Die Erzählung „Am Tag, als ich hinfuhr, zum Treffen schreibender Frauen…“ (erschienen in Courage – Berliner Frauenzeitung, Juli 1979) offenbart scharfe gesellschaftskritische und feministische Positionen:
Die Last der unsichtbaren Arbeit
Ille Chamier beschreibt minutiös, wie Care-Arbeit (Kinderbetreuung, Haushalt) ihr Schreiben behindert. Bevor sie zum Frauentreffen aufbrechen kann, muss sie ein komplexes Netz aus Versorgungsaufgaben organisieren:
„Ich rufe bei vier Frauen an, bevor ich eine finde, die die Kinder nehmen kann. […] Ich koche vor, räume auf, wasche Wäsche, bügle Hemden.“
Die physische und mentale Erschöpfung durch diese „Sorgearbeit“ (ein damals neu geprägter Begriff der Frauenbewegung) wird zum zentralen Konflikt: Selbst auf der Zugfahrt zum Treffen denkt sie an vergessene Haushaltspflichten.
Kritik an männlich dominierten Literaturstrukturen
Das „Treffen schreibender Frauen“ fungiert als Gegenmodell zu etablierten (männlich geprägten) Literaturzirkeln. Chamier karikiert implizit die Selbstinszenierung männlicher Autoren:
„Bei Männertreffen geht es um ‚Werke‘, um ‚Positionen‘. Hier reden wir darüber, wie wir den Alltag meistern und trotzdem schreiben.“
Die Dekonstruktion des „Genie-Mythos“ ist eindeutig: Kreativität entsteht nicht im elitär abgeschirmten Raum, sondern im Kampf mit realen Lebensbedingungen.
Sprache als Werkzeug der Selbstermächtigung
Chamiers Protagonistin nutzt Schreiben zur Verarbeitung unterdrückter Wut. In einer Schlüsselszene notiert sie während des Treffens:
„Ich schreibe: Ich hasse es, dass ich immer lächeln muss. Ich hasse es, dass ich dankbar sein soll. […] Das Blatt fülle ich mit großen, zornigen Buchstaben.“
Hier wird das Schreiben zur politischen Geste: Es bricht das Tabu des „liebenswürdigen“ Frauseins und transformiert unterdrückte Emotionen in sichtbaren Protest.
Ambivalenz der Solidarität
Trotz der utopischen Hoffnung auf Verbündete zeigt Chamier auch Spannungen unter Frauen:
Die Protagonistin fühlt sich zwischen Akademikerinnen und Arbeiterfrauen fremd,
Sie kritisiert vereinfachende Lösungsmodelle („Manche sagen: Dann lass doch den Haushalt liegen!“),
Die ökonomische Ungleichheit unter Frauen wird benannt: Nicht alle können sich Betreuung leisten oder haben „einen Mann, der zahlt“.
Damit vermeidet sie romantisierende Sisterhood-Narrative.
Der Körper als Ort der Unterdrückung
Auffällig ist die dichte körperliche Metaphorik:
„Mein Nacken ist verspannt“ (nach Hausarbeit),
„Ich beiße mich fest“ (beim Unterdrücken von Wut),
„Mein Magen zieht sich zusammen“ (vor Konflikten).
Die physischen Symptome materialisieren die psychische Belastung – ein frühes Aufgreifen somatischer Gewaltfolgen.
Historische Verortung & Bedeutung
Zeitkontext: 1979 war die zweite Frauenbewegung in der BRD auf ihrem Höhepunkt. Chamier greift Debatten um Lohn für Hausarbeit (vgl. Silvia Federici) und „Frauenliteratur“ auf.
Provokation: Die Erzählung entstand parallel zu ihrem Buch „Setz dich hin und lächle“ – der Titel wirkt wie eine ironische Brechung des darin thematisierten Anpassungsdrucks.
Stil: Chamier kombiniert dokumentarische Präzision (Listen von Arbeiten) mit poetischer Verdichtung („zerknittertes Gesicht“). Das erinnert an Maxie Wanders „Guten Morgen, du Schöne“ (1977), vermeidet aber deren Reportageton.
Meine offenen Fragen an den Text
Warum bleibt die Protagonistin namenlos? (Verallgemeinerungsstrategie?)
Wieso endet der Text vor dem Treffen? (Scheitern der Utopie?)
Wie verhält sich diese radikale Position zu Chamiers späterer Rückzug ins Private (Selbstverlag)?
Haben Sie eigene Leseerfahrungen mit diesem Text? Mir fehlt der Kontext – wurde er in (feministischen Kreisen) besprochen? Gab es Reaktionen?
Die Erzählung „Am Tag, als ich hinfuhr, zum Treffen schreibender Frauen…“, erschienen 1979 in der „Courage – Berliner Frauenzeitung“ ist vollständig online auf den Seiten der Friedrich-Ebert-stiftung zu lesen. (Online hier einsehbar).
Ille Chamier – Eine Spurensuche. (Mein Versuch, ein Porträt über die Autorin zu entwerfen.)
Mein Versuch, diese Erzählung in lyrische Fragmente zu übertragen.
Titelfoto: linaberlin via pixabay
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