Marina Büttner – Jüdischer Friedhof Weißensee

Marina Büttner - Jüdischer Friedhof Weißensee - WORTSCHAU 43

Annähernd gelesen | Gedichtlektüre und Kontext. Das 1-strophige Gedicht von Marina Büttner verdichtet eine Momentaufnahme auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee zu einer Folge von starken, teils naturrohen Bildern, in denen persönliche Erschütterung und historische Schwere ineinanderfließen. Zwischen verwitterten Steinen, Symbolen und Zeichen des Verfalls verhandelt es die Beziehung von Zeit, Wahrheit und Erinnerung.

Der Jüdische Friedhof Weißensee wurde 1880 eingeweiht. Er umfasst rund 42 Hektar, ist in 120 Felder gegliedert und zählt über 115 000 Grabstellen. Das Eingangsensemble (Trauerhalle, Arkaden, gelbe Ziegel) entwarf Hugo Licht. Nach jüdischer Tradition werden Gräber nicht neu belegt („ewiges Ruherecht“). Der Ort steht seit den 1970er-Jahren unter Denkmalschutz.

Die Anlage überstand den Zweiten Weltkrieg relativ unbeschadet. Der friedhofstypische Bewuchs (u. a. Efeu) ist hier bewusst Teil des Gartendenkmals und wird nicht einfach „bereinigt“ – die Vegetation gehört zur historischen Erscheinung.
Zur jüngsten Gegenwart: Am 13. Mai 2025 wurde die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer in Weißensee beigesetzt; zahlreiche Medien berichteten, die Beisetzung war ein öffentliches Erinnerungsereignis. (Ergänzend: Die Mauer an der Indira-Gandhi-Straße wurde 1983/84 zur Auflockerung mit Menora-Motiven gestaltet – eine seltene Sichtbarkeit jüdischer Symbolik im Stadtraum der DDR.)

„Ich hisse meine blaue Signalflagge.“ Im Text steht „Blau“ explizit für Nervosität/Schutzlosigkeit. In der jüdischen Symbolik verweist Blau (תכלת/tekhelet) auf das Gebot des blauen Fadens an den Zizit (Num 15,38) und – nach Menachot 43b – auf eine Kette Meer → Himmel → göttlicher Thron. In moderner Farblehre/-psychologie wird Blau häufig mit Ruhe, Distanz, Kühle, Vertrauen konnotiert. Diese Spannbreite (sakral entrückt vs. psychophysisch kühl) macht die „Signalflagge“ doppeldeutig: religiöse Fern-Assoziation vs. leibliche Alarmierung. Sefaria+1Rowohlt Verlag

„Ich vergleiche die Zeit mit der Wahrheit.“ Präzise Leseart: Der Vers setzt zwei harte Maße aneinander. „Zeit“ = nachprüfbare Dauer/Verfall; „Wahrheit“ = das Unausweichliche, was bleibt, wenn alles Beschönigen wegfällt. Auf einem Friedhof decken sich beide Größen: Die Zeit macht die Wahrheit der Vergänglichkeit sichtbar. Am Ort Weißensee ist das buchstäblich lesbar (ununterbrochene Belegung seit 1880; kein Umbruch durch Wiederbelegung).

„Zwischen den Gräbern liegt die Melancholie von Jahrhunderten.“ Kein Pathos nötig: Historische Schichtung plus bewusst belassene Vegetation erzeugen den Eindruck eines „wachsenden“ Gedächtnisses. Der Ort dokumentiert bürgerliche Repräsentationskunst um 1900 ebenso wie spätere Zäsuren – ohne fortwährende Planierung.

„Und ein kleines Kind.“ Drei praktikable Lesarten:
Konkretes Gegenbild: reale Besucherszene (Friedhöfe sind öffentlich zugänglich).
Biographische Rückblende: das verletzliche „Innen-Ich“.
Erinnerung an geraubte Kindheit: Stellvertreter für jene, die jung starben.

Alle drei sind im Text gestützt; der Vers bleibt absichtlich offen.

„Ein Fliegenschwarm … halb verweste Maus.“ Memento-mori-Detail ohne Metaphorikschutz. Es verankert die Rede von „Zeit/Wahrheit“ in Geruch, Bewegung, Verfall – eine Antithese zu geschliffener Grabarchitektur.

„Siebenarmige bemooste Wege führen ins Licht.“ Topografisch gibt es keine fest dokumentierte „siebenarmige“ Wegefigur. Die Sieben-Armigkeit ist daher als Menora-Allusion zu lesen, die sich mit dem realen Menora-Motiv an der Friedhofsmauer kurzschließt. Dass die Wege „ins Licht“ führen, neutralisiert jede düstere Engführung: Orientierung, nicht Ausweglosigkeit. Berlin

„Leise atmende Steine halten den Himmel auf.“ Hier ist keine Esoterik nötig: Grabsteine „atmen“ wörtlich nicht, aber sie arbeiten – nehmen Feuchte auf, geben sie ab, werden von Moosen und Flechten besiedelt, verändern Farbe und Textur. „Leise“ verweist auf diese sehr langsame, aber sichtbare Materialzeit. „Himmel halten“: vertikale Ordnung, die den Blick rahmt und den Raum „spannt“.

„Ich schwebe … davon.“ Kein Fluchtgestus, eher Entkopplung: Die Wahrnehmung löst sich vom Körpergewicht (nach der sensorischen Überlastung der vorigen Bilder). „Davonschweben“ passiert am Ort – nicht „weg vom Ort“. Der Schluss belässt die Spannung: Präsenz im Erinnerungsraum, Distanz zur eigenen Erregung.

Quellen:

Landesdenkmalamt Berlin: Gartendenkmal Jüdischer Friedhof Weißensee (Daten zur Anlage, Pflegeprinzip, Denkmalschutz).

Bezirksamt / Tourismus Pankow: Flächengröße, Grabstellen, Felder, Einweihung 1880.

Berlin.de: Wettbewerb/Entwurf durch Hugo Licht, historische Einordnung.

Menora-Mauer (1983/84) – Museum Pankow / Bezirksportal. Berlin

Beisetzung Margot Friedländer (Mai 2025), Berichte.

Tekhelet in Tora und Talmud: Num 15,38; Menachot 43b. Sefaria

Farbpsychologie (Blau): Eva Heller, Wie Farben wirken (Verlagsseite). Rowohlt Verlag

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