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  • Else Gold und das Zine „Das Zündblättchen“

    Else Gold und das Zine „Das Zündblättchen“

    Seit Januar 2004 erscheint in Meißen das „Zündblättchen“, eine Kunst- und Literaturzeitschrift im handlichen A6-Format. Herausgegeben wird sie von der Edition Dreizeichen, bestehend aus der Objektkünstlerin Else Gold und dem Maler, Grafiker und Dichter Wolfgang E. HerbstSilesius, der 2022 verstarb. Ursprünglich gehörte auch die Verlegerin Bettina Victoria Hennig zum Herausgeberkreis. Das Zine erscheint sechsmal im Jahr in einer Auflage von 500 Exemplaren und hat sich zu einem festen Bestandteil der Meißner Kulturszene entwickelt.

    Der Name „Zündblättchen“ hat einen historischen Bezug: Im Meißner Goldgrund, dem Wohnort der Herausgeber, wurde 1844 eine Fabrik zur Herstellung von Sicherheitszündschnüren errichtet. Diese Zündschnüre, die im Bergbau und in Steinbrüchen verwendet wurden, stehen symbolisch für die Idee, etwas in Gang zu setzen – ein passendes Bild für eine Zeitschrift, die Kunst und Literatur entzünden möchte.

    Jede Ausgabe des „Zündblättchens“ wird mit großer Sorgfalt hergestellt. Die Hefte werden auf Ökopapier gedruckt, zunächst mit einem Risographen, später mit einem Laserdrucker. Anschließend werden sie von Else Gold von Hand gefalzt, geklammert und mit Gummibändern versehen. Diese liebevolle Handarbeit verleiht jedem Exemplar eine besondere Note und macht es zu einem kleinen Kunstwerk.

    Die Inhalte des „Zündblättchens“ sind vielfältig und umfassen Texte von Autorinnen und Autoren sowie künstlerische Arbeiten. Ein besonderes Merkmal ist die Korrespondenz zwischen Text und Bild, die nicht als bloße Illustration dient, sondern eine tiefere Verbindung eingeht. So entsteht ein feines Geflecht von Beiträgen, das Leserinnen und Leser in seinen Bann zieht. Beispielsweise wurden in der Ausgabe 92/Heft 2 (2019) Gedichte des Dichters Andreas Koziol veröffentlicht, dessen Werk oft philosophische Tiefe zeigt. In der Ausgabe 085 (2018) wurden Gedichte von Constanze Böckmann mit Bildern von Andrew Maximian Niss kombiniert – eine typische Verbindung von Lyrik und visueller Kunst, die das „Zündblättchen“ auszeichnet.

    Im Juni 2020 wurde die 100. Ausgabe des „Zündblättchens“ mit einer Ausstellung in der Evangelischen Akademie Meißen gefeiert. Die Eröffnungsrede hielt die Dichterin Undine Materni, die die Bedeutung des „Zündblättchens“ für die Kunst- und Literaturszene hervorhob und die liebevolle Gestaltung sowie die tiefgründige Verbindung von Text und Bild lobte.

    Was ist ein Zine?

    Ein Zine ist eine kleine, oft selbstgemachte Publikation, die in der Regel in kleiner Auflage erscheint. Es ist ein Medium, das sich außerhalb der etablierten Verlagsstrukturen bewegt und oft von Einzelpersonen oder kleinen Gruppen produziert wird. Zines können alles Mögliche enthalten – von Kunst über Politik bis hin zu persönlichen Geschichten. Sie sind ein Ausdruck von DIY-Kultur und bieten Raum für Experimente und unkonventionelle Ideen. Das „Zündblättchen“ ist ein Beispiel dafür, wie ein Zine nicht nur eine Plattform für künstlerische und literarische Arbeiten sein kann, sondern auch ein Ort, an dem Gedanken und Ideen entzündet werden.

    Else Gold: Künstlerin und Verlegerin

    Else Gold, geboren 1964 in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), ist eine deutsche Objektkünstlerin und Verlegerin. Sie studierte von 1984 bis 1988 an der Fachschule für angewandte Kunst in Heiligendamm und war in den 1990er Jahren als Kunstvermittlerin in der Kunstsammlung Gera und im Otto-Dix-Haus tätig. Seit 1999 widmet sie sich der Schaffung von Objekten und Installationen und ist seit 2003 freischaffend in Meißen tätig.

    Gemeinsam mit Wolfgang E. HerbstSilesius gründete sie 2004 das „Zündblättchen“. Neben ihrer Arbeit als Verlegerin initiiert sie Lesungen, Ausstellungen und Arbeitszeiten mit Künstlerinnen und Künstlern sowie Autorinnen und Autoren in Zusammenarbeit mit Galerien, Museen, Kunstvereinen und der Evangelischen Akademie Meißen. Seit 2008 ist sie Vorstandsmitglied und Kuratorin des Kunstvereins Meißen.

    Else Golds Arbeiten sind geprägt von einer tiefen Reflexion über das Fremde und die ständige Veränderung, sowohl in der Natur als auch in der menschlichen Existenz. In einem Interview betonte sie die Bedeutung der Zeit für künstlerische Prozesse: „Die Dinge müssen sich entwickeln können, Zeit ist ein wichtiger Faktor.“ Diese Herangehensweise spiegelt sich in ihren Projekten wider, bei denen sie Materialien sammelt und diese über einen längeren Zeitraum hinweg zu Kunstwerken formt.

  • En plein air ZINE | Alexander Broy

    En plein air ZINE | Alexander Broy

    Alexander Broy und das „En plein air ZINE“ – Tradition und Moderne in der Kunst

    Alexander Broy (*18. April 1969 in München) ist ein zeitgenössischer Künstler, der sich durch seine Arbeit in der Plein-Air-Malerei und sein crossmediales Schaffen einen Namen gemacht hat. Sein „En plein air ZINE“ verbindet künstlerische Praxis mit theoretischer Reflexion und steht exemplarisch für die Synthese traditioneller Techniken mit moderner Publikationskultur.

    Broy entdeckte seine Passion für die Malerei bereits während seiner Schulzeit und organisierte erste Ausstellungen am Ammersee. Nach dem Abitur sammelte er berufliche Erfahrungen abseits der Kunst, u. a. in der Landwirtschaft und als Kameramann für Film und Fernsehen (broy.de). Diese Phase prägte seine Wahrnehmung von Natur und Licht, was später zentral für seine Malerei wurde. Seit 2012 widmet er sich wieder intensiv der Freilichtmalerei und wird von der Galerie Frey in Fürstenfeldbruck vertreten.

    Das „En plein air ZINE“: Konzept und Inhalte
    Das Zine, mittlerweile in fünfter Ausgabe erschienen (24 Seiten, 4 Euro), fungiert als künstlerisches Medium, das Malerei, Literatur und Reiseberichte vereint. Die neueste Ausgabe (Nr. 5) enthält acht Illustrationen, vier Geschichten aus Frankreich sowie technische Einblicke in die Aquarellmalerei (instagram.com). Durch das handliche Format (17 x 12 cm) und den Preis von 3–4 Euro ist es bewusst niedrigschwellig gestaltet, um Kunst einem breiten Publikum zugänglich zu machen.

    Broy nutzt digitale Plattformen systematisch, um seine Arbeitsprozesse transparent zu gestalten:

    • YouTube: Tutorials, Dokumentationen von Malreisen und Einblicke in die Zine-Produktion (youtube.com).
    • Instagram: Regelmäßige Updates zu Projekten und Einblicke in sein Atelier in Nürnberg, wo er mit seiner Familie lebt (instagram.com).
      Diese Strategie unterstreicht sein Credo, Kunst als dialogischen Prozess zu verstehen, der über physische Werke hinausgeht.

    Broys Werk ist aus zwei Perspektiven relevant:

    • Technisch: Seine Plein-Air-Malerei reflektiert den Einfluss natürlicher Lichtverhältnisse, eine Methode, die auf die Impressionisten des 19. Jahrhunderts zurückgeht.
    • Medial: Das Zine und die digitale Vernetzung demonstrieren, wie traditionelle Kunstformen durch moderne Verbreitungswege neue Relevanz erlangen.
      Sein Ansatz, Kunstpraxis mit theoretischer Reflexion (etwa in Zine-Essays) zu verbinden, bietet zudem didaktisches Potenzial für Kunstpädagogik und Laien.

    Alexander Broy steht für eine Kunst, die Grenzen zwischen analog und digital, Tradition und Innovation überwindet. Sein „En plein air ZINE“ ist nicht nur ein künstlerisches Produkt, sondern auch ein Medium des Wissenstransfers. Dies wirft Fragen auf:

    • Inwiefern können analoge Publikationen wie Zines die digitale Kunstvermittlung ergänzen?
    • Wie verändert die Dokumentation von Schaffensprozessen (z. B. via YouTube) die Rezeption von Kunst?
  • Das Zine (ziin) | Fanzine

    Das Zine (ziin) | Fanzine

    Was ist ein Zine?

    Ein Zine (ausgesprochen „ziin“, abgeleitet von „Magazine“) ist ein selbstgemachtes, oft in kleiner Auflage veröffentlichtes Heft oder Magazin. Zines sind ein Medium der Selbstexpression, das vor allem in subkulturellen, politischen und kreativen Kontexten genutzt wird. Sie zeichnen sich durch ihre DIY-Ästhetik (Do-It-Yourself) aus und ermöglichen es den Macher*innen, Ideen, Kunstwerke, Meinungen und persönliche Geschichten mit einem kleinen, oft gleichgesinnten Publikum zu teilen.


    Die Geschichte der Zines

    Die Ursprünge der Zines lassen sich bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückverfolgen, wobei sie in verschiedenen Kontexten aufkamen:

    1. Science-Fiction-Fandom (1930er Jahre): Die ersten Zines entstanden in der Science-Fiction-Community. Fans von Science-Fiction-Literatur veröffentlichten selbstgemachte Magazine, um ihre Geschichten, Gedanken und Rezensionen zu teilen. Diese Fanzines, kurz „Fan-Magazine“, legten den Grundstein für die spätere Zine-Kultur.
    2. Punk-Bewegung (1970er Jahre): In den 1970er Jahren erlebten Zines einen großen Aufschwung innerhalb der Punk-Szene. Heftchen wie Sniffin‘ Glue in Großbritannien oder Maximum Rocknroll in den USA wurden von Musikliebhaber*innen produziert, um über Bands, Konzerte und gesellschaftskritische Themen zu schreiben. Diese Punk-Zines waren günstig herzustellen und wurden oft einfach per Hand kopiert und verteilt.
    3. Feministische Zines (1990er Jahre): Mit der Riot-Grrrl-Bewegung der 1990er Jahre wurden Zines zu einem wichtigen Werkzeug für Feministinnen, um Themen wie Geschlechterrollen, Gewalt und Selbstbestimmung zu diskutieren. Bekannte Beispiele sind Bikini Kill Zine oder Riot Grrrl.

    Wofür werden Zines genutzt?

    Zines sind ein Medium, das von Menschen genutzt wird, die ihre Gedanken abseits des Mainstreams verbreiten wollen. Die Themen sind vielfältig und reichen von Kunst und Musik über persönliche Erlebnisse bis hin zu gesellschaftspolitischen Anliegen. Manche Zines erzählen in Form von Comics oder Collagen persönliche Geschichten, andere beinhalten Gedichte, Fotografien oder Anleitungen.

    Einige typische Kategorien von Zines:

    • Kunstzines: Zum Teilen von Illustrationen, Fotografie oder visueller Kunst.
    • Politische Zines: Um Meinungen zu gesellschaftlichen und politischen Themen auszudrücken.
    • Persönliche Zines (Perzines): Sehr intime Zines, die Tagebucheinträge oder autobiografische Elemente enthalten.

    Literarische Zines: Geschichten, Gedichte und Essays.

    Bisher entdeckt

    https://www.vidinski.com – Brennessel aus Bremen

    En plein air ZINE von Alexander Broy https://broy.de/

    Das Zündblättchen von Rose Gold aus Meißen (edition dreizeichen)

    Zaubernuss – folgt…

  • Eberhard Binder-Staßfurt

    Eberhard Binder, auch unter dem Namen Eberhard Binder-Staßfurt bekannt, wurde am 2. Mai 1924 in Staßfurt geboren und prägte als Grafiker und Illustrator über fünf Jahrzehnte die Kunstlandschaft der DDR und darüber hinaus. Nach ersten künstlerischen Schritten an der Meisterschule des Deutschen Handwerks (Werkkunstschule) in Hildesheim (1941–1942) absolvierte er von 1949 bis 1952 ein Studium an der Fachschule für angewandte Kunst in Magdeburg, das seine Verbundenheit mit der Stadt begründete, die fortan sein Lebens- und Schaffensmittelpunkt wurde. Zunächst arbeitete er als Werbegrafiker, bevor er sich ab 1955 ganz der Buchillustration und -gestaltung widmete. In seiner über 40-jährigen Karriere schuf er ein monumentales Werk von 800 illustrierten und gestalteten Büchern, darunter viele in Zusammenarbeit mit seiner Frau Elfriede Binder, die ebenfalls als Grafikerin tätig war.

    Binder arbeitete vorrangig mit Linolschnitt und Holzschnitt, Techniken, die er durch ihre klaren Kontraste und handwerkliche Präzision schätzte. Sein Stil war „reduziert-expressiv“ – er vereinfachte Formen, ohne die narrative Tiefe der Motive zu opfern. Statt realistischer Darstellung setzte er auf symbolhafte Verdichtung, etwa durch markante Schwarz-Weiß-Kontraste oder rhythmische Linienführungen. Ein prägnantes Zitat Binders unterstreicht seine Philosophie:
    „Der Linolschnitt verzeiht keine Nachlässigkeit. Jeder Schnitt ist eine endgültige Entscheidung.“
    Diese Haltung spiegelt sich in seinen präzisen Kompositionen wider, die trotz ihrer Schlichtheit emotionale Kraft entfalten.

    Buchillustrationen

    Binders Schaffen umfasste ein breites Spektrum – von Kinderbüchern über klassische Literatur bis zu zeitgenössischen Texten. Sein Debüt als Buchillustrator gab er 1954 mit Federzeichnungen für Mark Twains „Tom Sawyers Abenteuer“ (Verlag Neues Leben), die bereits sein Gespür für dynamische Szenen und humorvolle Charakterzeichnung zeigten. Wie er später betonte, lag ihm bei Kinder- und Jugendbüchern besonders die „Vielfalt der Handlungsmomente und die Bildhaftigkeit der Vorlage“ am Herzen. Er strebte stets die „emotionale Übereinstimmung von Text und Bild“ an, wobei er sowohl realistische als auch fantastische Stoffe meisterhaft umsetzte.

    Konkrete Highlights seines Œuvres:

    • „Till Eulenspiegel“ (Altberliner Verlag, 1955): Binder begleitete die Schelmengeschichten mit dynamischen Linolschnitten, die Eulenspiegels anarchischen Humor durch verspielte Details und kantige Figuren einfingen.
    • „Deutsche Volksmärchen“ der Brüder Grimm (1960er-Jahre): Seine Holzschnitte zu „Hänsel und Gretel“ oder „Der Wolf und die sieben Geißlein“ betonten das Düstere der Märchen, etwa durch schroffe Schattenwürfe oder archaisch wirkende Landschaften.
    • „Reineke Fuchs“ von Johann Wolfgang von Goethe (1974): In dieser Serie nutzte er tierische Karikaturen, um die Satire auf menschliche Laster zu unterstreichen – ein Beispiel für sein Talent, literarische Ironie ins Bild zu übersetzen.
    • „Münchhausen“-Illustrationen (1970er-Jahre): Hier kombinierte er surreal übersteigerte Figuren mit fein geschrafften Hintergründen, um die Lügengeschichten visuell zu pointieren.

    Charakteristisch für Binders Illustrationsstil waren „bewegte, vielfigurige Szenen in meist heiterer Grundstimmung“, wie Kunstkritiker hervorhoben. Seine Bildkompositionen wirkten lebendig, ohne überladen zu sein, und fanden stets eine Balance zwischen Detailreichtum und klarer Lesbarkeit. Die Wahl der Technik – ob Federzeichnung, Aquarell oder Druckgrafik – traf er stets nach „Gehalt und Stimmung des Werkes“, wie er selbst erklärte.

    Öffentliche Kunst
    Neben Büchern gestaltete Binder großformatige Wandbilder und öffentliche Arbeiten in Magdeburg, darunter:

    • „Magdeburger Reiter“ (1970er-Jahre): Eine Linolschnitt-Serie, die das berühmte Reiterstandbild aus dem 13. Jahrhundert abstrahierte und damit historisches Erbe in moderne Formensprache übertrug.
    • Wandgestaltungen im Rathaus Magdeburg und in Kulturhäusern der Region, die oft Szenen aus der Arbeitswelt oder lokalen Sagen zeigten.

    Eberhard Binder-Staßfurt verstarb nach schwerer Krankheit am 9. März 1998 in Magdeburg. Sein Werk, darunter zahlreiche Kooperationen mit seiner Frau Elfriede, ist heute Teil von Sammlungen wie dem Kulturhistorischen Museum Magdeburg oder der Kunststiftung Sachsen-Anhalt. Eine Retrospektive 2014 in seiner Geburtsstadt Staßfurt würdigte sein Schaffen als Brücke zwischen handwerklicher Tradition und zeitgenössischer Expressivität. Bis heute gelten seine Illustrationen als Meilensteine der DDR-Grafikkunst, die Generationen von Lesern literarische Klassiker neu entdecken ließen.

    Seine Devise, „ein gutes Buchbild muss den Leser neugierig machen, ohne ihm alles vorwegzunehmen“, prägte nicht nur seine eigenen Arbeiten, sondern inspirierte auch nachfolgende Künstlergenerationen. Eberhard Binder-Staßfurt bleibt als virtuoser Erzähler in Bildern in Erinnerung – ein Meister der Reduktion, der mit Schere, Feder und Druckstock ganze Welten schuf.

    In meinem Bestand

    Götz R. Richter | Jonas oder Der Untergang der Marie-Henriette
    Der Kinderbuchverlag Berlin 1959

  • Klaus Ensikat

    Klaus Ensikat (geb. 28. Januar 1937 in Berlin; gest. 22. September 2021) zählt zu den bedeutendsten deutschen Illustratoren des 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Nach einem Studium an der Hochschule für Bildende Künste Berlin (heute Universität der Künste) begann er seine Karriere als freischaffender Künstler. Seine Arbeiten prägten die Buchkunst nachhaltig, besonders im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur. 1996 erhielt er die höchste Auszeichnung für Illustratoren, den Hans-Christian-Andersen-Preis, sowie mehrfach den Deutschen Jugendliteraturpreis. Bis zu seinem Tod blieb Ensikat ein Verfechter handwerklicher Präzision in einer zunehmend digitalisierten Welt.

    Künstlerischer Stil & Arbeitsweise
    Ensikats Stil ist geprägt von detailverliebter Lineatur und technischer Meisterschaft. Inspiriert von Albrecht Dürer und der Renaissance kombinierte er realistische Darstellungen mit fantastischen Elementen. Seine Zeichnungen bestechen durch:

    • Architektonische Präzision: Historische Gebäude und urbane Szenen werden minutiös wiedergegeben.
    • Dynamische Schraffuren: Schattierungen und Texturen entstehen durch komplexe Kreuzlagen.
    • Humorvolle Charaktere: Figuren wie Till Eulenspiegel oder Struwwelpeter erhalten durch übertriebene Mimik und Gestik narrative Tiefe.

    Seine Arbeiten balancieren zwischen dekorativer Ornamentik und erzählerischer Funktion, wobei jedes Detail eine Geschichte erzählt.

    Ensikat arbeitete ausschließlich analog, mit Feder, Tusche und Aquarellfarben. Sein Prozess:

    1. Skizzenphase: Ideen wurden in groben Entwürfen festgehalten, oft begleitet von Textanalysen.
    2. Feinzeichnung: Mit hauchdünnen Federn (z. B. Rotring-Spitzen) trug er Linien schichtweise auf, um Tiefe zu erzeugen.
    3. Kolorierung: Sparsam eingesetzte Aquarelltöne betonten Akzente, ohne die Lineatur zu überdecken.

    Er betonte stets die Symbiose von Text und Bild: „Eine Illustration muss den Text nicht nur begleiten, sondern ihn interpretieren – sie ist ein eigenständiger Kommentar.“ (Zitat aus einem Interview mit Die Zeit, 2005).

    Buchillustrationen (Beispiele)
    Ensikats Illustrationskunst revolutionierte die Wahrnehmung klassischer Texte:

    1. „Struwwelpeter“ (1997): Seine Version des Heinrich Hoffmann-Klassikers vereint Grusel und Komik. Struwwelpeters Haare wirken wie explodierende Linienbündel, während die „Geschichte vom Daumenlutscher“ durch düstere Schattierungen dramatisiert wird.
    2. „Till Eulenspiegel“ (1978): Die Schelmenstrecken werden durch mittelalterliche Stadtkulissen und karikierte Gesichter lebendig. Ein Detail: Till spiegelt sich stets in Fensterscheiben oder Pfützen – eine visuelle Metapher für seine Doppelbödigkeit.
    3. Märchen der Brüder Grimm (2007): Ensikat vermied Kitsch und betonte stattdessen die archaischen Wurzeln der Geschichten. In „Hänsel und Gretel“ wird die Hexe als groteske, fast architektonische Figur dargestellt, umgeben von einem Lebkuchenhaus mit gotischen Elementen.

    Zitate und Philosophie

    • Zur Rolle des Illustrators: „Bücher sind Gesamtkunstwerke. Der Illustrator ist wie ein Bühnenbildner, der den Raum schafft, in dem die Worte tanzen.“
    • Zur Technik: „Die Feder zwingt zur Demut. Jeder Strich ist ein Commitment – es gibt kein Zurück.“

    Seine Werke, in über 30 Sprachen übersetzt, bleiben Referenzpunkte für handwerkliche Perfektion und narrative Tiefe. Auch heute noch gilt sein Ansatz als Antithese zur schnellen Digitalkunst – eine Hommage an die Langsamkeit und den Respekt vor dem literarischen Werk.

    Klaus Ensikat war mehr als ein Illustrator; er war ein Geschichtenerzähler, der mit Feder und Tusche Welten schuf, die zum Entdecken einladen. Seine Arbeiten, stets im Dialog mit dem Text, erheben die Buchillustration zur Hochkunst – detailreich, humorvoll und zeitlos.

  • Liebesgeschichten fangen anders an

    LektüreNotizen zu Otto F. Walter – Wie wird Beton zu Gras | Fast eine Liebesgeschichte:

    Die Taschenbuchausgabe kostete DM 6,80. Auf der Rückseite befinden sich allerdings zwei neon-orange leuchtende Sonderpreis-Schilder: 2,50 und 1,-. Wer weiß, zu welchem Preis es letztendlich über den Ladentisch ging. Ich habe es im Bücherschrank in Neu Darchau gefnden. Es wirkt ungelesen.

    Auf Frontseite – gestaltet von Berndt Höppner – passt nichts zusammen. Beton, Gras, Liebesgeschichte und ein raumfüllendes Foto, dass einen Wasserfall, Bäume und eine ferne Hügellandschaft erahnen lässt. Ich wüsste dazu gern die Hintergrndgeschichte; die verborgene Ebene.

    Gewidmet ist das Buch Dominique. Der Autor war mit ihr von 1952 – 1964 verheiratet. Ich nehme an, das dies eine Liebesgeschichte war.

    Charles Linsmayer (Literaturkritiker und Walter-Biograf) erwähnt in seiner Monografie „Otto F. Walter – Leben und Werk“ (1990), dass Walter seine Romane als „Gegenentwürfe zur technokratischen Moderne“ verstand. (Unter Technokratie wird heute eine Form der Regierung oder Verwaltung verstanden, in der alle Entscheidungen auf sozial neutralem wissenschaftlichem und technischem Wissen aufbauen.)

  • Otto F. Walter

    Otto Friedrich Walter (1928–1994), geboren in Rickenbach (Kanton Solothurn), entstammte einer prägenden Schweizer Verlegerfamilie. Sein Bruder Silvio Walter war ebenfalls Schriftsteller, und gemeinsam prägten sie die deutschsprachige Literatur der Nachkriegszeit. Otto F. Walter übernahm nach einer Buchhändlerlehre den väterlichen Walter Verlag, den er bis 1983 leitete. Diese Verlagsarbeit beeinflusste sein literarisches Schaffen, das stets von einem kritischen Blick auf Machtstrukturen und gesellschaftliche Normen geprägt war. Walter verstand Literatur als Mittel zur Aufklärung:

    „Schreiben heißt für mich, die Widersprüche der Zeit aufzubrechen, um Räume für neues Denken zu schaffen“, betonte er einmal.  

    Seine Prosa verbindet experimentelle Erzähltechniken – wie inneren Monolog, multiperspektivische Erzählweisen und fragmentarische Strukturen – mit politischer Brisanz. Ähnlich wie Max Frisch oder Friedrich Dürrenmatt thematisierte er die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft, allerdings mit einem stärkeren Fokus auf ökologische und kapitalismuskritische Fragen. Sein Roman „Der Stumme“ (1959) etwa thematisiert Sprachlosigkeit als Ausdruck von Machtlosigkeit, ein Leitmotiv in Walters Werk.

    Otto F. Walter blieb bis zu seinem Tod 1994 ein unbequemer Denker, der Literatur als politisches Instrument verstand. Sein Werk fordert dazu auf, gesellschaftliche Normen zu hinterfragen – ein Appell, der bis heute nachhallt. Wie er selbst einmal sagte:

    „Die Wahrheit liegt nicht in den Antworten, sondern im Stellen der richtigen Fragen.“

    Neben seinem bekanntesten Roman ist auch Walters späteres Werk „Die Verwilderung“ (1982) interessant, die sich mit gesellschaftlicher Entfremdung auseinandersetzen. Sein literarisches Archiv befindet sich heute im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern – ein Zeugnis seines Engagements für eine kritische, humane Literatur.

    In meinem Buchbestand:

    Wie wird Beton zu Gras | Fast eine Liebesgeschichte

  • Wie wird Beton zu Gras | Otto F. Walter

    „Wie wird Beton zu Gras“ (1979) – Ein Roman zwischen Ökologie und Fortschrittswahn  

    Otto F. Walters Roman / Erzählung gilt als ein Schlüsselwerk der ökologischen Literaturbewegung der 1970er-Jahre. Im Zentrum steht der Stadtplaner Viktor B., der im Konflikt zwischen profitgetriebener Urbanisierung und ökologischer Verantwortung steht. Walter zeichnet ihn als zerrissenen Antihelden, der an der Zerstörung natürlicher Räume mitwirkt, doch zunehmend an seiner Rolle zweifelt: „Jeder Quadratmeter Beton, den ich plane, ist ein Stück ersticktes Leben“*, reflektiert B. in einer Schlüsselszene.  

    Der Roman thematisiert nicht nur Umweltzerstörung, sondern auch die Entfremdung des modernen Menschen. Walter verknüpft dies mit einer Kritik an neoliberaler Profitgier: „Sie nennen es Entwicklung, doch es ist ein Krebsgeschwür, das alles Gründe verschlingt“, heißt es über die expandierende Stadtlandschaft. Die titelgebende Frage „Wie wird Beton zu Gras?“ wird zur metaphorischen Suche nach Versöhnung von Technik und Natur – eine Frage, die heute aktueller denn je ist.  

    Bei Erscheinen löste der Roman kontroverse Debatten aus. Während Kritiker*innen den düsteren Realismus und die komplexe Erzählstruktur lobten, warfen manche Walters Werk „Pessimismus“ vor. Dennoch etablierte sich „Wie wird Beton zu Gras“ als wichtiges Werk der Umweltliteratur und wurde in den Kontext der aufkeimenden Ökobewegung gestellt. 

    LektüreNotizen

    In meinem Bestand

    Otto F. Walter
    Wie wird Beton zu Gras | Fast eine Liebesgeschichte
    rororo Taschenbuch-Ausgabe
    Mai 1988

  • Joe Brainard

    Joe Brainard (1942–1994), Maler, Collagekünstler und Schriftsteller, zählt zu den vielseitigen Persönlichkeiten der amerikanischen Kunst- und Literaturszene des 20. Jahrhunderts. Eng verbunden mit der New York School, einer Gruppe avantgardistischer Künstler:innen und Dichter:innen , bewegte er sich im kreativen Umfeld von Ikonen wie Frank O’Hara und Ron Padgett. Brainards Werk, geprägt von einer spielerischen Leichtigkeit und einem Hang zum Absurden, durchbrach konventionelle Grenzen zwischen bildender Kunst und Literatur.

    Sein bekanntestes Werk, Ich erinnere mich, wurde zum Kultbuch einer Generation. In kurzen, scheinbar schlichten Sätzen, die stets mit „Ich erinnere mich …“ beginnen, verwebt Brainard intime Kindheitserinnerungen mit kollektiven Momenten der US-amerikanischen Nachkriegszeit. Dabei entsteht ein kaleidoskopartiges Bild, das Alltägliches und Skurriles vereint – ob Popkultur, private Anekdoten oder gesellschaftliche Prägungen. Unprätentiös und mit Humor fängt Brainard so den Zeitgeist einer Ära ein, ohne je ins Sentimentale abzugleiten.

    Brainards künstlerischer Ansatz, der Experimentierfreude mit subtiler Melancholie verbindet, macht ihn zu einem einzigartigen Chronisten des 20. Jahrhunderts. Bis heute inspiriert sein Werk nicht nur Literatur- und Kunstschaffende, sondern auch alle, die im scheinbar Banalen das Universelle entdecken möchten.

  • Feuer satt

    LektüreNotizen zu ULANBAGEN – Feuer in der Steppe:

    Aktuell: wird gelesen

    Es hat Mühen gekostet, biografische Informationen zu ULANBAGEN zu finden. Die exakten Lebensdaten weiterhin unklar. (Wer kann helfen?) Dafür habe ich eine Selbstbeschreibung in einer Zeitschrift aus dem Jahre 1965 gefunden. Hierin beschreibt er seine Motivation für einen seiner Romane. Diese ist allerdings auch eine Lobhudelei auf die chinesische Kulturrevolution und ihre Führer. Ich habe den Text versucht ins Deutsche zu übersetzen.


    Mein Exemplar ist leider unvollständig. Allerdings: Der Vorteil, da die letzte Seite in diesem Buch fehlt: ich kann das Ende selbst schreiben.


    Buch in Plastik-Schutzumschlag. Bibiotheksexemplar: Krankenhaus Altstadt – Bezirkskrankenhaus Magdeburg. Ohne Ausleihstempel. Fundstück im öffentlichen Bücherschrank Werder/Havel

  • Karl Fischer – Geschichten auch ohne Worte

    Karl Fischer, geboren am 21. Oktober 1921 in Bismarckhütte (heute Chorzów-Batory), war einer der produktivsten und bekanntesten Illustratoren der DDR. Sein künstlerisches Werk, das sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt, umfasst etwa 400 Bücher und zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften. Dabei setzte Fischer verschiedene grafische Techniken ein, wie Feder-, Tusche-, Schab- und Aquarellzeichnungen, und schuf damit Werke, die bis heute in Erinnerung geblieben sind.

    Nach seiner Ausbildung zum Gestalter und Dekorateur in den Jahren 1937 bis 1940 im Berliner Kaufhaus Union und seiner Zeit als Soldat kehrte Fischer 1948 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück. In Berlin begann er zunächst als Bildredakteur zu arbeiten, bevor er sich 1954 als freischaffender Grafiker etablierte. Seine Arbeiten fanden schnell Anklang bei großen Verlagen wie dem Kinderbuchverlag Berlin, dem Verlag Neues Leben und dem Domowina-Verlag.

    Besondere Bekanntheit erlangte Fischer durch seine Illustrationen von Kinder- und Jugendbüchern. 1957 verlieh er den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm ein unverwechselbares Gesicht. Auch das satirisch-kritische Jugendbuch „Egon und das achte Weltwunder“ von Joachim Wohlgemuth (1961) wurde durch Fischers Zeichnungen zu einem Klassiker. Fischer selbst sagte einmal über seine Arbeit: „Ich wollte die Fantasie der Kinder nicht nur anregen, sondern sie durch meine Zeichnungen lebendig machen. Es ging mir darum, Bilder zu schaffen, die Geschichten erzählen – selbst ohne Worte.“

    In der Science-Fiction-Reihe „Spannend erzählt“ gestaltete er über vierzig Titel und prägte damit das Erscheinungsbild ganzer Generationen von Lesern. Zu den bekanntesten Büchern dieser Reihe gehören „Das Rätsel Sigma“ von Karl-Heinz Tuschel und „Antarktis 2020“ von Alexander Kröger. Seine markanten Umschläge und Illustrationen schufen eine fesselnde Atmosphäre, die weit über den Text hinausging.

    Nicht nur Bücher, sondern auch Kinderzeitschriften wie „Frösi“, „Atze“, „Trommel“, „ABC-Zeitung“ und „Bummi“ profitierten von seiner künstlerischen Handschrift. Fischer hatte eine besondere Gabe, die kindliche Naivität und die Magie des Augenblicks einzufangen. Er sagte dazu: „Kinder sehen die Welt mit einer Klarheit, die uns Erwachsenen oft verloren geht. Diese Perspektive einzunehmen, war für mich die größte Herausforderung – und gleichzeitig das größte Geschenk.“

    Seine Kollegen und Wegbegleiter lobten ihn nicht nur für sein handwerkliches Können, sondern auch für seine Bescheidenheit und seinen Sinn für Humor. Einer seiner langjährigen Verleger sagte über ihn: „Karl Fischer war ein Meister der leisen Töne. Seine Bilder sprachen für sich – voller Wärme, Witz und einer tiefen Menschlichkeit.“

    Karl Fischer blieb bis ins hohe Alter künstlerisch aktiv und hinterließ ein Werk, das sowohl von seiner technischen Brillanz als auch von seiner Liebe zur Illustration zeugt. Er starb am 22. September 2018 in Berlin im Alter von 96 Jahren. Seine Illustrationen, die Fantasie und Kindheit prägten, wirken bis heute nach – ein bleibendes Vermächtnis eines großen Künstlers.

    In meinem Bestand

    ULANBAGAN | Feuer in der Steppe
    Übersetzt aus dem Chinesischen von Alfons Mainka
    VERLAG NEUES LEBEN
    LektüreNotizen

  • Ulanbagan | Eine erfundene? Selbstdarstellung

    Ulanbagan | Eine erfundene? Selbstdarstellung

    Bei der Suche nach biografischen Angaben zu Ulanbagan habe ich zunächst sehr wenig gefunden. Nicht einmal das Geburtsdatum ließ sich ermitteln – vor allem wohl, da ich der chinesischen Sprache nicht mächtig bin und daher keine Originalquellen durchsuchen mochte.
    In einer Ausgabe der englischsprachigen Zeitschrift „Chinese Literature“ aus dem Jahr 1965 dird er wie folgt beschrieben: The 36-year-old author, Ulanbagan, is a Mongolian from the Kolchin-Grassland, in Inner Mongolia.
    Hier habe ich auch nachfolgenden Text gefunden. Der Autor erzählt die Geschichte, wie seine Erzählung “Aufstand der Sünder” entstanden ist. Viele Details lassen sich nicht ohne weiteres überprüfen oder nachvollziehen. Z.B.: Die Kolchin-Steppe: Es ist mir nicht gelungen, diese auf Karten der Mongolei zu finden. Auch eine Karte aus dem Jahre 1902 half nicht weiter. Wikipedia ebensowenig. Nun weiß ich nicht, ob dies eher eine erfundene Selbstdarstellung ist. Unterhaltsam ist sie allemal.

    Ulanbagan – Wie ich dazu kam, „Aufstand der ‚Sünder‘“ zu schreiben

    „Ich wurde in einem kleinen Dorf am südlichsten Rand des Kolchin-Graslandes in der Inneren Mongolei geboren. Unser Dorf bestand aus weniger als zehn Familien, sowohl Han-Chinesen als auch Mongolen. Sie lebten von der Landwirtschaft und der Weidewirtschaft. Die meisten von ihnen waren Leibeigene des örtlichen Feudalherrn. Ständig hungrig und überarbeitet, wurden diese Familien seit Jahrhunderten grausam ausgebeutet und unterdrückt.

    Als ich geboren wurde, hatte meine Mutter, die an Tuberkulose erkrankt war, keine Milch. Unsere Nachbarn waren eine Familie namens Li, arme Bauern aus Hopei, die sich während einer Hungersnot auf dem Grasland niedergelassen hatten. Als ich vor Hunger wimmerte, stillte mich Tante Li an ihrer Brust. Obwohl ich also nicht ihr Kind war, stillte sie mich, bis ich alt genug war, um zu sprechen. Meine Mutter sagte mir später oft mit Tränen in den Augen: „Du musst dich immer an die Güte von Tante Li erinnern, Kind, du hast einen Teil ihres Blutes in dir.“

    Als ich neun Jahre alt war, zwangen Armut und Überschwemmungen unsere Familie, unsere freundlichen Nachbarn zu verlassen und sich in Bayantal am Nordufer des Sharmuren-Flusses im zentralen Teil des Kolchin-Graslands niederzulassen. Diese Region stand unter der Herrschaft von Lord Darhan, dem Oberhaupt der sieben Lords, die Kolchin beherrschten. Jeder, der sich dort niederließ, musste ihm eine Kopfsteuer zahlen; wer aus anderen Teilen des Landes kam, musste das Doppelte bezahlen. 

    Ich dachte oft an Tante Li. Wir hörten, dass Onkel Linach Ausbruch des Widerstandskrieges gegen Japan von den Japanern zur Zwangsarbeit eingezogen wurde. Nach nur zwei Monaten starb er an einer Knollenblätterpilzerkrankung. Tante Li ging mit ihrer kleinen Tochter südlich der Großen Mauer auf die Suche nach ihrem Sohn und bettelte unterwegs um Essen. Sie erkrankte schwer und hatte keine andere Wahl, als ihre Tochter als Haussklavin an Lord Darhan zu verkaufen. Dies hinterließ einen unauslöschlichen Eindruck in meinem jungen Gemüt. Ich hasste das feudale System der Herrschaft der Fürsten. Was mit Tante Li und ihrer Familie geschah, lehrte mich, wen ich hassen und wen ich lieben sollte. 

    Eines Jahres veranstaltete der Herr in unserem Dorf ein Fest zu Ehren seiner Vorfahren. Fast 30.000 Leibeigene wurden versammelt und gezwungen, Geld und Vieh abzugeben. Bei den Feierlichkeiten sah ich eine Gruppe von 75 weiblichen Haussklaven mongolischer und Han-Nationalität , die den Adligen und ihren Frauen, die sie nach Belieben beleidigten und misshandelten, Tabletts mit Früchten und Kuchen servierten.

    Mit blauen Flecken im Gesicht und Tränen in den Augen gingen die Sklavinnen durch die Menge und wagten es nicht, jemanden direkt anzuschauen. Zwei Tage später hieß es, dass mehrere dieser Sklavinnen, die von ihren Herren zur Verzweiflung getrieben worden waren,sich in einem Brunnen ertränkt hatten. Seitdem hörte ich jedes Mal, wenn ich in der Nähe des Herrenhauses vorbeikam, klagende Schluchzer. Ich musste an die kleine Tochter von Tante Li denken und vergoss leise Tränen.

    Tragödien wie die von Tante Li waren auf dem Kolchin-Grasland keine Seltenheit. 

    Die Hunderttausende von Han, die sich dort niederließen, wurden wie die einheimischen Mongolen zu Leibeigenen und lebten unter der finsteren Herrschaft der japanischen Invasoren und der Feudalherren. In ihrer Not gingen die Mongolen und die Han eine Beziehung in Fleisch und Blut ein. Wie Brüder vereint, führten sie einen heldenhaften Kampf gegen ihre Unterdrücker.
    Vierzehn lange Jahre herrschten die japanischen Imperialisten über das Kolchin-Grasland. Sie töteten und brannten überall und plünderten die Han- und Mongolenvölker aus. Lord Darhan war der despotischste Gefolgsmann der Invasoren. Zu dieser Zeit hatten neun von zehn Menschen nicht genügend Kleidung. Hunger war weit verbreitet. Wenn ein Mensch starb, wurde sein Leichnam zur Beerdigung in ein Stück zerlumptes Schafsfell eingewickelt. Wenn die japanischen Invasoren oder die örtlichen Fürsten davon erfuhren, ließen sie die Familie des Verstorbenen ins Gefängnis werfen, weil sie die Schafsfellsteuer nicht bezahlt hatten. 

    Meine Jugend verbrachte ich in den Jahren des Widerstandskrieges gegen Japan. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie die Sklaven unter den Gewehren und Bajonetten der japanischen Soldaten und der schwarzen Peitsche des lokalen Herrschers lebten. Sie konnten von den japanischen Invasoren und den lokalen Herren frei gehandelt und geschlachtet werden, wobei es ihnen schlechter erging als den Hunden oder Rindern der Herren. Ein einziger Hund oder eine einzige Kuh war für die Herren mehrere Sklaven wert.

    In ihrem Elend wandten sich die Mongolen der Religion zu. Einige machten sich auf den Weg  zum Berg Wutai, um dort ihr Glück zu suchen, wobei sie bei jedem Schritt einen Kotau machten und einen Ziegelstein umdrehten, den sie bei sich trugen. Die meisten von ihnen verhungerten auf dem Weg. Andere begingen vor dem buddhistischen Schrein Selbstmord, in der Hoffnung, dass ihnen dies in einer zukünftigen Existenz ein besseres Los bescheren würde.

    Die Hauptfiguren des Romans, Batjargal, Oyunchichig und ihre Eltern, sind realen Personen nachempfunden, die ich damals kannte. Generation um Generation lebte als Leibeigene. Einige von ihnen hatten sich mit ihrem Schicksalabgefunden, andere fürchteten sich zu kämpfen, wieder andere waren wütend, wagten aber nicht,ihren Zorn zu äußern. Wer vom Landesherrn als „Sünder“ bezeichnet wurde, konnte seine „Sünden“ nie sühnen. Die grausame Unterdrückung hielt das Volk zurück, es war unwissend, abergläubisch und arm. Als sie jedoch politisch erwachten, wurden sie mutig und kämpften unter der Führung der großen Kommunistischen Partei Chinas und des Vorsitzenden Mao Tse-tung heldenhaft.

    Während des Widerstandskrieges gegen Japan sandte die Kommunistische Partei Chinas einige ihrer besten Mitglieder aus, um die Mongohan- und Han-Völker auf dem Kolchin-Grasland aufzurufen, ihre Fesseln zu sprengen. 

    Es wurde eine Untergrundorganisation der Partei gegründet, die sie in eine Revolution gegen die japanischen Invasoren und die lokalen Herren führte. Seit meiner Kindheit habe ich viele Geschichten über die Parteimitglieder gehört, die in das Grasland geschickt wurden. Sie waren allesamt gute Kommunisten, mutig, wachsam und edel. Einige wurden von japanischen Geheimagenten gefangen genommen, aber sie haben sich trotz grausamer Folter nie ergeben. Sie starben einen heldenhaften Tod und werden für immer in den Herzen der Mongohan und Han leben. Die Figur Li Ta-nien basiert auf mehreren realen Männern, die ich kannte. Bestimmte Episoden beruhen auch auf tatsächlichen Ereignissen, die ich gesehen oder von denen ich gehört habe, wie z. B. der Brand des Herrenhauses, der Ausbruch aus dem Gefängnis und der Kampf gegen die Flut. 

    Ich bin auf folgende Weise zum Schreiben des Romans gekommen: Nach dem Ende des Widerstandskrieges gegen Japan im Jahr 1945 trat ich im Alter von siebzehn Jahren in die Armee der Achten Route ein. Die Volksherrschaft wurde im gesamten Kolchin-Grasland errichtet.  Doch im nächsten Frühjahr starteten die reaktionären Kuomintang-Armeen, unterstützt von den US-Imperialisten und im Bunde mit den lokalen Machthabern, einen grausamen Angriff, bei dem die Mongolen und Han massakriert wurden. In der Armee, von der Partei unterrichtet und von erfahrenen Han-Kadern unterstützt, schärfte ich mein politisches Bewusstsein. Der Klassenhass brannte in meinem Herzen. Nacht für Nacht konnte ich nicht schlafen, wenn ich an die grausamen japanischen Invasoren, die mongolischen Fürsten und die reaktionären 77er der Kuomintang dachte. Um meinem starken Hass auf die Feinde ein Ventil zu geben, erzählte ich meinen Mitkämpfern Geschichten über die vielen Heldentaten der Mongolen und Han auf dem Kolchin-Grasland in ihren von der Partei geführten revolutionären Kämpfen.

    1947 beschloss ich zum ersten Mal, diese Geschichten aufzuschreiben, um die bewegenden Ereignisse, von denen ich gehört und die ich gesehen hatte, durch das Medium der Literatur mehr Menschen bekannt zu machen. Aber damals konnte ich nicht einmal einen anständigen Brief schreiben. Wie sollte ich da ein Buch schreiben? Doch ich hatte das Gefühl, dass ich es tun musste. Also schrieb ich sowohl auf Mongolisch als auch auf Chinesisch 20.000 Wörter. Leider waren sie für niemanden außer für mich selbstverständlich. Ein Jahr später konnte nicht einmal ich sie verstehen. 

    In meiner Freizeit las ich viele Romane über revolutionäre Kämpfe. Die ständige Weiterbildung, die mir die Partei angedeihen ließ, verbesserte mich sowohl politisch als auch kulturell. Mein Wunsch zu schreiben wurde gestärkt. 1949 brachte der Sieg der Revolution im ganzen Land und die Gründung der Volksrepublik China dem Volk der Inneren Mongolei die vollständige Emanzipation. Dank der Kommunistischen Partei Chinas und des Vorsitzenden Mao begann für das mongolische Volk ein neues Leben. Um so eifriger begann ich im Oktober 1949 mit dem Schreiben dieses Romans. 

    Es war ein mühsamer, aber glücklicher Prozess. Ich habe in meiner Freizeit geschrieben und dabei mehrere Wörterbücher verschlissen. Ich schätzte jeden Moment, den ich finden konnte, um an meinem Roman zu arbeiten. Viele schwierige Probleme tauchten auf, aber ich hielt durch, weil ich den Lesern unbedingt erzählen wollte, wie das mongolische Volk unter der Führung unserer geliebten Partei und des Vorsitzenden Mao Tse-tung seinen revolutionären Kampf gewonnen hat. Das war mein Motiv für das Schreiben des Buches. Bis 1956, sieben Jahre später, hatte ich mehrere Pfund Manuskripte produziert, aus denen ich einen ersten Entwurf von mehr als 1 200 000 Wörtern (in vier Teilen) ausarbeitete.

    Dieser Entwurf wies jedoch viele Mängel auf. Die Figuren waren nicht lebendig genug, die Handlung war sehr verworren. Ich schickte das Manuskript an das China Youth Publishing House, wo die Redakteure es geduldig und sorgfältig lasen und mir viele offene Kommentare und hilfreiche Vorschläge gaben. Nachdem ich es mehrfach überarbeitet hatte, erschien der erste Teil von Aufstand der „Sünder“ schließlich in seiner jetzigen Form.“

    Quelle: Chinese Literature Magazin 1965/2

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