indem er beispielsweise Hefte zu politisch gewünschten Themen wie Lenins 100. Geburtstag herausgab. Dadurch „erkaufte“ er sich jedoch die Möglichkeit, weniger wohlgelittene Lyriker zu veröffentlichen.
Es gab erhebliche Schwierigkeiten bei der Veröffentlichung von Dichtern, die sich nicht ins vorgegebene Schema fügten:
- Reiner Kunze: Ein Heft mit seinen Gedichten im Jahr 1968, das sich offen zum „Prager Frühling“ bekannte, führte zu massivem Ärger. Gedichte wurden gestrichen oder umnummeriert, um den Eindruck eines vollständigen Werkes zu erwecken. Es erschien provokanterweise am Tag des Einmarsches der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei.
- Thomas Brasch: Obwohl er wegen seines Protests gegen die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ in Haft gewesen war, gelang es 1975, Gedichte von ihm zu veröffentlichen. Das Heft unterlag jedoch einer massiven Zensur, und Brasch wollte seinen Vertrag kündigen. Nach Erscheinen drohte man dem Herausgeber mit Entlassung, und Rezensionen kritisierten die Texte scharf. Dies blieb bis kurz vor dem Mauerfall Braschs einzige Lyrikveröffentlichung in der DDR.
- Ausreise von Herausgebern und Konsequenzen: Bernd Jentzsch verließ die DDR 1976 nach Protesten gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Seine Nachfolger waren Richard Pietraß und später Dorothea Oehme. Richard Pietraß gelang 1978 der „größte Coup“ mit einem Heft zu Allen Ginsberg, inklusive einer Grafik von Andy Warhol, obwohl Ginsberg sich als Freund Biermanns bezeichnete.
- Verhinderte Veröffentlichungen: Viele Dichter, die Jentzsch veröffentlichen wollte, scheiterten an der Verlagsleitung oder dem politischen Apparat. So wurden beispielsweise Ernst Jandl und Peter Huchel zunächst abgelehnt. Peter Huchel, der wegen seiner systemkritischen Haltung bereits Schwierigkeiten hatte, durfte nicht publizieren, nachdem er den Fontane-Preis in West-Berlin angenommen hatte. Manuskripte von T.S. Eliot und Ingeborg Bachmann wurden als druckfertig deklariert, durften aber nach Jentzschs Ausreise nicht erscheinen. Auch ein Heft mit Gedichten von Sarah Kirsch wurde zurückgehalten, nachdem bekannt wurde, dass sie einen Ausreiseantrag gestellt hatte.
Das Ende in der DDR und die Wiederbelebung
Im Sommer 1990 wurde die Reihe mit Heft 275 (Gedichte von August von Platen) aus finanziellen Gründen eingestellt und nicht mehr ausgeliefert. Ein Großteil der Auflage landete auf einer Leipziger Mülldeponie, wo ein Teil vom „Bücherpfarrer“ Martin Weskott gerettet wurde. Nach der Wende gab es mehrere, oft misslungene Versuche, die Reihe wiederzubeleben.
Erst im Herbst 2007 gelang es dem Märkischen Verlag Wilhelmshorst unter Klaus-Peter Anders, die eigentliche Lyrikreihe „Poesiealbum“ erfolgreich fortzusetzen. Die Hefte erscheinen heute zweimonatlich, widmen sich wieder einem Autor und behalten das bewährte Grundlayout bei. Anders als in der DDR gibt es keine politischen Einflussnahmen mehr auf die Lyrikauswahl. So konnten die ersten Ausgaben nach der Wiederaufnahme Peter Huchel und Ernst Jandl gewidmet werden, deren Manuskripte in der DDR verboten waren. Bernd Jentzsch selbst beteiligte sich an der Rekonstruktion verlorener Manuskripte von Peter Huchel.
Die Auflage beträgt heute 1.000 Exemplare pro Heft, und der Preis ist mit 4 Euro nach wie vor moderat. Die Reihe wird heute von Richard Pietraß herausgegeben.
Insgesamt sind über 330 Hefte erschienen (alte und neue Hefte zusammen), mit einer Gesamtauflage von über 5 Millionen Exemplaren. Autoren aus drei Dutzend Ländern wurden vorgestellt, was das „Poesiealbum“ zu einem „Weltarchiv“ der Lyrik macht, das sowohl gefeierte als auch kritisierte Gedichte umfasst. Es gilt als lebendiges Beispiel einer Kulturnation, die trotz aller Schwierigkeiten Poesie zugänglich machte und macht.
Herausgeberverlage der Lyrikreihe POESIEALBUM (während der DDR):
Verlag Neues Leben Berlin
Verlage, die die Reihe nach der DDR-Zeit fortführten oder eine einzelne Ausgabe herausbrachten:
BrennGlas Verlag Assenheim (1991, Nr. 276)
Märkischer Verlag Wilhelmshorst (seit 2007, Fortführung der Reihe)
Quellen:
http://www.poesiealbum.info.de
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