Kategorie: LektüreNotizen

Inspiriert von der Praxis des Lesetagebuchs, nutze ich unterschiedliche Formen, um diesen Prozess abzubilden: Skizzen verorten plötzliche Einsichten, Töne halten die Stimmung einer Passage fest, Filme fangen Bewegung ein, wo Worte erstarrten. Form follows function – denn nur so lässt sich erfassen, was beim Lesen geschieht: ein Dialog, der nicht endet.

  • Angelica Seithe – DIE ALTE FRAU

    Angelica Seithe – DIE ALTE FRAU

    DIE ALTE FRAU Schnee ist gefallenSchon wird es NachtAuf weißer Decke nicht eineSpur, nicht Vogel nicht KatzeEs kommt kein BesuchEs kommt keiner heutees kommt keiner morgenSie kehrt und kehrtimmer gründlicher kehrt sie denStraßenzugang zu ihrem Haus Annähernd gelesen | Das Gedicht ist schlicht gebaut: kurze, prosanahe Zeilen ohne Reim, ohne übermäßige Interpunktion. Es öffnet mit…

  • Aus dem Reifen treten – Lyrik von Nathalie Schmid

    Aus dem Reifen treten – Lyrik von Nathalie Schmid

    Abstammung bedeutet nicht nurvon Männern über Männer zu Männern.Abstammung bedeutet auchmeine Gewaltgegen mich eine Hetze.Abstammung: Immer nochaus Sternenstaub gemacht. Immer nochsehr komplex. Immer nochauf die Spur kommend.Abstammung im Sinne von:Ring um den Hals eher auf Schulterhöheein loser Reifen. Ein Reifenden man fallen lassen kannaus ihm hinaustreten und sagen:Das ist mein Blick. Das ist meine Zeit.Das…

  • BECKENENDLAGE – Kathrin Niemela

    BECKENENDLAGE – Kathrin Niemela

    Wenn Wasser zur Hinrichtungsstätte wird – Eine Annäherung an das Gedicht „Beckenendlage“ von Kathrin Niemela | Der Titel klingt nach Krankenhaus, nach Ultraschall und besorgten Hebammen: „Beckenendlage“ – ein geburtshilflicher Fachbegriff für eine riskante Position des Kindes im Mutterleib. Doch Kathrin Niemelas Gedicht führt nicht in den Kreißsaal. Es führt ins Wasser. Ins Ertränkungsbecken. Drekkingarhylur:…

  • Er im Dialog mit Sandrines fragmentarischen Erinnerungen

    Er im Dialog mit Sandrines fragmentarischen Erinnerungen

    Sandrine, dein Atem ist Gänsedaunen. Meiner stockt beim Lesen, wird zu Stein in der Brust. Während du die kommenden Verheerungen spürst, taste ich mich an bereits vergangene heran. Deine Zeit friert in stehenden Gewässern – meine fließt linear fort, Datum für Datum, wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht. Vielleicht ist das der Unterschied. Du schreibst…

  • Marina Büttner – Jüdischer Friedhof Weißensee

    Marina Büttner – Jüdischer Friedhof Weißensee

    Annähernd gelesen | Gedichtlektüre und Kontext. Das 1-strophige Gedicht von Marina Büttner verdichtet eine Momentaufnahme auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee zu einer Folge von starken, teils naturrohen Bildern, in denen persönliche Erschütterung und historische Schwere ineinanderfließen. Zwischen verwitterten Steinen, Symbolen und Zeichen des Verfalls verhandelt es die Beziehung von Zeit, Wahrheit und Erinnerung. Gelesen habe…

  • Schief gewickelt, wie ich bin! – Herausgelesen

    Schief gewickelt, wie ich bin! – Herausgelesen

    Es ist unbefriedigend, etwas teilen zu wollen, was man nicht direkt zeigen kann. Wie in diesem Fall: „Schief gewickelt, wie ich bin!“ Frottage mit Zeichnung von Ille Chamier. Daher habe ich versucht festzuhalten was ich dem Bild entlockt habe: Falsche Schritte? Sie steht da, ein Knoten aus Linien und Schatten,geformt aus Plänen, die nie so…

  • Die Bibliogenie – Eine Skizze der Bücherzeugung nach Georg Christoph Lichtenberg

    Die Bibliogenie – Eine Skizze der Bücherzeugung nach Georg Christoph Lichtenberg

    Im späten 18. Jahrhundert, als das gedruckte Wort in Europa zu einer Flut anwuchs, entwarf Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) ein kleines, satirisch zugespitztes Gedankenspiel: die Bibliogenie, die „Zeugung der Bücherwelt“. Er verstand darunter eine Art Naturgeschichte der Entstehung von Büchern – nicht im Sinne von Papier, Druck und Bindung, sondern als geistiger Fortpflanzungsprozess. In seinen…

  • Guido Zernatto || Gebet

    Guido Zernatto || Gebet

    Ich bete zu Gott, weil in seiner Hand Mein Sein ist, mein Leib, mein Gefühl, mein Verstand, Mein Hoffen, mein Trachten zu jeglicher Stund Und ohne ihn redet kein Wörtlein mein Mund. Ich bete zu Gott, weil das Firmament Kein Licht und kein Lebendsein ohne ihn kennt; Ohne ihn steigt kein Tag auf den Bergen…

  • Süleyman I. & Roxelane  | Liebesbekundungen

    Süleyman I. & Roxelane  | Liebesbekundungen

    Aus einem Liebesbrief an den Sultan und seine poetische Widmung an Roxelane Während seiner Feldzüge ließ Sultan Süleyman I. (1494 – 1566) keinen Moment aus, um seiner geliebten Hürrem [Roxelane], die im Schloss auf ihn wartete, Briefe und Gedichte zu schreiben. Diese verliehen Hürrem Kraft und Hoffnung auf ein Wiedersehen. Auch ihre Antworten drückten leidenschaftliche Sehnsucht…

  • Safiye Can – Aussicht auf Leben und Gleichberechtigung

    Safiye Can – Aussicht auf Leben und Gleichberechtigung

    Das Gedicht im Wortlaut (gekürzt):„Frauen / kauft von Frauen / lest von Frauen // […] / bildet eine Faust / werdet laut! // […] / Die Welt muss lila werden.“ Entnommen dem Lyrikband Poesie und PANDEMIE von Safiya Can | Wallstein Verlag 2021 Was steht da?Die Autorin richtet sich in direkter Ansprache an Frauen. In…

  • Atlantis lokalisieren – Nathalie Schmid

    Atlantis lokalisieren – Nathalie Schmid

    LektüreNotizen | Der Titel Atlantis lokalisieren klingt nach poetischem Forschungsauftrag. Dieses ‚Lokalisieren‘ meint weniger eine geografische Suche als einen schöpferischen Akt, der sich in Lyrik, Kunst und jeder anderen Form der Kreation vollzieht – und dessen Scheitern bereits einkalkuliert. Atlantis: ein Ort, der in Legenden existiert, in Spekulationen, in Wunschbildern. Ein Ort, der verschollen ist,…

  • Ille Chamier – Rosestock Holderblüh

    Ille Chamier – Rosestock Holderblüh

    Ille Chamiers Gedicht Rosestock Holderblüh verdichtet ihre Kindheitserinnerungen an den Zweiten Weltkrieg zu einer poetischen Collage aus Trauma und Überlebenspoesie. Geboren 1937, erlebte sie die Bombennächte um 1943 – als Sechsjährige – in unmittelbarer existenzieller Bedrohung, wie die Zeilen „horchte ich nach den Bombengeschwadern“ bezeugen. Die Szene der zersplitterten Fenster („Scherben lagen ums Gitterbett“) neben der unverletzten Schwester offenbart…

  • margueriten – Norbert Hummelt

    margueriten – Norbert Hummelt

    Das Gedicht als transgenerationale Übersetzungsarbeit? Eine Annäherung | In „margueriten“ rekonstruiert Norbert Hummelt nicht einfach die Erinnerungen seiner Mutter an den Zweiten Weltkrieg – er macht den Prozess der Rekonstruktion selbst zum Thema. Das lyrische Ich (als nachgeborener Sohn) wird zum Archäologen mütterlicher Erfahrungen, die nur fragmenthaft überliefert sind: in abgebrochenen Sätzen, verweigerten Liedern und weggelegten…

  • Frauke Tomczak – Zwei Ewigkeiten in drei

    Frauke Tomczak – Zwei Ewigkeiten in drei

    in

    Annähernd gelesen | Zwei Ewigkeiten in drei schildert, wie das lyrische Ich „in der Ecke“ steht – nicht orientierungslos, sondern gezwungenermaßen im Dreieck von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Dieser symbolische Dreiklang wird zur Falle: eine „Triangel-Ecke“, in der sich das Ich verunsichert, beschämt und fragmentiert fühlt. Es bewegt sich unsicher zwischen Zuspruch und Urteil…

  • die namen der eisheiligen

    die namen der eisheiligen

    Annähernd gelesen | Nathalie Schmids Gedicht „die namen der eisheiligen“ ist eine dichte lyrische Miniatur, die existenzielle Verlusterfahrung in einer poetischen Collage aus Stadt- und Naturbildern verarbeitet. In freier Form, ohne Satzzeichen oder konventionelle Struktur, oszilliert das Gedicht zwischen Bewegung und Erstarrung, zwischen Geräuschkulisse und sprachloser Introspektion. Es thematisiert das Ringen um Orientierung in einem…

  • Nathalie Schmid – herbrig

    Nathalie Schmid – herbrig

    Interpretation zu Nathalie Schmids Gedicht „herbrig“ Nathalie Schmids Gedicht „herbrig“ ist ein poetischer Erinnerungsraum, der sich mit Vergänglichkeit, Heimatverlust und dem Bewahren des Alltäglichen beschäftigt. In einer fragmentarisch-assoziativen Struktur – typisch für zeitgenössische Lyrik – reiht die Autorin Bilder aneinander, die zwischen Melancholie und stillem Humor oszillieren. Jede Strophe beginnt mit dem Wort „bevor“, wodurch…

  • Abzeichen

    Abzeichen

    In diesem Fall habe ich versucht, mir Ille Chamiers Gedicht „Heil“ über Erzählungen aus der eigenen Familie zu erarbeiten. Daraus ist eine Art Gedicht entstanden: ich war fünf, als mein Bruder das Abzeichen bekamgoldenes Hakenkreuz auf rotem Grunder steckte es sich ans Hemd wie ein Versprechendie Mutter sagte: sei stolz im Schulflur hing der neue…

  • Valérys Platane: Ein Baum, der mehr ist als nur Holz und Blätter

    Valérys Platane: Ein Baum, der mehr ist als nur Holz und Blätter

    in

    Paul Valérys Gedicht „An die Platane“ ist im Grunde eine tiefe Nachdenklichkeit über das Leben, unsere Grenzen und das, wonach wir uns sehnen. Er nimmt die Platane als Beispiel, um uns etwas über uns selbst zu erzählen. Am Anfang steht die Platane da, nackt und weiß, wie ein junger Mensch. Aber sie ist nicht ganz…

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